Nimm’s leicht. Werde wie eine Feder!

Die Situation

Alles ist sehr gut! Das soll Gott zu Beginn der Weltgeschichte über seine Schöpfung gesagt haben.

Viele Menschen sind da anderer Ansicht: Die Krankheiten! Die Unfälle! Die Orkane! Die Erdbeben! Die Kriege! Nein, nur wenig ist gut für sie. Und tatsächlich bleibt ja auch kein Mensch von Schmerz und Leid verschont.

Daraus erwächst eine große Sehnsucht: Die Sehnsucht nach Leichtigkeit und Leidfreiheit.

Dieses Verlangen lässt sich durchaus erfüllen – zumindest ein wenig: Und zwar durch Spiele. Sie blenden weithin die Schwere, den Ernst und die Vielschichtigkeit des Lebens aus. Immer wirklichkeitsnähere Spiele werden deshalb erdacht und erschaffen.

Gott sieht das. Und er hat beschlossen: Er selbst schickt ein paar menschliche Figuren in ein Spiel. Allerdings in ein ernsthaftes Spiel.

Vielleicht, meint Gott, verschafft er damit einigen Menschen Erleichterung. Dann, wenn sie lesend hilfreiche Erfahrungen und Einsichten gewinnen. Und wenn sie dabei etwas von seiner göttlichen Liebe erspüren.

Eine der Figuren berichtet selbst, was sie bei dem ernsthaften Spiel erlebt.

Einstieg ins Leben

01. Eine lichte Gestalt

Im Schneidersitz komme ich zu Bewusstsein. Mir gegenüber eine lichte Gestalt in derselben Haltung. Aber ihre Konturen und besonders ihr Gesicht sind verschwommen. Immerhin begrüßt mich diese Gestalt herzlich und heiter mit „Willkommen im Leben!“ Sie hat eine schöne und warme Stimme.

Aha – das hier nennt sich also Leben? Ich schaue mich um: Ich sitze auf einer silbern schimmernden Fläche. Wissensfetzen machen sich diffus in mir bemerkbar, und ich frage: „Ist das hier ein Dach?“ Die Gestalt bestätigt es mir und fügt hinzu: Es ist das Dach einer Bibliothek. Genau unter uns ist viel Wissen in höchst verdichteter Form versammelt. Aber das hätte im Moment überhaupt nichts zu sagen.

Das finde ich auch. Ich recke und strecke ich mich erst einmal. Und stehe auf. Ein nervöses Bimmeln weht über die Dachkante herauf. Ich will nachsehen. Von der Dachkante aus zeigt sich unten: Eine Bahn schiebt sich durch das Gewimmel auf einem Platz. Wie eine eigensinnige Raupe. Oho, wie komme ich auf solche Worte und Begriffe? Da muss ganz schön viel Wissen auch in mir selbst versammelt sein!

Jetzt reizt mich erst einmal das Leben da unten. Ich möchte hinein. Mitten hinein. Ich gehe die Dachkante ab, hin und her, und suche intensiv nach einem Abstieg. Doch solch eine Möglichkeit ist einfach nicht zu finden. Erst werde ich ärgerlich, dann sogar wütend. Und ich merke ganz angetan: Oh, solche Gefühle sind schön mächtig und kraftvoll! Ich balle noch zusätzlich meine Hände zu Fäusten und fuchtele furios mit meinen Armen!

Da tut sich Unerwartetes: Ich sehe unten, wie sich Grüppchen zusammenklumpen. Und Hände gehen hoch und weisen mit spitzen Zeigefingern zu mir herauf. Ich werde gesehen, werde von Menschen wahrgenommen! Fragend drehe ich mich um zu der lichten Gestalt: Was tun? Die Gestalt ist aufgestanden und guckt mir lächelnd zu, gibt aber keine Antwort.

Da erfasst mich ein übermächtiger Impuls: Ich werfe meine Arme zur Seite und springe einfach über Bord. Ein quiekender Aufschrei unten! Für einen Moment ist mein Bewusstsein weg. Und dann finde ich mich unten wieder, selbst mitten unter den vielen Menschen stehend. Allerdings: Eben noch blickten ihre Köpfe starr nach oben. Nun kippen sie nach vorn. Sie drehen sich suchend hin und her und wenden sich schließlich irritiert anderen Köpfen zu. Das aber heißt doch: Sie sehen mich nicht mehr – ich muss blitzschnell unter ihnen gelandet sein. Sie haben das gar nicht mitbekommen.

Nun löst sich sehr bald die Erstarrung der Leute. Und das Leben um mich herum nimmt mit sanftem Fußgetrappel erneut Fahrt auf. Mein Absprung ist schon von den Menschen vergessen.

Das Leben um mich herum: Tüten und Taschen werden eifrig in die eine oder andere Richtung getragen. Und sind die Hände noch frei, scheint man unterwegs zu sein, um sie irgendwie zu füllen. Geht so Leben? Hauptsache, man hat etwas zu bewegen, und sei es nur die eigene Gestalt? Das ist wohl eine Art Ameisenleben.

Am Rande des Platzes ist ein Wasser. Kleine Gestalten platschen darin herum. Und was größer ist, sitzt am Rand und sieht beim Platschen zu. Leben geht offenbar auch so: Die einen bewegen den ganzen Körper, die anderen nur die Augen.

Mein Blick erhascht eine leere Bank. Ich nehme sie genüsslich in Besitz und lasse meine Augen schweifen. Die Bibliothek fällt mir ins Auge, die mich ins Leben entlassen hat. Sie ist ein Ehrfurcht gebietendes schwarz-gläsernes Gebilde mit riesigen schrägen Wänden. Offensichtlich brandneu. Was für eine Startrampe für den Absprung ins Leben!

Dann wende ich mich wieder den Menschen in meiner Nähe zu. Es ist offenkundig: Es gibt drei Sorten. Erst einmal sind da die Kleinen, die Kinder. Und dann sind da die Großen. Sie sind unübersehbar und in der Überzahl. Und die lassen sich wiederum in die Sorte Frauen und die Sorte Männer aufteilen. Intuitiv meine ich dabei, selbst zu den Männern zu gehören. Ich schaue an mir hinunter, und diese Sichtprüfung bestätigt mir das, finde ich.

Die Frauen ziehen meine Augen besonders auf sich. Sie sind für meinen noch unbedarften Blick eine besondere Sehenswürdigkeit. Denn das, was ich selbst nicht habe, ist hier und da ein richtiger Hingucker für mich: Etwa ihre teils quietschbunte Kleidung oder ihr gerundeter Körperbau.

Die lichte Gestalt sitzt plötzlich neben mir und fragt: „Na, schon mit männlichem Blick unterwegs?“ Oh, was heißt hier männlicher Blick? Verhalte ich mich nur typisch, oder gibt es einen Anlass, verlegen zu sein? Doch ich werde ermuntert: „Freu dich an dem, was du siehst!“

Die Gestalt ist anscheinend unsichtbar und unhörbar für andere. Sie spricht sehr deutlich und lacht ganz unbefangen. Doch Vorübergehende sehen über sie hinweg oder an ihr vorbei. Sie kann ungestört mit ihrer Lektion fortfahren.

Und nun wechselt sie das Thema. Ihr Tonfall wird ernst und zugleich bedeutungsvoll: Ich sei eine wichtige Figur! Und zwar in einem Buch. Ich kann für Menschen Besonderes leisten, wenn ich will. Und meine Existenz wird nie belanglos sein.

Das ist nun heftig! Ich werde in eine Dimension gestoßen, die mein Fassungsvermögen übersteigt. Davon will ich noch nichts wissen! Noch nicht, bitte! Noch nicht!

Die Gestalt erhört mich sofort. Sie kehrt in die für mich eher fassbare Gegenwart zurück. Und sie bittet mich in freundschaftlichem Ton: „Unterlass bitte in Zukunft leichtsinnige und brisante Absprünge von Bibliotheken und sonstigen Gebäuden! Du kannst damit zu einem gefährlichen Vorbild werden.“

Damit entschwindet die Gestalt. Sie ist plötzlich einfach weg. Ihre Worte sollen wohl erst einmal in mir wirken. Und ich habe nun Zeit, wahlweise nachzudenken oder mich aufmerksam den Menschen um mich herum zu widmen.

02. Ein leerer Himmel

Ich weiß nicht, wie lange ich so dasitze. Jedenfalls sehe ich irgendwann meine lichte Gestalt wieder: Sie bedeutet mir aus der Ferne, ich solle kommen. Sie wolle mir etwas zeigen. Sie steht gerade vor einem hohen Gebäude, das sich hinter Bäumen versteckt. Ich mache mich auf zu ihr. Sie weist auf eine Tür an der Seite hin, die ich öffnen soll. Und dann sehe ich drinnen: Bänke, Bänke, Bänke und Säulenreihen. Eine Kirche also! Vor allem aber ist sie ein überhoher Raum. Die Zutaten vorn und an den Seitenwänden sind dagegen eher bescheiden und halten sich zurück.

Mein inneres Wissen sagt mir: Es muss einfach Kirchen geben. Und ebenso den Glauben. Denn immer wieder müssen Menschen glauben und vertrauen. Zunächst sich gegenseitig, dann auch den Dingen. Und überhaupt dem Leben insgesamt. Und nicht zuletzt gerade auch der Sonne: Sie müssen darauf vertrauen, dass sie am nächsten Morgen allem Leben – und auch ihnen selbst – wieder einen neuen Schubs ins Leben zu geben vermag.

Mein inneres Wissen sagt zudem: An Höheres zu glauben ist praktisch unerlässlich. Und Kirchen stehen dafür. Denn nur höher fliegende Ideen und Träume heben über das tägliche Klein-Klein hinaus. Müssen dabei solche Vorstellungen unbedingt realitätsnah sein? Nein. Hauptsache ist, sie geben allem einen Anstrich von höherem Sinn und höherer Motivation.

Doch wozu hat mich meine Gestalt hierher gelockt? Sie weist nach oben. In diesem Moment öffnet sich über uns die Decke der Kirche, und der Himmel wird sichtbar. Bei solch demonstrativer Öffnung und Offenbarung sollte sich nun eigentlich der Himmel außerordentlich himmlisch zeigen. Doch er enttäuscht auf ganzer Linie: Er gibt sich schlicht hellblau. Er zeigt ebenso wenig Struktur oder Vielfalt. Und er bietet auch keinerlei Versprechen. Er ist einfach nur so leer wie eine Zuckerdose ohne Zucker.

Hatte ich unbewusst auf mehr gehofft? Oder hätte ich darauf hoffen sollen? Meine Gestalt meint jedenfalls, vieles beginnt mit Enttäuschung. Fast jede Erwartung schießt erst einmal über das Ziel hinaus. Oder am Ziel vorbei. Sollen das nun etwa besondere Merksätze für mein Leben sein?

Im Kirchenraum ist gegenüber ein Ausgang. Meine Gestalt drängt dahin. Ich öffne und sehe: Das Meer! Unter dünnem Himmel liegt es graublau da und ist fast bewegungslos und geräuschfrei. Nur ganz vorn schiebt es sich unentschieden leicht vor und zurück. Was fängt man nun damit an, wenn es so im Weg liegt? Irgendwie braucht man dafür Handwerkszeug wie etwa ein Boot, damit man ihm etwas abgewinnen kann. Oder wenigstens Spielzeug wie kleine flache Steine, die man über die Oberfläche ditschen lassen kann.

Weiß meine Gestalt Besseres? Sie geht dreißig Schritte vor – und dann abwärts. Ah, eine Treppe hinunter! Ich folge ihr. Unterführungen gibt es, das weiß ich, bei Straßen und Eisenbahnen. Aber eine Unterführung unter dem Meer? Und wohin führt die dann?

Erst einmal abwärts, abwärts. Und dann eine riesige Halle mit dünnen Funzeln. Jeder Schritt hallt wider. Die Halle hat eine merkwürdiger Selbstverständlichkeit: Natürlich gibt es so etwas unter dem Meer! Mehr noch: Solch eine Halle ist geradezu ein Muss. Als leeres Gegenstück zum leeren Himmel darüber. Aber wie komme ich darauf?

Der Boden ist völlig eben und glatt poliert. Die mageren Lichtpunkte spiegeln sich so darin, dass es auch Licht unter uns zu geben scheint. Ich blicke nun direkt vor mir zu Boden, und da kommt urplötzlich Schwindel auf: Ich stehe ja auf einer Glasplatte, und unter mir geht es in eine undefinierbare und anscheinend unendliche Tiefe!

Meine lichte Gestalt steht aber ruhig da. Sie wirkt in dieser Umgebung besonders hell und strahlend. Und sie zeigt ungerührt in die gewaltige Tiefe. Plötzlich verstehe ich: Unter mir liegt das Gegenstück zum Himmel über der Kirche: Die Hölle, so wie sie manche verstehen. Aber sie ist dann – zumindest hier – genauso leer wie vorher der Himmel über der Kirche. Sie ist danach eine Ansage ohne jede Konsequenz.

Damit ist nun auch dieser Punkt geklärt. Und wir können wieder aufsteigen und uns dem Tageslicht zuwenden.

Aber Traurigkeit heftet sich an meine Schuhsohlen und geht mit treppauf. Denn wenn Ober- und Unterseite des Daseins leer sind und ohne Tiefe, dann ist das Dazwischen nur Flachheit und Plattheit. Es hat dann nur wenig Ausmaß, Bedeutung und Tragweite. Der Resonanzraum der eigenen Existenz schnurrt zusammen. Kann und muss man dann etwa um die Hölle trauern?

Oben steht eine Bank mit Blick aufs Meer. Ich brauche jetzt etwas, das mich hält und trägt. Denn der Blick in die Ferne entwickelt melancholischen Sog. Er entkleidet, reißt Gewissheiten weg, ohne dass ich eigentlich sagen könnte, welche ich denn habe. Ich muss mich setzen. Und meine Gestalt kommt neben mich.

Und dann hält mich die Bank fest. Ich sitze da wie angeklebt und kann und will nicht weg. Auch als es dämmert. Und meine Gestalt hält zu mir, bleibt neben mir, aber sie verliert ihr Licht und ist nur noch zu ahnen.

Es wird immer dunkler. Und immer stiller. Es gehen auch keine Lichter an, wie sonst in einer Stadt. Das Leben scheint sich zurückgezogen zu haben in hellere Gefilde weit weg. Und damit pirscht sich jetzt die Nacht an. Werde ich jetzt in düsterer Finsternis ertrinken? Holt mich jetzt gar ein Abklatsch der Hölle ein?

Doch dann ist das Dunkel ziemlich licht. Die Sterne treten immer klarer hervor in Gestalt ganzer Wolken von diamantenen Punkten.

Die Gestalt neben mir rührt sich nicht von der Stelle. Wie eine Statue sitzt sie da. Es überrascht mich, wie sie nahezu regungslos bei mir ausharrt. Und in meinem Gefühl verwandelt sie sich nun von einer fast leblosen Statue in einen verlässlichen Begleiter. Solch ein Begleiter verdrückt sich nicht, sondern steht klaglos alles mit durch.

Habe ich gerade „Begleiter“ gedacht? Oh, da wird mir bewusst: Diese Gestalt habe ich schon immer irgendwie als männlich betrachtet. Dabei bietet ihr Erscheinungsbild keine Anhaltspunkte. Auch ihre Stimme nicht. Nur mein Gefühlskompass zeigt unbeirrbar auf männlich.

Dann endlich: Der untere Rand des Himmels wird heller. So, als wenn sich der aufkeimende Tag mit Fingern in den Horizont krallt, um sich daran immer höher zu ziehen.

Der helle Schein geht immer mehr in Gelb-Orange über: Der neue Tag schiebt die Sonne mit hoch. Schließlich blinzelt sie über den Rand in diese Welt. Erst noch etwas schüchtern, doch schnell wird sie selbstbewusster und größer. Und sie wirft eine orangene Glitzerbahn auf das Wasser, die direkt auf uns zuläuft.

Das sind jetzt Momente voller Schöpfungsglut! Erst öffnet und weitet die Sonne das Herz mit Wärme. Und dann überschwemmt sie die Seele mit einer Hoheit und königlichen Grandezza, dass die kleine Seele das nicht mehr nicht zu fassen vermag und nur noch selig dahintaumelt.

03. Ein inspirierter Autor

Von hinten tritt unerwartet ein Mann an mich heran. Mehr aus dem Augenwinkel nehme ich wahr: Er ist grau-weiß, von oben bis unten. Er fragt, ob noch Platz sei für ihn auf unserer Bank. Ich rücke ein Stück, und er setzt sich fast hautnah neben mich.

Er stört. Ich frage direkt: „Und wer sind Sie?“

Er: „Bitte per Du! Für dich bin ich Jo, einfach Jo. Ich bin der menschliche Autor des Buches, in dem du eine wichtige Figur bist. Der Himmel hat dich bei mir in Auftrag gegeben. Und er ist der eigentliche Urheber dieses Buches.“

Ich bin irritiert von den Haarwurzeln bis in die Fußspitzen. Mein Begleiter dagegen wirkt überhaupt nicht überrascht. Für ihn ist diese Begegnung offenbar mehr als in Ordnung.

Und der Mann – oder Jo – erklärt zusätzlich: „Jeden Morgen bete ich darum zu erfahren, wie es mit dir weitergeht.“

Pause. Sehr lange Pause. Dann ich mit gepresstem Du: „Und wie erfährst du das?“ „Ich sehe danach oft innerlich, wohin dich dein Begleiter führen möchte.“ Aha.

„Und wie geht es dann weiter?“ „Das ist erst nur abstrakt. Dann muss ich dich noch handfest in die Wirklichkeit transportieren. Und dich da möglichst real verankern.“ „Mich auf dem Boden der Tatsachen ankommen lassen?“ „So lässt sich das formulieren.“

Es ist Zeit festzustellen: Wer mein lichter Begleiter ist, ist für mich immer noch eine offene Frage. Ich bin erst einmal auf ihn angewiesen, und er wirkt oft warm und vertrauenswürdig. Deswegen habe ich kein Problem mit seiner Nähe. Zugleich hatte ich bisher eine große Scheu, sein Geheimnis zu lüften. Es war erst einmal genug, ihn als unbedingt zuverlässig zu erleben.

Jetzt allerdings erfahre ich: Hinter meinem Rücken gibt es eine enge Zusammenarbeit zwischen ihm und dem Jo, der sich als mein menschlicher Autor bezeichnet. Was soll ich davon halten? Da gebe ich doch jetzt einfach mal meiner Neugier nach und wende mich direkt an meinen Begleiter. Ich möchte also von ihm wissen, wer er ist. Doch er antwortet nicht, sondern lächelt nur.

Da wende ich mich mit meiner Frage an Jo den Autor. Und der: „Du willst wissen, wer dein Begleiter ist? Er ist ein Großer im Himmel, der sich extra für dich klein macht.“

Er – ein Großer im Himmel? Das stoppt erst einmal alle weiteren Fragen nach ihm. Ich darf nicht unbescheiden wirken. Eine Frage an Jo muss allerdings noch sein: „Ist denn der Himmel nicht leer? So zeigte er sich doch in der Kirche.“

„Nein, leer ist der Himmel absolut nicht. Er hat nur viele Gesichter. Und dir wollte er sich erst einmal leer zeigen. Denn was leer ist, kann man frisch füllen.“

Nun sieht mich der Jo an, als ob er sich fragt, ob er mir noch etwas zu sagen hat. Aber anscheinend nicht. Er erhebt sich, verbeugt sich vor mir, wünscht mir ein möglichst langes Leben und entschwindet.

Aber wer eigentlich hat nun mein Leben in der Hand? Es ist eine existenzielle Frage. Erst einmal erblicke ich oben auf einer Bibliothek das Licht der Welt. Doch alle normalen Menschen werden von Menschen gezeugt und geboren. Danach bin ich in einem sonderbaren Leben eine Art Spielball von zwei Gestalten. Und dann mischt auch noch der Himmel gewaltig mit – in irgendwie undurchschaubarer Weise.

Da wende ich mich jetzt doch energisch an meinen lichten Begleiter: „Muss ich mir eigentlich alles gefallen lassen, was gerade kommt? Oder habe ich selbst ein Wörtchen mitzureden?“

„Aha!“ sagt er. „Nun, du hast Spielraum.“ „Wie denn? Was denn?“ „Du darfst jetzt sofort wählen: Zwischen dem Thema Mann und dem Thema Frau.“

Soso. Mir ist sofort klar: „Ich möchte das Thema Frau!“ Der gegenwärtigen Männerdominanz, zu der ich in höchsteigener Person beitrage, ist unbedingt etwas entgegenzusetzen.

Und mein Begleiter bereitet mich vor: „Du wirst auf Frauen treffen, die dazu ausersehen sind, mit dir im Buch eine Rolle zu spielen.“ Oh!

„Und was mache ich mit denen?“ „Die Frage ist: Was machen die mit dir? Ich werfe dir dafür zwei kleine Rettungsringe zu: Das sind die Stichworte Macht und Liebe.“

04. Macht und Liebe

Und schon befinde ich mich auf einer abschüssigen Straße. Sie hat holperiges altes Steinpflaster. Die Häuser rechts und links sind auch nicht mehr die jüngsten. Und mein lichter Begleiter ist nicht mehr dabei. Als wesentlicher Teil unseres rein männlichen Trios hält er sich offensichtlich zurück.

Von unten kommt eine Frau auf mich zu. Ein schlankes Wesen. Sie begrüßt mich lächelnd und vielsagend: Ein paar Frauen erwarteten mich schon ungeduldig.

Wir gehen einige Schritte tiefer. Da öffnet sich rechts zwischen den Häusern ein kleiner mit Kies bestreuter Platz. Er ist umrahmt von dichten Büschen und vielfarbigen Blumenrabatten. Und dahinter fasst ihn noch eine rohe Steinmauer ein.

Es ist sehr warm. Weitere vier Frauen stehen da als kleine bunte Truppe. Sie sind sehr luftig und farbenfroh gekleidet. Und sofort wenden sie sich uns erwartungsvoll zu. Ich werde mit fröhlichem Hallo begrüßt. Angesichts der weiblichen Übermacht grüße ich selbst eher verlegen zurück. Was erwartet mich hier?

Die Frau, die mich in Empfang genommen hat, ist die Wortführerin. Sie schlägt vor, sich erst einmal zu setzen. Ein paar Stühle stehen herum, und wir platzieren uns in lockerem Kreis. Die Namen werden ausgetauscht. Schnell nehme ich den nächstbesten Namen an für mich, der mir kommt, um nicht aus der Reihe zu tanzen. Aber er fühlt sich überhaupt nicht gut an, und ich vergesse ihn lieber gleich wieder.

Nun werde ich gebeten, doch ein bisschen mehr über mich zu sagen. Aber dazu fällt mir wenig ein. Mein Lebensweg war doch bisher ultrakurz. Die Frauen überrascht das aber nicht, sie sind selbst erst vor Kurzem ins Leben getreten.

Dann steuert die Wortführerin – sie heißt Martina – schnell auf ein Thema zu, das hier offenbar alle bewegt: „Du als Mann hast einen glücklicheren Teil erwischt als wir Frauen!“ Die anderen Frauen nicken. Ich bin völlig überrascht von dieser Eröffnung.

Und dann klagen die Frauen: Sie waren schon abschätzigen Blicken und dummen Sprüchen von Männern ausgesetzt. Oder billiger Anmache. Oder sie haben zugesehen, wie anderen Frauen so etwas geschah. Und eine meint auch noch: „Manchmal ist es unendlich mühsam, einen Kerl wieder abzuschütteln, wenn man etwas zu freundlich war.“ Die gemeinsame Schlussfolgerung der Frauen ist: Bei Männern muss man immer auf der Hut sein in Wortwahl und Verhalten.

Darüber wollen sie mit mir sprechen, da wir doch eine Gemeinsamkeit haben: Wie sie bin ich völlig überraschend in diese Welt hineingeraten. Innerlich denke ich dabei: Sind ihre Erfahrungen wirklich so schlimm? Aber wenn man unbedarft mit dieser Welt konfrontiert wird, kann sicherlich manches noch schockieren, worüber andere einfach hinweggehen.

Nun steigt das Stichwort Macht unerwartet in mir hoch. Seine Zeit ist wohl gekommen. Und ich werfe einfach mal die Frage in die Runde: „Wie fühlt ihr euch eigentlich: Stärker oder schwächer als Männer?“

Eine wilde Diskussion flammt auf. Und weithin zeigt sich: Die Frauen hier fühlen sich unterlegen. Das ist kein Wunder: Bei ihren ersten Begegnungen trafen sie auf eine Männerwelt, die ihnen unendlich viele Lebens- und Machterfahrungen voraus hat. Und ich habe selbst an meinem ersten Tag schon beobachtet, wie ein Mann seine Macht mit überlegenem Gesichtsausdruck und breit ausgefahrenen Ellenbogen demonstrierte.

Die Frauen hier sind solches Verhalten noch nicht gewohnt. Mein inneres Wissen sagt mir nun: Frauen müssen lernen, etwa geschickt auszuweichen, weibliche Wortmächtigkeit gekonnt einzusetzen oder notfalls auch grobe Zurückweisung zu praktizieren. Ohne gute Techniken der Selbstbehauptung sind sie einfach unterlegen. Und ja, weibliche Freundlichkeit wird von Männern leicht missverstanden oder ausgenutzt.

Nun fragt mich Martina: „Wie fühlst du dich eigentlich selbst? Den Frauen überlegen?“ Eine Gewissensfrage. Und ich gebe erst einmal eine ausweichende Antwort: „Ihr seid zu fünft. Ich stehe euch allein gegenüber. Wäre es da nicht verwegen, wenn ich mich mächtiger fühlen würde?“

Eine andere Frau hakt nach: „Und wie ist es sonst bei dir?“ Was nun? Es ist unübersehbar: Ich bin größer, schwerer und kräftiger als die Frauen hier, wenn ich in die Runde sehe. Und zudem bin ich hier noch in der Position, dass meine Gedanken und mein Wissen gefragt sind. Möchte ich das nun ausnutzen und diese Frauen womöglich in den Griff kriegen – im übertragenen Sinne oder gar wortwörtlich? Nein, bestimmt nicht!

Ich also: „Ich habe mit Frauen sonst noch nicht näher zu tun gehabt. Ich kann euch nur sagen: Ich möchte hier nicht bestimmend sein. Und überhaupt: In mir wehrt sich etwas gegen den Gedanken, über andere Macht auszuüben.“

Nun begehrt eine auf und sagt zu den anderen Frauen gewandt: „Ihr redet um den heißen Brei herum! Im Gedränge hat mir einer an den Po gegrapscht. Was hat das mit Macht zu tun?“ Zwar sind andere Frauen schnell bei der Hand mit: Der Mann macht das nur, weil er sich überlegen fühlt. Aber die Frau bleibt hartnäckig: „Da ist doch mehr im Spiel!“

Und das ist es ja auch. Ich reagiere nun mit: „Ihr Frauen habt auch Macht. Die Macht eurer Weiblichkeit. Und so weit ich weiß, kann diese Macht Männer sogar zu Narren machen.“

Martina nun: „Aber diese Macht setzt kaum eine Frau ein! Ich auch nicht.“

Oh, denke ich, wenn du wüsstest: Ich höre bei dir genau hin, was du sagst. Ich schaue genau zu, wie du sprichst, den Kopf neigst, mit der Hand ein Wort unterstreichst und wie lebendig deine Gesichtszüge sind. Überhaupt nehme ich deine ganze weibliche Körperlichkeit wahr. Und die finde ich ziemlich ansprechend.

Aber ich sage: „Frauen können unbewusst und unabsichtlich Macht über Männer haben. Die Natur hat ihnen eine körperliche Anziehung gegeben, die geradezu magnetisch auf Männer wirken kann. Und das ist auch ein wichtiger Grund, warum Frauen in vielen Gesellschaften unterdrückt werden. Zum Teil müssen sie da sogar ihren Körper verhüllen. So versuchen die Männer, sich gegen ihre weibliche Anziehungskraft zu wehren.“

Nun geht es rund unter den Frauen: Müssen sie sich etwa extra verhüllen, um nicht angegrapscht zu werden? Oder um nicht von männlichen Blicken abgetastet zu werden? Ich merke: Sie kennen sich schon ganz gut aus mit den weiblichen Körperpartien, auf die es die Blicke der Männer abgesehen haben.

Derweil frage ich mich selbst: Was eigentlich lässt sich tun gegen solch ungerechte Machtverteilung? Da ist mir, als würde mir ins Ohr geflüstert: Liebe! Aha, ist jetzt dieses Stichwort dran?

Doch wenn Männer Frauen belästigen – wieso dann Liebe? Das ist doch absurd! Aber die Stimme im Ohr bleibt hartnäckig. Und mir kommt nun der Gedanke: Ja, Liebe zu sich selbst kann hilfreich sein. Und zwar etwa dann, wenn man in sich hineinspürt, ob etwas gerade schmerzt. Oder in welcher Weise es verletzt. Und dann ist einfach dran, klar zu sagen, was Sache ist.

Die Diskussion ist eine Weile ohne mich weitergelaufen. Nun melde ich mich zurück und frage: „Was haltet ihr von Liebe zu euch selbst – könnte sie helfen?“ Und ich erkläre, dass Selbstliebe in letzter Konsequenz dazu führen kann: Einem zudringlichen Mann ein grimmiges „Hau bloß ab!“ an den Kopf werfen oder ihm schmerzhaft auf die Finger klopfen.

Einige Frauen lächeln skeptisch. Und Martina wendet ein: „Das ist leichter gesagt als getan. Man ist erst einmal perplex.“ Und die Frauen beginnen nun untereinander zu diskutieren, ob, wann und wie das wirklich funktioniert.

Da tauchen drei junge Männer auf der Straße auf und bleiben vor unserem Platz stehen. Alle weiblichen Augen wenden sich ihnen voll Neugier zu. Und man sieht: Die Männer tauschen kurze Bemerkungen aus. Was geschieht nun wohl? Da hebt einer die Hand und wünscht: „Euch einen schönen Tag!“ Ich atme auf: Männer können doch ganz umgänglich sein! Und zwei Frauen winken prompt zurück mit dem Ruf: „Euch auch!“

Die Männer bringen uns zurück zum Stichwort Liebe. Die Erfahrung der Frauen ist zwar: Nicht zu freundlich sein zu Männern! Aber häufiger ist immerhin ein wenig Freundlichkeit ohne größeres Risiko möglich. Ganz hoch gegriffen kann man das sogar Nächstenliebe nennen. Und das bedeutet dann etwa: Freundlich grüßen, sich nach dem Befinden erkundigen, eine Auskunft erteilen, einen guten Tipp geben, mit einem Handgriff helfen. Und damit lässt sich der Alltag erhellen.

Und so sage ich: „Die Männer eben haben gerade gezeigt: Schon freundliches Grüßen verändert die Atmosphäre. Wie ist es da: Lässt sich mit etwas Liebe vielleicht das Machtgefälle zwischen Frauen und Männern entschärfen?“

Nun gibt es einiges Hin und Her. Eine Reihe von Bedenken steht gegen zuversichtlichere Ansichten. Und ich werfe noch einmal ein: „Lohnt es sich nicht vielleicht, freundlich oder vielleicht sogar vorsichtig liebevoll aufeinander zuzugehen – beide Seiten haben doch etwas davon? Und letztlich sogar die ganze Gesellschaft?“

Martina zeigt sich jetzt entschlossen: „Ich finde das richtig gut! Und ich nehme es als Orientierung für mich.“ Nun kommt auch von den anderen Frauen teils verhaltene, teils bereitwillige Zustimmung.

Und ich selbst bin jetzt auch in der Pflicht! Ich schließe mich gern den Frauen an – ein bisschen stellvertretend für alle Männer. Mich überzeugt einfach die Vorstellung: Mit kleinen Liebesfackeln und Liebesfeuern die Gesellschaft hier und da erwärmen. Dann wird sie freundlicher, verträglicher und heller. Und ich sage: „Ja, unbedingt mache ich mit!“

Wohin hat uns doch dieses Gespräch geführt! Ich bin überrascht. Aber jetzt ist auch gesagt, was zu sagen ist. Und ich fühle mich seltsam leer. Damit endet mein Besuch abrupt, ich spüre es. Ich kann mich nicht mal mehr bei den Frauen fürs Zuhören und Mitdenken bedanken.

05. Kontrolle und Freiheit

Irgendwann danach finde ich mich an einem idyllischen Teich wieder. Ringsum ein paar Wiesen. Hier und da Schilf am Teichrand. Und auch ein Stück Wald schiebt sich bis ans Wasser vor. Direkt vor mir eine Handvoll Enten. Eine fängt an laut zu quäken, und ihr Gequäke durchbricht die große Stille und schallt weit über den Teich.

Was soll ich hier? Ein paar Schritte weiter eine roh gezimmerte Bank: Ein halbiertes und geglättetes Stück Baumstamm. Ich setze mich, warte und atme erst einmal Frieden.

Irgendwann erscheint gegenüber eine Gestalt. Sie tritt auf den Damm, der den Teich aufstaut, und bewegt sich gemessenen Schrittes in meine Richtung. Kurz verweilt sie an einem Gebäude, an dem ein Mühlrad zu kleben scheint. Das Rad hat offenbar noch bis heute überlebt. Dann schlendert die Gestalt weiter.

Die Gestalt ist Jo, mein Autor, das erkenne ich jetzt. Der Mensch, der für mich mitverantwortlich ist. Bei mir angekommen, lächelt er mich an und fragt, wie es mir geht. Das sollte er eigentlich besser wissen als ich, denke ich. Aber gut, ich kann ja mal in mich hineinfühlen. Und da finde ich: Leise Verwirrung, viel Erwartung und auch einige Zuversicht in mir. Ich gebe es an ihn weiter.

„Weißt du“, sagt er, „ich gestalte dich mit. Auf dem Weg vom rohen Entwurf des Himmels zur endgültigen und lesbaren Fassung deiner Person. Ich bringe dich in Worte, mache dich fühlbar und sichtbar. Aber ich kontrolliere und beherrsche dich nicht. Du hast Freiheit und behältst deinen eigenen Willen. In entscheidenden Dingen kann ich dir nur zuschauen und dir folgen.“

Ist das gut zu wissen? Ich weiß es nicht. Ich kann das noch nicht einordnen. Ich bin noch allzu sehr Frischling in dieser Welt.

Und dann kommt Jo auf das Thema Frau. Da hätte ich mich ja inzwischen ein wenig umgesehen und Erfahrungen gesammelt. Dabei sei elementar: Auf die weibliche Anziehung hat die männliche Seite mit Selbstkontrolle und Selbstbeherrschung zu reagieren. Und nicht mit einem Machtwillen, welcher der Frau Zügel anzulegen und sie für egoistische Zwecke verwendbar machen will.

Der beste Rahmen dafür sei eine Liebe, die viel Freiheit lässt, besonderes Verständnis hat und dem weiblichen Willen mit großer Achtsamkeit begegnet. Dann wird ein ausgewogener Interessenausgleich zwischen den Geschlechtern möglich, der beiden Seiten größtmögliche Freiheit und zugleich Befriedigung verschafft. Auf diesen Weg hätte ich mich ja jetzt begeben.

Und wie aus eigener Erfahrung fügt er noch hinzu: „Es kann Freude machen, in Selbstbescheidung einem geliebten Menschen ein Opfer zu bringen. Und es gibt mehr Lebenssinn und Erfüllung, in liebender Verbindung mit anderen vorwärtszugehen und vereint Ziele zu erreichen. Gemeinsames Glück kann viel mehr sein als einsames Glück.“

Und dann wird Jos Gesicht schmerzlich und eindringlich: Pure Selbstsucht, Unbeherrschtheit, Machtmissbrauch und Gier führen oft zu unglaublich viel Jammer und Elend. Direkt oder indirekt werden Menschen damit in fataler und erschütternder Weise geschädigt. Und ihr Leiden wird oft unendlich weit fortgeschrieben. Selbstkontrolle ist deshalb grundsätzlich eine elementare Aufgabe!

Damit weist er auf den Teich: Hier ist aus einem ungezähmten Bach ein stilles, aber heimlich kraftstrotzendes Gewässer geworden. Die Kraft des aufgestauten Wassers hat hier früher Getreide gemahlen. Und heute erzeugt diese Kraft mit Hilfe einer kleinen Turbine Strom. So ähnlich, meint er, lässt sich auch durch Selbstkontrolle in wichtigen Situationen zusätzliche positive Energie gewinnen – etwa für Spaß, Freude und Glück.

Damit will Jo sich verabschieden. Doch ich sage: „Halt! Stop! Ich habe noch Wünsche!“ Bei meiner nächsten Lebenserfahrung würde ich gern mehr erleben – es dürfe auch aufregend sein. Jo lächelt nun wohlwollend und zustimmend. Und geht.

06. Hilflosigkeit im Zug

Ich finde mich am Fenster in einem Eisenbahnabteil wieder. Die Landschaft rast auf mich zu und an mir vorbei. Nur in der Ferne hat sie es nicht so eilig. Da bewegt sie sich eher gemächlich und fast gemütlich von vorn nach hinten. Oder schiebt sich so unaufhaltsam ins Vergessen.

Nebenan eine Familie mit zwei Kindern. Man unterhält sich, spielt, lacht, liest. Ganz munter. Und gelegentlich wird die Stimmung auch noch mit etwas Reiseproviant unterfüttert. Eine sehr eigene Welt hier drinnen im Stubenformat. Nur ab und an huscht mal ein anderer Mensch durchs Gesichtsfeld, ohne mehr als einen flüchtigen Eindruck zu hinterlassen.

Draußen dagegen eine Welt in unermüdlichem Wandel. Häuser, Straßen, Brücken, Felder, Wiesen, Wälder schießen vorbei. Und ich genieße dieses Fahr- und Geschwindigkeitserlebnis in vollen Zügen.

„Hier ist doch noch frei?“ höre ich plötzlich über mir eine Frauenstimme. „Bitte!“ sage ich mit einladender Geste. Und noch im Hinsetzen kommt von der Frau: „Wir kennen uns doch?“ Erst als sie mir gegenüber sitzt, kann ich sie ganz wahrnehmen. Und ich denke: Das kann doch nicht wahr sein – das ist ja die Martina! Allerdings wirkt sie hier etwas zugeknöpft.

Und das ist kein Wunder: Denn die freien Plätze neben uns werden ebenfalls sofort belegt. Ein Mann und eine Frau sichern sie sich. Und sie sind gleich bei beruflichen Dingen. Jetzt mit Martina ins Gespräch zu kommen – nein, ich weiß einfach nicht wie! Mir fällt nichts Beiläufiges, Witziges, Nettes, Spielerisches ein. Unsere Blicke treffen sich zwar mal kurz. Und wir nehmen schon freundlich voneinander Notiz. Aber ich muss nun einfach bis zum nächsten Bahnhof warten. Da wird sich meine Zunge schon lockern, falls die beiden Plätze neben uns frei werden.

Der Bahnhof kommt. Doch nun erheben sich drei Menschen zum Aussteigen – also auch Martina. Ich schaffe es gerade noch zu fragen: „Sehen wir uns wieder?“ Ihre Antwort: „Der Himmel weiß das!“ Und schon ist sie weg. Vorm Fenster sehe ich noch einmal kurz ihren Rücken.

Der Zug fährt wieder an. Ich beginne, über Realitäten zu philosophieren. Und über die verschiedenen Erscheinungsweisen ein und desselben Menschen. Wer ist die Martina wirklich? Diese schon mal offenherzige, nun aber im Zug ziemlich distanzierte Frau?

Aber schnell bin ich bei mir selbst: Und wer bin ich eigentlich? Auf einer Bibliothek habe ich das Bewusstsein erlangt, habe ein paar denkwürdige Situationen durchlebt, rase nun gerade in einer großen komfortablen Metallbox dahin – wer bin ich da eigentlich?

Innerlich komme ich ins Stolpern, Rutschen, Stürzen. Eine erste Krise? Noch habe ich nicht einmal einen Namen – alle Welt redet mich mit „Du“ an. Zudem habe ich keinerlei leibliche Geburt vorzuweisen. Ich kenne auch keinen Schlaf. Ich bin immerzu schon angekleidet – durch wen auch immer. Und überhaupt bin ich nur ein äußerst sporadischer Wahrnehmer und Teilnehmer dieser Welt.

Und dann das Wissen in mir: Es ist einfach schon da – woher eigentlich? Oder was leitet und füttert meine Gefühle und lässt mich gerade jetzt aus heiterer Gelassenheit in einen Sinkflug übergehen?

Jedenfalls braucht jeder Mensch andere Menschen um sich herum. Aus ihrer Reaktion kann er zunächst schließen, dass er wahrgenommen wird und damit tatsächlich existiert. Und dann kann er ihrer Reaktion auch noch entnehmen: Ob er geschätzt wird.

Ich aber habe überhaupt nur zwei Gegenüber – zumindest bisher: Jo, der immerhin Mensch ist und sich mit Menschlichem auskennt. Und dann ist da noch mein lichter Begleiter, dessen Rolle und Wesen letztlich undurchschaubar ist. Sie sind die, die mich zur Welt haben kommen lassen und darin weiter halten. Und zudem ist auch noch der Himmel irgendwie beteiligt. Aber dessen Beitrag ist einigermaßen dubios.

Eine weibliche Gestalt in Dienstkleidung nähert sich jetzt im Wagen. Überall prüft sie die Mitfahrberechtigung. Habe ich selbst so eine bei mir? Ich klopfe Taschen und Kleidung bei mir ab: Nichts! Wer immer mich in diesen Zug gesetzt hat, hat mich nicht mit einem entsprechenden Nachweis ausgestattet. Was also tun? Einfach abwarten!

Die Kontrolleurin ist nebenan ziemlich kurz angebunden. Und dann ist sie auch schon bei mir. Ich gestehe ihr, ich habe keinen Nachweis dafür, dass meine Fahrt bezahlt ist. Damit mache ich ihr Arbeit, und sie erwidert ungnädig: „Dann wird es jetzt teuer!“ Und sie will wissen: Wo ich denn eingestiegen bin und wohin ich fahren will? Ich antworte klar und sachlich: Beides sei mir unbekannt. Da kneift sie die Augen zusammen und sagt unverhohlen misstrauisch und streng: So etwas weiß man doch! Dann müsse sie jetzt den Höchstpreis ansetzen. Sie will mich damit offenbar zur Räson bringen.

Inzwischen werden andere hellhörig. Sie schauen her, und der kleine Junge nebenan fragt laut den Papa, was mit mir sei. Jetzt wird es unerquicklich. Und peinlich. Mit Inbrunst wünsche ich mir meinen Begleiter herbei. Der wüsste wohl Rat. Oder er würde irgendwie eingreifen.

Um die Prozedur abzukürzen bekenne ich gleich: Auch zahlen könne ich nicht. Jetzt möchte die Frau irgendeinen Ausweis von mir sehen. Doch damit kann ich ebenfalls nicht dienen. Damit ist für die Frau Alarmstufe rot erreicht. Sie schaut mich böse an und scheint mir Übles zu unterstellen. Und die Nächstsitzenden schütteln mit den Köpfen und tuscheln. Hilfe!

Die Frau spricht in ein kleines Mikrofon: Sie hätte einen Fahrgast ohne jeden Ausweis. Und er sei in keiner Weise kooperativ. Er müsse von jemand anderem übernommen werden. Und sie gebietet mir mit äußerster Strenge, auf meinem Platz sitzen zu bleiben. Jetzt wird mir heiß. Und ich beginne zu schwitzen.

Beim nächsten Halt stehen plötzlich zwei Beamte neben mir. Sie fordern mich kühl auf mitzukommen. Ich muss aussteigen, werde in einen kahlen Raum verfrachtet und dort durchsucht. Und ich darf auch erfahren, wie eine erkennungsdienstliche Behandlung vor sich geht und wie man sich dabei fühlt. Der Computer entdeckt dabei zwar einen Menschen, der mir sehr ähnelt. Aber der bin ich dann doch nicht.

Man beratschlagt. Und dann führt man mich in einen kleinen und noch kahleren Raum mit den Worten: Es könne jetzt etwas dauern. Nun habe ich Zeit für mich. Und ich merke: Ich schäme mich, ärgere mich, bin wütend. Auch etwas Selbstmitleid ist dabei. Eine höchst brisante Mischung. Wer hat mir das nur eingebrockt!

Da taucht mein Begleiter auf. Hurra! Ich würde ihm gern sofort einiges an den Kopf werfen, wage es aber nicht. Ich frage nur, warum ich mich so unendlich lange gedulden musste. Seine Antwort: „Für den Himmel ist erst jetzt deine Zeit gekommen.“

Oh, wieder der dubiose Himmel! Immerhin weiß mein Begleiter sofort weiter. Er erklärt mir: „Ich gehe jetzt einfach mir dir zur Tür hinaus. Draußen wird uns niemand beachten“. Und so geschieht es tatsächlich: Die Tür geht auf, niemand achtet auf uns, und wir machen uns davon.

07. Krise im Café

Eine Terrasse, begrenzt von einer niedrigen Hecke. Unübersehbar dahinter ein See. Er verliert sich in der Ferne in einem undurchsichtigen Dunstschleier. Die Sonne steht milchig darüber und wärmt zart. Ein betörend verwunschenes Panorama.

Davor: Wohl geordnete Reihen von Tischen. Daran vor allem Paare. Vor ihnen meistens Kaffeetassen und Kuchenteller. Teils sind diese Menschen noch beim Genuss, teils auch schon bei entspanntem Plaudern. Und man bevorzugt hier offenbar leisere Töne.

Eine Hand geht hoch an einem der Tische – das ist Jo, mein menschlicher Autor und Mitgestalter. Und auch noch mein Betreuer. Es wirkt so, als hätte er mich herbestellt. Ich setze mich zu ihm. Ihm geht es offenbar um die letzten Geschehnisse. Es hätte mich da unangenehm erwischt, meint er, und ich hätte nun ein wenig Ausgleich verdient. Er winkt erst einmal dem Ober und bestellt.

„Wie geht es dir?“ ist dann seine Frage. Ich fühle mich immer noch gedämpft bis gedeckelt. Und dann bricht es aus mir heraus: Ich bin ein Niemand so ganz ohne Papiere! Und ohne Namen! Es ist so beschämend, abgeführt zu werden wie jemand, der sich schwer vergangen hat. Und viel zu spät hat mich mein Begleiter da herausgeholt.

Mein Gegenüber lächelt milde. „Weißt du“, meint er, „jedem Menschen widerfährt mal Unrecht. Da bist du überhaupt nicht allein. Unrecht ist eine unausweichliche Zutat des Lebens!“ Und dann fügt er hinzu: Es gibt auch weitaus schlimmeres Unrecht: Bis an den Rand des Erträglichen kann das gehen und manchmal sogar noch darüber hinaus.

Innerlich steigt Unmut in mir hoch: Steht mir jetzt nicht ein bisschen Trost zu? Oder wenigstens Verständnis? Doch der Mann wischt mein Erleben praktisch vom Tisch. Für ihn ist das fast bedeutungslose Normalität!

Der Ober kommt und setzt mit viel Schwung und Eleganz Tassen, Teller und Gläser samt Zubehör auf den Tisch. So etwas stand noch nie vor mir. Verstohlen habe ich schon vorher bei Nachbartischen beobachtet, wie man damit umgeht. Jetzt ist nur noch die Frage, wie sich der Inhalt im Mund anfühlt.

Das Stück Torte und der Umgang damit scheint mir am berechenbarsten zu sein. Ich bringe ein Stückchen mit der Gabel heil in den Mund. Es ist merkwürdig krümelig und hat einen ganz erträglichen Geschmack. Unwillkürlich beiße ich zu, matsche damit im Mund herum und probiere dann zu schlucken. Es funktioniert.

Jetzt die Tasse. Erst an der dunkelbraunen Flüssigkeit schnuppern, dem Kaffee – nun ja, gewöhnungsbedürftig. Dann die Tasse an den Mund führen, daran nippen. Heiß! Aber ein paar Tröpfchen dringen vor bis in den Mund. Ein merkwürdiger Geschmack, ich krause etwas die Stirn. Nein, ich müsse wirklich nicht trinken, beschwichtigt mich Jo.

Und nun kommt er zum Thema. Zum Thema Scham: „Es ist ein ganz elementares Erlebnis, abgewertet und bloßgestellt zu werden. Das tut weh, das kann sehr schmerzen. Und am liebsten möchte man fliehen oder sich verstecken. Deshalb spielt das Schamgefühl unter Menschen eine gewaltige Rolle. Es hält ganze Gesellschaften zusammen. Es bringt die Menschen dazu, die Regeln ihrer Gemeinschaft einhalten. Denn sie wollen keinesfalls aus dem Rahmen fallen. Und das Schamgefühl verhindert unendlich oft, dass Leute wagen, ihr eigenes Ding zu machen.“

Und auch dafür sorgt nach seinen Worten das Schamgefühl: Dass die Wirtschaft floriert. Unendlich viel wird gearbeitet und gekauft, um im persönlichen Ansehen mit anderen mithalten zu können und nicht hinter sie zurückzufallen. Etwa bei Kleidung, Haushalt, Auto, Haus, Grundstück oder sonstigen Äußerlichkeiten. Man wird daran gemessen oder misst selbst andere daran.

Und dann kommt Jo zu mir: „Du hast nun selbst erlebt, wie sich Scham anfühlt. Du hast gemerkt, welche Kräfte Scham freisetzen kann, wenn sie in Ärger und Wut umkippt. Für dich ist es sinnvoll zu wissen: Wenn man Menschen ernsthaft helfen will, ist es ganz wichtig, ihnen den Schmerz der Scham zu ersparen. Sonst nehmen sie Hilfe nicht an. Und der Himmel hat vermutlich gewollt, dass du selbst dafür Scham zu spüren bekommst. “

Und dann fügt er noch hinzu: „Und er hat wohl auch gewollt, dass du überhaupt eine schmerzhafte Seite des Lebens kennenlernst. Denn das Leben ist nicht nur Zuckerschlecken. Und wer selbst gelitten hat – wie auch immer –, der hat mehr Verständnis und Mitgefühl, wenn es andere schlimm erwischt.“

Der Himmel, wieder der Himmel! Ich werde ärgerlich und frage protestierend: „Was will der Himmel von mir? Warum muss immer vom Himmel die Rede sein?“ Und nun ist mir nach einem wüsten Rundumschlag zumute: „Wieso bin ich eigentlich ins Leben getreten? Oder vielmehr: Wieso bin ich hineingetreten worden – wozu das? Mich hat niemand vorher gefragt, ob mir das gefällt und passt!“

Jo ist still. Und dann sagt er leise: „Weißt du, mich hat auch keiner gefragt, ob ich leben will. Und ob ich meine Art von Leben haben möchte. Ich selbst habe damit auch fertig werden müssen. Entscheidend ist, dass man sich nachträglich zur Zustimmung durchringt. Und das vielleicht mehrmals.“

Was soll ich dazu sagen? Mir fällt nichts ein, und ich greife zum Glas Wasser neben meiner Tasse und nippe. Doch ja, das Wasser lässt sich trinken.

Für Jo ist jetzt die Zeit für eine längere Rede gekommen: „Weißt du“, sagt er, „über uns beiden steht der Himmel. Und der meint es gut mit dir und mit mir. Du kannst das noch nicht wissen. Aber vertrau mir. Immerhin hast du ja schon eine wunderbare Befreiung erlebt – da bei deinem speziellen Eisenbahnunfall. Mit deiner Befreiung hat dir da der Himmel unübersehbar ein Zeichen gegeben!“ Aha, so sieht er das.

Und Jo weiter: „Noch heute Morgen hat mir der Himmel zugesagt: Er will dich glücklich machen! Auch mir verspricht er das immer wieder. Aber als Mensch habe ich einen unendlich langen Weg durchs Leben vor mir, und dieser Weg ist oft nicht lustvoll. Du dagegen hast es einfacher: Für dich als Figur in einem Buch ist das Leben viel kürzer und leichter. Denn dein Bewusstsein knipst sich immer nur für kurze Zeit an und dann wieder aus. Und da passt nicht viel Unglück hinein.“

Mein Leben leichter? Oh, so weit war ich noch nicht mit meinem Wissen! Aber ist das wirklich empfehlenswert? Oder will er mir nur schmackhaft machen, was ich nicht ändern kann?

Und Jo zählt Vorteile auf: „Du musst dich nicht um Essen und Trinken kümmern. Du brauchst keine Toilette – wie die Frau dort, die gerade dahin geht. Du brauchst kein Bett, und du brauchst dich darin nicht nachts schlaflos herumzuwälzen. Und du brauchst dich auch nicht um Kleidung zu kümmern. Du bist einfach von allein angezogen. Früher hatten nur Könige das Vorrecht, sich nicht selbst anziehen zu müssen, sondern angekleidet zu werden.“

Und dann kommt, worauf er hinauswill: „Ich weiß nicht, wie dein eigenes Zeitgefühl ist. Für die, die dich hier im Buch durch dein Leben begleiten, dauert die Lesezeit nur Stunden. Und angesichts dieser Situation hast du nun zwei Möglichkeiten:

Der Himmel bietet dir an, dass dein Leben für Leserinnen und Leser hilfreich, aufbauend und eindrucksvoll sein kann. Der Himmel wünscht sich das sogar heftig von dir. Wenn du dazu bereit bist, wenn du also dein Dasein dafür hergibst, dann wirst du deine kurze Existenz als erfüllend erleben. Und du bleibst dabei nicht ins Buch eingesperrt, sondern steigst auch noch daraus aus und lebst als lebendige und einprägsame Gestalt in den Köpfen vieler Menschen weiter.

Du kannst aber auch um dich selbst kreiseln. Immer nur um dich. Und du kannst murren und über dein Leben jammern. Oder du kannst sogar den Widerspenstigen geben – für entsprechend Interessierte ist das vielleicht sogar anziehend.

Doch das gibt wenig Lebenssinn. Und ob ich selbst dich dann lange aushalte und unbeirrt weiterschreiben kann, das ist ziemlich offen. Überlege also gut, wonach dir ist und was du willst. Und dann entscheide dich!“

Nun winkt Jo dem Ober um zu zahlen. Aber vorher fragt er mich noch: „Hast du einen Wunsch, wie es bei dir weitergehen soll?“

Prompt taucht ein Bild in mir auf: Ich sehe mich wieder in der Enge des Zuges bei der peinlichen Befragung. Jetzt bloß etwas ganz anderes! Und ich bitte um eine riesige Weite. Jo meint, das lässt sich wohl machen.

08. Himmel auf Erden

Und dann habe ich sie tatsächlich um mich: Eine gewaltige Weite. Es ist eine Frühsommerlandschaft in der Nachmittagssonne. Ich schlendere in sie hinein. Schaue rechts und links. Beobachte und fühle.

Direkt neben mir eine Wiese, die gerade gemäht ist. Sie wirkt wie flach rasiert, und sie ist nur noch eine kurzstoppelige Matte. Schon das Hinsehen macht Unbehagen – das ist nicht, was ich suche!

Doch ein kleines Stück weiter stehen Wiesen in Saft und Kraft. Fast hüfthohes Gras wuchert da wie ein üppiger Teppich. Zart hingetupftes Gelb, Rot und Weiß setzen blühende Akzente. Ein paar Büsche ducken sich an den Rand. Und hier und da reckt sich ein Baum selbstbewusst in den Himmel.

Weiter dahinter schiebt sich Wiesengrün mit kleinen Zungen in bewaldete Hänge hinein. Und darüber wölben sich Berge mit gerundeten Kuppen. Diese Kulisse im Hintergrund begrenzt alles und hält es zusammen.

Das Herz geht mir hier auf. Mein Atem fließt freier. Und sogar eine leise Ahnung von Himmel auf Erden beschleicht mich.

Allerdings verfolgen mich die Worte von Jo bis hierher. Sie klopfen jetzt unüberhörbar an. Sie wollen wissen: Wie weit bin ich mit der anstehenden Entscheidung? Will ich das Angebot des Himmels annehmen und ihm meine Existenz unterstellen? Und wie ernst ist es mir wirklich damit?

Es ist Sonntagnachmittag, und die Wege sind voll von Paaren, Familien und Kinderwagen. Da bietet sich viel Ablenkung an. Man kann etwa raten, wer zu wem gehört. Oder man kann beobachten, mit welchen Gesten und welcher Körperhaltung Menschen sich gegenseitig ihrer Nähe versichern.

Doch bei mir steht eine Entscheidung an. Zurück dahin! Was spricht für das Angebot des Himmels, was dagegen? Klar ist: Wie ich mich auch entscheide, ich gehe damit ins Risiko. Aber es hätte schon etwas, wenn mein Leben für andere hilfreich, aufbauend und eindrucksvoll wäre. Die Alternative ist ja: Ich lebe allein vor mich hin, und ich drehe mich dabei weitgehend um mich selbst. Nein, das spricht mich überhaupt nicht an! Und damit sind die Würfel gefallen.

Allerdings: Wie erreicht nun meine Entscheidung den Himmel? Mein lichter Begleiter sollte am besten kommen! Der hat ja einen guten Draht dahin.

Doch stattdessen kommt ein Hund: Von hinten überholt er mich. Läuft zielstrebig immer weiter nach vorn. Von wo kommt er? Zu wem gehört er? Das Rätsel löst sich, als von weit hinter mir ein Ruf ertönt. Der Hund hält inne und entscheidet sich dann zu eiliger und ebenso zielstrebiger Umkehr.

Nun erneut zurück zum Thema Entscheidung. Aber da plötzlich brechen Zweifel in mir auf: Will ich mich wirklich schon binden? Habe ich alles genug durchdacht? Bisher weiß ich noch kaum etwas über den Himmel!

Doch dann erlöst mich eine glorreiche Idee: Vielleicht ist ja eine Probezeit möglich! Sozusagen zum Naschen und Kosten.

Und jetzt geht es schnell: Ich suche mir abseits einen günstigen Stein, setze mich, erhebe meine Augen zum Himmel und sage eindringlich, jedes Wort betonend: „Lieber Himmel, wenn du nicht leer bist, dann biete ich dir meine Existenz an: Fülle du sie mit einem hilfreichen, aufbauenden und eindrucksvollen Leben. Zunächst einmal für drei Monate.“

Passiert nun irgendetwas in mir? Zeigt sich irgendeine Resonanz des Himmels um mich herum? Nein, nur genau das passiert, was ich vorher befürchtet habe: Nämlich nichts. Ich erhebe mich und mache mich leicht geknickt und kleinmütig wieder auf den Weg. Und ich frage mich: Wieso habe ich mich eigentlich auf solch eine Entscheidung eingelassen?

Doch dann halte ich mir selbst entgegen: Aber einen Versuch war es doch allemal wert! Und den nehme ich mir nicht übel.

Etliche Meter vor mir ein älterer Mann und daneben ein kleiner Junge. Der Mann verlangsamt seinen Schritt, weil der Junge stehen bleibt. „Komm!“ sagt der Mann. Und: „Die Oma wartet.“ Er geht zögernden Schritts weiter. Doch der Junge rührt sich nicht, er hat mich gesehen und bleibt auf der Stelle stehen, bis ich ihm nahe bin. Und da winkt er mir zu. Dann wartet er kurz meine Reaktion ab – ich winke zurück –, und schon läuft er seinem Großvater nach. Er hat nun bekommen, was seinem kleinen Herzen irgendwie ein Herzensanliegen war.

Ein kleines Stück weiter noch einmal dasselbe Spiel: Wieder bleibt der Junge stehen, wartet auf mich, winkt mir zu und rennt – nach meinem Winken – zum Großvater. Der nimmt ihn nun fest an die Hand und zieht ihn mit sich. Keine unnötigen Vertraulichkeiten mit Fremden mehr!

Ich bleibe zurück, frage mich: Was war das? Was habe ich an mir? Da ist ein Kind zuversichtlich, dass ich sein Spiel mitspiele. Es vertraut mir. Mehr noch: Es sucht geradezu den Kontakt mit mir. Irgendetwas macht mich unerwartet zu einem verlockenden Spielgefährten. Doch was ist das?

Und da kommt eine Ahnung in mir auf: Das hat womöglich mit meiner Entscheidung zu tun! Vielleicht sagt mir nun der Himmel: Du bist mir näher gerückt, und da komme ich dir meinerseits auch entgegen. Ich vertraue dir sogar kurz eins meiner schwächsten Geschöpfe an. Bei diesem Gedanken leuchtet die Welt um mich hell auf. Ein heftiger Lichtblitz durchzuckt sie. Und ich bleibe wie angenagelt stehen.

Erst nach einer Weile setzt mein Denken wieder ein und fragt: War das soeben Wirklichkeit? Doch die Menschen gehen weiter, als sei nichts geschehen. Dann also galt dieser Blitz allein mir! Damit ist klar: Der Himmel hat sich ein wenig zu erkennen gegeben. Und er hat mir bestätigt: Er ist ab sofort mit mir.

Und dann stellt sich doch noch mein lichter Begleiter ein. Er wirkt begeistert. Und er weitet mir nun den Horizont des Geschehens: Meine Namenlosigkeit soll bald zu Ende gehen, erklärt er. Der Himmel will, dass ich in Zukunft ganz persönlich anzureden bin. Und ich kann mir überlegen, wie ich heißen möchte. Damit lässt er mich stehen und verschwindet, als hätte er noch eilig etwas vorzubereiten.

Wie in Trance gehe ich weiter. Ich fühle mich umgekrempelt, bin ein Stück außer mir. Was geschieht hier bloß? Zugleich hat sich eine freudige Kraft eingestellt, die mich einfach vorwärtsschiebt, ob ich will oder nicht.

Ich erreiche ein unscheinbares altes Haus. Eigentlich nehme ich es gar nicht wahr. Aber kaum bin ich zur Hälfte daran vorbei, erhebt sich dicht vor mir ein vielstimmes Määh! Määh! An einem Zaun hinter dem Haus sammeln sich merkwürdige braune Schafe. Eine wohl ziemlich seltene Rasse, die unbedingt ein Hingucker ist. Und es kommt immer noch Nachschub an Schafen und noch immer mehr Määh! Määh!

Was ist denn das für eine Horde?! Die Tiere fordern lautstark und nachdrücklich handfeste Zuwendung. Sie wurden offenbar schon oft von anderen Spaziergängern mit Futter verwöhnt. Nun veranstalten sie ein gut eingeübtes Konzert. Es ist so herzerweichend, dass es den Vorbeikommenden auch noch den letzten essbaren Krümel aus der Tasche ziehen kann. Ich stehe da und bestaune verwundert diese tierische Inszenierung. Mehr als dieses Staunen habe ich allerdings den Tieren nicht anzubieten, meine Hände und Taschen sind leer.

Da fällt mir nun die Begegnung mit dem Jungen ein. Und die Frage taucht auf: Sollte hier vielleicht ebenfalls mehr als ein übliches Ritual stattfinden? Habe ich auch auf diese Tiere eine stärkere Wirkung als andere Menschen?

Verrückt, aber das Määh! Määh! klingt jetzt wie ein Lob, das die Tiere für mich singen. In einer Lautstärke und einem Klang, wie er ihnen eben nur zur Verfügung steht. Dieser Gedanke macht nun in meinen Ohren aus einem Haufen vielstimmig Määh! krächzender Schafe einen Lobpreis-Chor. Welch eine Anerkennung für mich durch den Himmel!

Eine wichtige Wendung

09. Himmlische Annahme

Es ist die Bank, auf der ich bereits einen imposanten Sonnenaufgang erlebte. Ganz erstaunt sitze ich wieder da, doch dieses Mal allein und ohne Begleitung. Und der Himmel ist mit graustummem Wolkenflausch bedeckt.

Die Namenssuche treibt mich nun um: Wer bin ich? Wie will ich heißen? Jedenfalls bin ich nicht Hans oder Peter. Und ich will auch nicht so angesprochen werden. Aber was dann? Soll der Name bedeutungsschwer wirken oder Zeichen setzen? Soll es ein klangvoller Kunstname sein, völlig aus der Luft gegriffen, der positive Gedanken oder Gefühle hervorruft? Und der mich absolut einmalig macht?

Ich schaue zum Himmel – aber ich erwarte nicht wirklich etwas von oben. In mir strudeln Namen und Bedeutungen herum. Doch nichts überzeugt, nichts findet innere Resonanz.

Unerwartet taucht mein lichter Begleiter auf und setzt sich neben mich. Ich klage über den Stress mit der Namenssuche. Er geht nicht darauf ein. Ihn interessiert vielmehr, ob ich weiterhin ein Leben will, das für andere hilfreich, aufbauend und eindrucksvoll ist. Oder kurz gesagt: Ein Leben voll Liebe zu Mitmenschen. Also ein Leben mit viel Mitgefühl und Einsatz für die, die bedürftig sind, die es hart getroffen hat und die sich nicht aufrappeln und selbst aus der Patsche helfen können.

Er will darauf hinaus: „Der Mensch ist schon von Natur aus zu einiger Liebe fähig. Aber für alles, was darüber hinaus geht, braucht er unbedingt die Mitwirkung des Himmels. Nur der Himmel kann noch tiefer liebesfähig machen. Sogar hin bis zu bedingungsloser Liebe. Und das bietet er dir an.“

Oh ja, das Angebot reizt mich! Etwas Tieferes in mir zieht mich längst dahin. Aber mein Kopf möchte dabei gern auch noch persönlichen Gewinn verbuchen. Mein Begleiter weiß es und ergänzt gleich: Überwältigende Liebe ist mit tiefer Hingabe verbunden. Und beides zusammen vermittelt reichlich Sinn und Lebenserfüllung. Während vieles andere nur hungrig macht, kann aktiv Lieben zutiefst sättigen.

Dann fasst mein Begleiter nach: „Du hast eigentlich schon deine Entscheidung getroffen. Mit Probezeit. Aber ich muss unbedingt noch einmal nachfragen: Bleibst du wirklich dabei? Ist das verbindlich für dich?“

„Ich will nichts anderes!“

Dann bin ich jetzt reif für Größeres, verheißt mir mein Begleiter. Und er bittet mich, mit ihm wieder die Kirche aufzusuchen, die mich mal mit ihrem leeren Himmel enttäuschte. Sie ist bereits in Sichtweite. Und ich denke zweifelnd: Was kann denn solch eine Kirche noch bieten?

Die Kirchentür öffnet sich, als hätte sie schon auf uns gewartet. Innen hat sich die Kirche aber stark verändert: Die Bänke fehlen nun. Auch alles sonstige Interieur auf dem Boden und an den Wänden ist entfernt. Ich sehe mich erstaunt um. Was die Kirche jetzt nur noch auszeichnet, ist ein deutlicher Nachhall bei jedem Schritt auf ihrem Boden. Ein feierlicher Nachhall.

Mein Begleiter steigt mit mir drei Stufen zum Altarraum hinauf. Von da aus sehen wir: Jo, mein Autor und Betreuer, tritt durch eine Seitentür ein und kommt ebenfalls zu uns herauf. Damit stehen wir nun zu dritt da. Und ich frage: „Was nun?“ Mein Begleiter macht „Psst!“

Und dann passiert es: Das Kirchendach weitet und öffnet sich wieder. Doch dieses Mal fällt von oben helles, blendendes Licht in den Kirchenraum. Ich kann nur blinzeln. Das Licht bringt eine milde und schonende Wärme mit. Und die geht durch und durch. Es ist, als wenn ich bis ins Innerste sorgsam erwärmt, belebt und gestärkt würde. Und ich kann nicht anders: Ich halte meine Hände empfangend vor mich hin, damit mir nichts davon entgeht.

Wir stehen eine Weile, und die Helle wird noch heller. Da kommt eine Stimme von oben und zugleich von überall:

„Ich nehme dich an. Du bist nun mein. Und ich bin dein.“

Die Worte gelten mir! Ich bin bestürzt, erschüttert, überwältigt. Das geht weit, weit über mein Verstehen und Begreifen hinaus.

Gleich danach wird mir etwas in die Hände gelegt. Ich will hinschauen, aber da lassen mich Orgeltöne aufhorchen, die feierlich heranrollen. Erst sind sie noch mit Dissonanzen gespickt. Dann aber schwellen die Töne immer mehr an und werden zu einem gewaltigen Brausen mit triumphalen Harmonien. Das ist hinreißend, umwerfend und jagt mir Schauer über den Rücken. Und es hält eine ganze Weile an.

Dann irgendwann beginnt das Brausen abzuebben. Es steigt Stufe für Stufe zu immer leiseren Tönen hinunter. Zugleich fällt es immer mehr in sich zusammen. Schließlich hält die Orgel nur noch einen letzten und einzigen Ton etwas länger. Und dann verstummt sie.

Auch die Helligkeit über uns dimmt sich herunter. Sie wird immer mehr zu moderatem Licht. Und schließlich verlischt sie. Nur noch in den Wänden der Kirche hält sich etwas von der himmlischen Helligkeit ein wenig länger. Die Wände strahlen nach.

Nun schaue ich, was in meine Hände gelegt ist. Ich entdecke da ein kleines Schild. Und darauf prangt unübersehbar der Schriftzug „Arno“. Ab sofort ist das mein Name, das ist mir sofort klar. Und ja, ich finde ihn akzeptabel! Er liegt außerhalb der aktuellen Namensgebung. Doch er ist durchaus noch von dieser Welt. Und das gefällt mir.

Die beiden neben mir, die alles miterlebt haben, beglückwünschen mich. Sie sind sich einig: „Die Stimme, das war Gott!“

Gott? Das Wort ist bisher noch nicht gefallen. Es war immer nur vom Himmel die Rede. Und jetzt Gott? Mein Begleiter sagt: „Vorher hättest du mit dem Wort nichts verbinden können.“ Und mein Jo ergänzt: „Alles zu seiner Zeit! Und du musst sowieso noch in das hineinwachsen, was du gehört hast.“

Nun stehe ich tief durchdrungen und beglückt da. Ein leiser Schrecken ist allerdings auch noch dabei: Was war das denn nun wirklich? Wie gehe ich damit um? Ja, ich habe mal eine Probezeit ausgemacht. Aber jeder Gedanke daran scheint jetzt absurd. Ich wische ihn vom Tisch. Das gewaltige unbeschreibliche Ereignis ist über jeden Vorbehalt hinweggerollt.

Und was mache ich nun mit dem Erlebten? Mein Begleiter sieht meine Ratlosigkeit. Er animiert mich einfach zu einer ersten praktischen Konsequenz: „Viele Leserinnen und Leser des Buches sind dir bis hierher gefolgt. Sie sind auch jetzt mit dabei. Wie wär’s, wenn du ein paar Worte an sie richtest? Du hast sie noch nie gegrüßt.“

Was für ein verblüffender Gedanke! Er verwirrt erst. Doch dann erfasst mich ein eigenartiges Gefühl von Liebe. Und mir fließen die Worte zu:

„Ihr Lieben, dass ihr dies jetzt lest, ist überhaupt nicht selbstverständlich. Es ist schön, dass ihr bis hierher gefolgt seid! Ich begrüße euch von Herzen! Zudem wünsche ich euch, dass ihr schon jetzt bereichert seid. Und ich hoffe, ihr dürft noch weiteren Gewinn einfahren.“

Genau bei diesen Worten sehe ich eine Menge Menschen vor mir in der Kirche. Und ich weiß nicht: Sind sie tatsächlich da, oder sind sie nur innere Schau? Jedenfalls hören sie mir zu und blicken freundlich zu mir auf. Dann lächeln sie, winken und wenden sich zum Gehen.

Auch mein lichter Begleiter verschwindet. Und ebenso Jo. Ich stehe nun allein da und beobachte noch, wie die Wände ringsum ihr letztes himmlisches Licht verlieren. Dann verabschiede auch ich mich – mit einem Handkuss nach oben. Und nun schiebt sich langsam das Kirchendach wieder über den Raum. Und damit zugleich über alles, was ihn eben noch erfüllt hat.

Diese Erfahrung, dieses ungeheure Erlebnis bleibt mir eingraviert und unauslöschlich.

10. Himmlischer Frieden

Vor mir ein altes malerisches Stadttor. Es hat etwas Anheimelndes. Mit meinem lichten Begleiter stehe ich da. Er fragt mich, wie es mir denn nun geht nach dem einschneidenden Ereignis. Und ich gestehe: Ich fühle mich immer noch durchgerüttelt. Jetzt weiß ich erst recht nicht mehr, wer ich bin und wofür ich eigentlich existiere.

Mein Begleiter daraufhin: „Du kannst dich jetzt hinsetzen und die Beine baumeln lassen. So lange, bis in deinem Kopf – vielleicht – etwas Ordnung einkehrt. Du kannst aber auch erfahren, wer du bist, in dem du etwas tust und Menschen gegenübertrittst.“ Aha. Gut, da entscheide ich mich fürs Tun! Und mein Begleiter sagt: „Dann komm!“

Wir gehen zum Tor. Da steht zu meiner Überraschung die Martina. Wir begrüßen uns freundlich, aber auch leicht distanziert. Mein Begleiter sagt: „Ihr kennt euch ja schon. Heute werdet ihr beide gebraucht. Gehen wir!“ Was das wohl für ein Einsatz wird?

Zu dritt gehen wir durch das Tor. Direkt dahinter steht ein größerer Pulk von Menschen. Für sie ist mein lichter Begleiter – wie auch sonst immer – nicht sichtbar. Aber auch schon für mich und Martina bilden sie respektvoll eine Gasse.

Von den Seiten hören wir: „Seid ihr die, auf die wir warten?“, „Was habt ihr für uns?“ oder „Wir sind gespannt!“ Wir werden also mit einiger Neugier erwartet. Oder womöglich auch mit Hoffnung?

Mein lichter Begleiter geht uns voraus. Er steigt vor uns auf den erhöhten Rand an einem leicht abschüssigen Platz, und wir folgen ihm dahin. Dort stehen wir etwas über den Menschen, und die schieben sich unter uns zusammen. Es sind vor allem ältere Menschen. Mein Begleiter schlägt Martina vor, sich die Kümmernisse der Menschen unten anzuhören und – wenn nötig – ihnen Mut zuzusprechen. Martina schaut erst etwas irritiert, dann lässt sie sich ohne nachzufragen auf den Vorschlag ein und steigt hinunter.

Mich dagegen schiebt mein Begleiter nun etwas nach vorn. Ich soll zu den Menschen sprechen. Aber worüber denn? Er gibt mir den Tipp: Erst einmal fragen! Also frage ich noch eher unsicher und scheu: „Wie geht es euch? Welche Probleme habt ihr?“

Einen Moment Stille, dann Gemurmel, dann Worte, die sich steigern, bis es richtig laut wird und kaum noch etwas zu verstehen ist. Ich hebe die Hand und rufe nun einigermaßen energisch: „Bitte einer nach dem andern! Einer nach dem andern!“ Die Welle ebbt ab. Und nun wird mir einzeln zugerufen.

Dabei geht es etwa um Schmerzen oder Schwindel. Um Glieder, die nicht so wollen, wie sie sollen. Um Ohren und Augen, die ihren Dienst nur mangelhaft tun. Und manches an körperlichen Härten oder intimeren Leiden kommt sicherlich gar nicht erst auf den Tisch.

Und dann sind da noch andere Kümmernisse: „Meine Miete ist zu teuer.“ Oder: „Meine Rente reicht nicht.“ Oder: „Ich bin zu viel allein.“ Und auch: „Meine Kinder kümmern sich nicht um mich.“

Martina nimmt derweil ihren Einsatz recht ernst: Ich sehe, sie erkundigt sich offenbar bei Menschen, wo sie der Schuh drückt. Und sie ermuntert auch mal mit einer Handbewegung dazu, ein Problem nach oben zu geben und mir zuzurufen.

Allerdings liegt über allem eine Atmosphäre von Unruhe, Unsicherheit und Ängstlichkeit. Und die weicht nicht dadurch, dass drückende Probleme benannt und aufgelistet werden. Das verstärkt eher noch die trübe Stimmung.

Da aber kommt unerwartet Erbarmen in mir auf. Ein Erbarmen, das mir fremd ist. Es kommt nicht aus mir selbst, sondern fließt mir von woanders her zu. Und nun staut es sich in mir.

Doch was kann ich tun für die Menschen? Ich wende mich um und frage wieder meinen Begleiter. Der gibt mir zurück, ich solle den Menschen Frieden anbieten. Wie bitte? Da erläutert er mir kurz: Er will jeden hier mit einem ganz besonderen Frieden bedenken. Und er sagt, dass jeder, der will, ihn bekommen kann.

Ich weiß nicht, wie das gehen soll. Aber mein Begleiter wirkt so überzeugend, dass ich ihm geradezu blind vertraue. Und nun gebe ich sein Angebot weiter. Ich sage, nein, rufe: „Wisst ihr, jetzt könnt ihr einen ganz besonderen Frieden bekommen!“ Und dann sprudeln einfach die Worte aus mir heraus: „Es ist ein Frieden, der Angst und Anspannung nimmt. Ein Frieden, der Sicherheit und Entspannung gibt. Ein Frieden, der tiefe Ruhe schenkt. Ein Frieden, der sogar heil machen kann. Es ist ein durch und durch himmlischer Frieden! Wollt ihr den haben?“

Die Leute sind unsicher. Schauen sich gegenseitig an, als fragten sie sich: Ist das alles? Sind wir dafür extra hergekommen? Begeisterung sieht anders aus.

Immerhin keine Buh-Rufe. Aber ich muss noch unbedingt nachlegen: „Ja wirklich, es gibt einen besonderen himmlischen Frieden! Und ihr dürft tatsächlich Ungewöhnliches, vielleicht sogar Unerhörtes erwarten. Aber ihr müsst diesen Frieden ernsthaft haben wollen. Probiert es doch einfach aus!“ Und ich fordere die Menschen auf: „Wollt ihr diesen besonderen himmlischen Frieden haben, dann hebt dafür als Zeichen die Arme, streckt sie hoch zum Himmel und schließt die Augen!“

Ich warte, was geschieht. Arme gehen zögernd hoch. Und dann sehe ich etwas, was mich zutiefst verblüfft: Mein lichter Begleiter hat sich inzwischen hinunter zu den Menschen begeben. Und da legt er jedem, der die Arme hebt, seine Hand auf die Schulter. Zwar nur ganz kurz, denn es werden immer mehr, die sich besonderen Frieden wünschen. Aber er schafft es, jedem Willigen in merkwürdiger Ruhe und doch ganz schnell die Hand aufzulegen. Fast scheint es so, als sei er überall zugleich.

Dabei ist auffällig: Berührt mein Begleiter Menschen an der Schulter, hellen sich ihre Gesichter auf und entspannen sich. Zugleich beginnen ihre Arme zu sinken. Es ist offensichtlich: Bei immer mehr Menschen lassen Anspannung und Unruhe nach. Es breitet sich immer mehr friedliche Stille aus. In viele Herzen zieht himmlischer Friede ein.

Ich ermuntere die Menschen immer wieder, ganz bewusst zu fühlen. Sie sollen wahrnehmen und spüren, was sich in ihnen tut. Sie sollen aufmerksam erleben, wie der besondere Frieden sie durchdringt. Und sie sollen möglichst viel davon festhalten und in ihr Zuhause mitnehmen.

Dann sinken langsam immer mehr Arme herab, und immer mehr Augen öffnen sich. Hat es bis hier drei Minuten gedauert oder fünf oder mehr? Ich habe kein Zeitgefühl. Aber die Menschen sind tatsächlich viel ruhiger geworden, friedlicher. Und teilweise schauen sie leicht erstaunt um sich, als sei alles um sie herum neu.

Schließlich bitte ich alle, in Ruhe in die Realität zurückzukommen. Dabei sollen sie darauf zu achten, dass der Friede in ihnen bleibt. Und wenn ihnen danach ist, können sie sich, von diesem Frieden getragen, in aller Stille auf den Weg nach Hause machen. Langsam lösen sich nun die Ersten aus der Menge.

Martina war bis jetzt immer wieder in Gespräche verwickelt. Gelegentlich habe ich ihr kurz zugeschaut. Nun aber ist sie plötzlich weg. Sie ist wie vom Erdboden verschluckt. Offensichtlich hat sie ihre Aufgabe jetzt richtig gut erledigt. Zumindest würde ich ihr gern dieses Zeugnis ausstellen, aber sie holt es sich nicht mehr ab.

Mein lichter Begleiter kommt wieder zu mir. Und ich möchte wissen: „Wie sind die Menschen eigentlich hergekommen?“ Er erklärt: Einige hatten plötzlich im Kopf, jemand hätte sie dringend zu einem Treffen am Stadttor eingeladen. Sie haben auch gleich noch andere mitgebracht. Und er lacht: „Gott hat die unmöglichsten Wege!“

Damit ist das Wort „Gott“ gefallen. Ich erinnere meinen Begleiter daran, dass er früher immer vom „Himmel“ gesprochen hat. Ja, meint er, aber inzwischen wüsste ich mehr, und jetzt sei einfach Klartext dran: „Gott ist der Macher und zieht die entscheidenden Fäden.“

Und noch etwas ist für mich offen: „Wie viel nehmen die Menschen von hier wirklich mit?“ Mein Begleiter versichert, das sei bei vielen mehr, als ich vermuten würde. Es würde oft tatsächlich einiges hängen bleiben – zumindest im Unterbewussten.

Damit ist nun meine so verblüffende und zugleich lohnende Aufgabe beendet. Ich bin sehr zufrieden und bin auf diese Weise selbst mit einem ganz eigenen Frieden beschenkt.

11. Himmlisches Versprechen

Eine Lichtung inmitten von hellen Nebeln. Alles ist verschluckt, was Orientierung geben könnte. Aber durch wabernde Schleier hindurch deutet sich leicht die Sonne an.

Keine Ahnung, wohin es mich jetzt verschlagen hat. Ich habe zwar keine Angst. Und ich fühle mich auch nicht durcheinander und verstört. Doch die Situation ist schon auflösungsbedürftig!

„Erschrick nicht!“ sagt nun eine Stimme von irgendwoher. „Ich bin’s.“ Die Stimme kenne ich doch – ja, aus der Kirche! Ist es Gott? Es kann nicht anders sein: Ja, er ist es wirklich!

„Du warst mutig und hast deine Sache gut gemacht! Ich werde dir mehr anvertrauen.“ Ein Lob. Völlig unerwartete Aufmerksamkeit von höchster himmlischer Ebene für mich. Und ein erhebendes Versprechen. Ich weiß absolut nicht, wer Gott ist, aber ich fühle mich zutiefst wahrgenommen und mit Feingefühl behandelt.

Die Stimme ermutigt, stärkt, hebt.

Oder habe ich doch noch feine Zweifel am Ursprung dieser Stimme? Ich erlaube sie mir nicht und halte sie mir vom Leib!

12. Göttliche Aufgabe

Ich finde mich in einem großen, lichten Raum wieder. Die eine Seite beherrschen wohlgeordnete Bücherregale. Auf der anderen Seite ist ein gut dimensionierter Bildschirm unübersehbar. Er ragt aus einer kreativen Ansammlung von Arbeitsgeräten, Blätterstapeln und sonstigen Utensilien hervor. Dies hier ist offensichtlich ein Arbeitszimmer.

Mitten drin sitzt an einem niedrigen Tisch Jo, unser Autor und Berater. Im Sessel gegenüber hat er Martina platziert. Beide haben mich erwartet und begrüßen mich mit einem Guten-Morgen-Lächeln. Und Jo bedeutet mir, ich solle mich doch rechts von ihm setzen. Er meint scherzhaft: Er sei Rechtshänder und hätte mich da – als mein Autor – besser im Griff.

Jo dann: „Ich wollte euch mal mein Arbeitszimmer zeigen.“ Und mit einer rundum weisenden Geste fügt er hinzu: „Hier ist euer realer Geburtsort. Und von hier aus steigt ihr jeden Tag neu in euer Leben als Buchfiguren ein.“

Wie geht man mit solch einer Eröffnung um? Ich jedenfalls frage: „Und an welchem Ort bekommst du die Ideen zu uns?“ Jo: „Genau hier, wo ich jetzt sitze und einen weiten Blick in die Landschaft habe.“ Martina darauf: „Schwebt dann ein Heiligenschein über dir?“ Was Jo wiederum zu der Frage animiert: „Darf ich dich mit dieser Bemerkung ins Buch aufnehmen?“

Wir lachen. Es ist unbegreiflich kurios, einen Ort zu besichtigen, an dem man selbst Stück für Stück per Tastatur zum Menschen wird. „Und jetzt, Jo“, sage ich, „möchte ich von dir gern eine gerade Nase erhalten.“ „Aber zu deiner Nase habe ich doch noch nichts gesagt!“ „Ja, eben drum!“ Und Jo erhebt sich tatsächlich, geht an seinen Arbeitsplatz, stellt sein Gerät an, wählt die Datei aus, in der wir gespeichert sind, und schreibt hinein: Arno hat eine gerade Nase. Und tatsächlich: Wenn ich jetzt mit dem Finger über meine Nase fahre, spüre ich: Mein Nasenrücken ist nun wunderbar gerade.

„Aber damit das noch einmal klar ist“, meint Jo jetzt sagen zu müssen, „euer Schöpfer ist Gott! Er gibt mir euch und eure Aufgaben und Erlebnisse ein. Und ich gestalte dann alles so, dass es möglichst weitgehend Gottes Ideen entspricht und dass es zugleich gut lesbar ist. Ich bin sozusagen euer Verfertiger.“

„Weißt du denn schon im Moment weiter? Ist bereits eine neue Idee da?“ will Martina wissen. Und Jo: “Ich denke, ich sollte euch jetzt darauf vorbereiten: Gott möchte, dass ihr in Zukunft als Team arbeitet. Das ist Gottes Idee von euch.“

Martina und ich schauen uns an. Ich meinerseits weiß, ich mag sie. Und Gottes Idee gefällt mir. Aber wie ist es mit ihr?

Martina stellt nun fest: „Arno, du warst gut beim Stadttor. Die Leute sind dir voll Vertrauen gefolgt.“ Ich denke, sie meint das als Lob. „Und du, Martina,“ sage ich daraufhin, „hast dich da mit viel Verständnis um einzelne Menschen gekümmert.“ Es ist schön, dass ich ihr das jetzt noch sagen kann. Beim Stadttor hatte ich nicht mehr die Chance – sie war so schnell weg.

Wir beide spüren nun: Ja, es könnte gut miteinander gehen. Und wir lächeln uns erwartungsfreudig an.

„Und was ist jetzt unsere Aufgabe?“ ist die nächstlogische Frage von mir. Jo will aber erst noch einen Schritt zurück: „Seid ihr denn beide wirklich bereit zur Teamarbeit?“ Wir sollen ihm das ausdrücklich bestätigen. Und er bekommt nun ein kräftiges doppeltes Ja von uns.

„Gut, dann bereite ich euch auf eure nächste gemeinsame Aufgabe vor!“ sagt Jo. „Ihr beide habt schon erlebt, dass Gott direkt zu euch spricht. Aber Gott begegnet in dieser Weise nur wenigen Menschen. Was dagegen häufiger passiert, das ist: Dass Gott durch äußere Umstände zu Menschen spricht. Und dass er ihnen auf diese Weise weiterhilft.“

Und Jo sagt: Als Nächstes würde Gott uns nun Menschen in den Weg schicken, denen er sich zeigen möchte. Und wir sollen diese Menschen darauf vorbereiten.

Damit verabschiedet uns Jo. Und wir freuen uns auf vielleicht außerordentliche und beeindruckende Begegnungen mit bemerkenswerten Menschen.

13. Göttliche Begegnungen

Martina und ich finden uns auf einem Parkplatz vor einer Kirche wieder. Da wartet ein grünbrauner Bus. Und ein bunter Haufen von Menschen steht drumherum. Wir selbst befinden uns schon direkt am Bus.

Die Tür des Busses klafft plötzlich neben uns auf: Das ist das Startsignal zum Einsteigen. Martina und ich machen nur zwei, drei Schritte, und schon sind wir drin. Spontan trennen wir uns und setzen uns an gegenüberliegende Fenster. Neben mir bleibt der Sitz frei. Dagegen lässt sich eine Frau auf den Platz neben Martina fallen und seufzt: „Gerade noch geschafft!“

Die große Frage ist nun: Wo sind wir hingeraten? Was sollen wir in diesem Bus? Schließlich ergreift der Reiseleiter das Wort. Und dann wird klar: Das Ziel ist ein idyllisch gelegenes Kloster. Von gemeinsamem Essen bis zur Besichtigung von Klosterbetrieben ist bereits alles geplant. Und ach ja: Bei der hauseigenen Führung durch die Klosterkirche wird auch noch ein Geheimnis gelüftet, das sonst den normal Neugierigen vorenthalten bleibt.

Martina spricht die Frau neben sich an. Ein Gespräch entwickelt sich – erst leise, dann angeregter. Trotz höherem allgemeinem Geräuschpegel filtern meine Ohren noch einiges heraus. Die Frau will sich mit der Fahrt etwas ablenken. Sie hat einen schweren Verlust erlitten: Ein Unfall hat ihr den Jungen weggerissen. Und nun liegt ihr besonders viel an der Klosterkirche. Vielleicht kann sie da, so hofft sie, einiges von ihrem bohrenden Schmerz und von der anhaltenden Trauer in höhere Hände legen.

Da ist sie nun bei Martina gut aufgehoben: Die ermutigt sie, tatsächlich auf ein Stück Befreiung zu setzen. Denn bei tiefer Sehnsucht sei man näher an einer Erlösung, als wenn man mit oberflächlichen Wünschen daherkommt. Und Martina legt ihr noch zusätzlich als warmen Zuspruch die Hand auf den Arm.

Es folgt einiges Schweigen. Und dann rückt die Frau unvermittelt mit einem Traum heraus – weil er schon mal zu einem Stück Erlösung führte. Es ist bereits lange her, berichtet die Frau, da hat ihr eine lichte Gestalt nachts klargemacht: Sie würde sich ihr Leben spürbar erleichtern, wenn sie sich von ihrem Freund verabschieden würde. Sie war zu der Zeit von ganzen Beschwerdebündeln geplagt. Erst schob sie die Trennung weit von sich. Aber als es dann zu immer neuen Schmerzgipfeln kam, schien der Abschiedsschmerz das geringere Übel zu sein. Sie nahm ihn in Kauf. Und siehe da: Von nun an verflüchtigten sich immer mehr ihre Beschwerden, und das Lachen kehrte langsam zu ihr zurück.

Eine andere Frau mischt sich ein – sie sitzt auf dem Platz davor: Ja, sie hätte auch schon heilsame Eingebungen erlebt. Und sie belegt das mit verblüffenden Erfahrungen. Damit wird übernatürliches Erleben um Martina herum zum faszinierenden Gesprächsstoff. Und auch die Reihe hinter ihr regt das Thema zum Austausch an.

Vor mir sitzt ein Mann allein am Fenster. Plötzlich dreht er sich um und meint zwischen den Kopfstützen hindurch zu mir: „Für mich ist Religion Quatsch! Aber manchmal beneide ich die Leute, die an Höheres glauben.“ Ich gestehe ihm unumwunden: „Ich gehöre zu diesen Leuten! Und mir gibt der Glaube an Höheres ungeheuer viel.“ Es dauert nicht lange, und der Mann sitzt direkt neben mir. Und wir suchen und sortieren nun die Vor- und Nachteile, die es haben kann, wenn man an einen wohlwollenden Gott glaubt, der in allem waltet.

Nebenan meint nun Martina ziemlich kühn zu den Frauen um sie herum: Jede von ihnen könne heute ein besonderes Erlebnis haben. Eins, in dem ihnen Gott begegnet. Sie sollten einfach nur erwartungsvoll die Augen offenhalten. Ich frage mich sofort: Woher nimmt Martina das? Damit legt sie Jos Worte ziemlich kühn aus. Die Gesichter der Frauen wechseln jedenfalls erst einmal von Skepsis zu Hoffnung – und dann auch teilweise wieder zurück.

Martinas Ankündigung nehme ich dann aber auch als Steilvorlage für mich. Ich rege den Mann an, ja dränge ihn eigentlich schon, für eine kleine Gottesbegegnung offen zu sein. Und zwar nach dem Motto: Nicht theoretisch über Gott denken und reden, sondern praktische Erfahrung mit ihm sammeln! Natürlich leistet er skeptisch hartnäckigen Widerstand. Aber immerhin: Aus Neugier will er sich dann doch eine gewisse Offenheit leisten.

Bei der Ankunft können wir es dann nicht besser treffen: Sonne auf den Klosterdächern. Leicht gewellte Weiden und Wälder in Sattgrün drumherum. Ein kleiner See in Sichtweite. Eine Gegend, in der man stundenlang und kilometerweit Auslauf hat und wo man Natur pur in sich hineintrinken kann.

Wir setzen uns gleich von der Busgemeinschaft ab. Denn der Reiseleiter will anders als wir. Und für uns ist erst einmal die Klosterkirche dran. Es ist nun die zweite Kirche, die ich erkunden kann. Drinnen flutet die Sonne den Raum eindrucksvoll durch die Fenster. Ihre Lichtstreifen fallen schräg auf Säulen und Bänke, und sie heben wahllos sowohl markante als auch reizlose Einzelheiten hervor. Zugleich ist der übrige Rest der Kirche zu dunkler und demütiger Zurückhaltung und Bescheidenheit verurteilt.

Doch wenn meine Augen konzentriert auf die Suche gehen, lässt sich schon noch einiges aus dem Dunkel herausschälen. Und so kann ich mit durchdringendem Blick durchaus manche kunstvolle Kostbarkeit aufspüren.

Allerdings ist mein Interesse dafür nur begrenzt. Hier möchte ich vor allem eins: Gott erreichen. Oder besser: Hier für ihn erreichbar sein. Er hat schon woanders zu mir gesprochen, aber bisher am eindrucksvollsten in einer Kirche. Vielleicht wartet er hier auch schon auf mich?

Martina teilt das Anliegen mit mir. Wir suchen uns eine Bank aus, und da geht jeder für sich in die Stille. Erst blicke ich noch etwas zerstreut um mich. Aber die dunklen Schatten in der Kirche ziehen meine Gedanken an und saugen sie ab. Damit macht sich bald in meinem Kopf angenehme und erwartungsvolle Leere breit. Und meine Augen schließen sich wie von allein.

Und dann ist tatsächlich eine Stimme da. Sie fragt in mir: „Bist du zufrieden?“ Ich habe auf diese Stimme gehofft, und da ist sie nun! Aber es ist erstaunlich: Da erkundigt sich jetzt der große Gott bei mir kleinem Menschlein nach meinem Befinden! Was für eine Aufmerksamkeit, Zuwendung und Zuneigung für mich! Ich muss mich erst fassen. Und dann kommt ganz deutlich mein „Ja!“ Ich schreie es schon fast heraus aus überquellendem Herzen. Und ich bedanke mich gleich dafür, die wunderbare Martina neben mir haben zu dürfen.

Mir fällt nun das Geheimnis der Kirche ein, von dem der Reiseleiter sprach. Interessiert es mich? Nein, ich habe gerade Besseres erlebt. Stattdessen zieht es mich nun nach draußen.

Ich blicke zu Martina hin. Sie erwartet schon meinen Blick. Und mit einer Handbewegung frage ich: Rausgehen? Sie nickt. Wir erheben uns.

Und nun nichts wie raus in Sonne! Und dahin, wo das Sonnenlicht von keinem Kirchenfenster mehr gefiltert wird. Draußen lassen wir uns dann die Sonne vorangehen. Wir folgen ihr mitten in die Natur hinein. Und wir entdecken dabei: Dort, wo diese Natur zu besonders großartiger Form aufläuft, da stehen freundlicher Weise immer Bänke. Sie lächeln uns an und heißen uns herzlich willkommen.

Aber bevor wir uns für eine Bank entscheiden, hebt schon auf einer dieser Bänke eine Frau ihre Hand. Und sie spricht uns an. Wir erfahren: Bisher trug sie ein bitter schwelendes Problem mit sich herum. Im Bus hat sie bei Martina mitgehört und fühlte sich zur Lösungssuche ermutigt. Und genau hier auf der Bank hat sich jetzt tatsächlich eine hinreißende Idee eingestellt. Das muss sie unbedingt mit uns teilen. Sie sieht befreit und glücklich aus. Und Martina strahlt auch gleich mit ihr mit – denn da ist doch nun wirklich Gottes Hand im Spiel!

Nach einiger Zeit kommt ein Paar in Sicht, das langsam vor uns dahinbummelt. Manchmal bleiben beide kurz stehen. Als sie sich einander direkt zuwenden, erkenne ich meinen Mann wieder – den, für den Religion Quatsch ist. Und als wir bei ihm ankommen, stellt er uns seine Gesprächspartnerin vor: Eine Liebe von früher, deren Spur sich bisher für ihn in fernen Gefilden verlor. Nun treffen sie hier wieder aufeinander, erschüttert, entzückt. Und zugleich sind beide von früheren Bindungslasten befreit. Er schüttelt über dieses Zusammentreffen so erstaunt und verblüfft den Kopf, dass ich denke: Diese Begegnung kann er doch nur als heiße Zuwendung Gottes empfinden und deuten! Und er wird sein gottfreies Weltkonstrukt vielleicht noch einmal überdenken.

Gegen Ende unseres Aufenthalts ist noch der Buch-, Bild- und Andenkenladen ein Muss. Eine Frau entdeckt Martina, kommt begeistert auf sie zu und zeigt ihr eine Karte, die ihr gerade in die Hand gefallen ist: Darauf prangt das Bild einer sehr hoch springenden und dabei äußerst fröhlichen Frau. Und darunter steht: „Du darfst ganz du selbst sein!“ Diese Karte trifft sie mitten ins Herz, erklärt sie. Und sie hält es für möglich, dass sie genau für diese Karte hierher hat kommen müssen. Die Frau saß in der Reihe vor Martina. Und Martina strahlt nun ein weiteres Mal.

Schließlich läuft uns auch noch die Frau über den Weg, die ihren Jungen verloren hat. Die Augen der Frau leuchten so, dass sich alles Fragen erübrigt. Und die Frau bestätigt: Ja, ihr ist tatsächlich die große Schwere von der Seele genommen. Sie wurde getröstet, und die Trauer ist von ihr abgefallen. Nun fährt sie weithin befreit nach Haus. Martina umarmt sie – oder aber die Frau umarmt Martina. Egal, es ist eine Umarmung, mit der beide Gott feiern!

Ist damit unsere Aufgabe erledigt? Doch da fällt uns noch jemand ein: Nämlich du Mensch, der du dies liest! Vielleicht gibt dir Gott selbst mit diesen Zeilen einen Wink. Vielleicht hat er vor, sich dir in einer Weise zu zeigen, dass dir das Herz hüpft oder dass sich deine Seele in göttlicher Wärme räkelt …..

So, nun gehen wir aber noch zum Reiseleiter, melden uns ab und wissen, dass der Bus ein paar Menschen glücklicher als auf der Herfahrt wieder nach Hause bringen wird.

14. Gebet im Tunnel

Wir sind zurück bei Jo. Es ist ein neuer Tag. Und wir berichten ihm begeistert vom Klosterbesuch und den Begegnungen, die sich uns eingeprägt haben. Sie bewegen uns noch. Und Jo freut sich mit uns über das Erlebte.

Dann aber kommt er zu etwas anderem, und er wirkt dabei sehr ernst. Wir hätten gerade eine Lichtseite des Lebens kennengelernt. Doch für die Menschen gäbe es auch Schattenseiten, und die seien manchmal recht dunkel. Heute könnten wir nun solch eine Seite kennenlernen – wenn wir denn wollen.

Wollen wir? Martina fragt: „Kannst du schon mehr dazu sagen?“ Jo bittet uns nun an seinen Bildschirm. Er zeigt uns das Bild eines Tunneleingangs. „Darin wird demnächst ein Unfall geschehen. Und ihr könnt dort Zeugen sein und zusehen, was das Leben manchmal Menschen zumutet.“

Die Vorstellung eines Unfalls in diesem Tunnel schlägt mir auf den Magen. Mit überdeutlicher Schwärze geht es da in den Tunnel hinein. Und darin nun zertrümmerte Autos, Blut und womöglich Tote? Da sind doch die üblichen Rettungsdienste zuständig – wozu gibt es sie denn!

Ich schaue Martina an: Auch ihr ist überhaupt nicht wohl. Ich frage sie: „Angst?“ Sie zögert und schüttelt dann mit dem Kopf: „Ich bin noch nicht vorbereitet“. So kann man es auch sagen.

Jo schweigt und wartet ab. Und wir schieben die Entscheidung vor uns her. Wir verstehen schon das Angebot als eine mögliche Aufgabe des Himmels. Aber wir müssen ja nicht jede Aufgabe annehmen – oder? Jo bestätigt uns: „Nein, müsst ihr nicht!“ Aber den Himmel zu enttäuschen, das tut vermutlich auch nicht so gut. Also: Wir wollen eigentlich schon. Zumindest wollen wir gern wollen!

Da legt sich eine lichte Hand auf Martinas Schulter. Und ihr Gesicht hellt sich auf. Auch ich spüre eine lichte Hand auf mir. Ich sehe sie aus dem Augenwinkel. Und diese Hand hat etwas: Ich fühle, wie ich darunter zuversichtlich werde. Sogar mutig. Und dann ist noch mehr da: Mitgefühl überkommt mich mit den Menschen, die es erwischen wird. Und ein Erbarmen macht sich in mir breit, das Tunnel, Tod und Trümmer einfach wegputzt.

Ich sage nun: „Ich kann mich darauf einlassen.“ Und Martina erwidert: „Ich auch. Machen wir’s?“ „Ja!“

Und Jo gibt uns noch auf den Weg: „Ihr seid absolut sicher. Und eure Aufgabe ist nicht, selbst mitzuhelfen – das können andere besser –, sondern mitfühlend dabei zu sein.“

Nun wird es dunkel um uns. Und wir finden uns in einer größeren Tunnelnische wieder. Darin stehen wir gut geschützt. Autos rauschen zweispurig und dicht hintereinander an uns vorbei. Im allgemeinen Getöse kann man gut heraushören: Die Tonhöhe des nächsten Wagens ist bis zu uns hoch und fällt dann rapide ab. Ich schreie nun Martina ins Ohr: „Von Unfall weit und breit keine Spur!“ Sie antwortet ebenso schreiend: „Wart’s ab. Es knallt noch!“

Und dann beobachte ich: Ein Stück vor uns schert ein Fahrer unvermittelt scharf aus zum Überholen. Und er übersieht einen Wagen neben sich. Es rumst. Und dann noch mehrfaches Rumsen. Das Dröhnen des Verkehrs sackt schlagartig ab: Rechts hören wir nun, wie Autos sich entfernen und immer leiser werden. Und links fallen die Motorengeräusche auf die Standdrehzahl ab. Da staut sich nun immer mehr.

Aus den nächstliegenden Wagen steigen Menschen aus, eilen zu den verunglückten Autos und versuchen zu helfen. Ein Mensch ist offenbar eingeklemmt und stöhnt. Weitere Menschen bluten. Und Kinder sind wohl auch betroffen. Wir drücken uns in der dunklen Nische an die Wand, um nicht wahrgenommen zu werden.

Innerlich höre ich nun: „Betet!“ Ich frage Martina, ob sie das auch hört. Sie nickt. Doch wie geht eigentlich Beten? Ich habe keinerlei Erfahrung damit. Und Martina ist auch nicht weiter, ich sehe es an ihrem Gesicht. Immerhin ist wohl klar, dass die Aufforderung von Gott kommt. Und er möchte nun gebeten werden? Ja gut! Nur welchen Inhalt soll unsere Bittbotschaft haben? Und wie und wo können Bitten an Gott wirklich Wirkung entfalten?

Langsam stellen sich Ideen ein. Und da wir nicht wissen, in welchen Bereichen ernsthaft Bedarf besteht, erscheint es am sinnigsten, eine möglichst breite Palette mit Bitten abzudecken. Ich bitte also, dass bei den Betroffenen die Schmerzen geringer werden, dass das Bluten nachlässt, dass die Helfer das Notwendige erkennen, dass sie dann auch die richtigen Handgriffe machen und dass die Betroffenen schließlich möglichst wenig seelisches Nachbeben haben. Und Martina erspürt mit ihrem Mitgefühl weitere mögliche Bedarfsfelder, die sie mit Bittgebeten ebenfalls abdeckt.

Ein starkes Gefühl von Erbarmen ist da. Es drängt einfach zu Bitten und Gebet. Und es ist eng mit dem befreienden Empfinden verbunden, überhaupt etwas tun zu können und auch etwas auszurichten. Letztendlich hat das sogar etwas dezent Erfüllendes und leicht Beglückendes.

Nach sehr langer Zeit erscheint erst der Notarzt. Und auch gleich noch der Rettungsdienst mit mehreren Wagen. Wir schauen ihnen noch eine kleine Weile zu bei ihrem Tun. Dann sagt uns etwas: Unser Teil ist erledigt.

Prompt sind wir zurück bei Jo. Und er nimmt uns wieder in Empfang. Er fragt: „Wie geht es euch jetzt?“ Ich empfinde im Grunde genommen ein gutes Stück Zufriedenheit. Zwar ist mir das peinlich angesichts des Leids der Menschen, das wir gesehen haben. Aber ich gebe es offen zu. Und Martina empfindet ähnlich.

Ich habe nun eine Frage an Jo: „Warum eigentlich waren wir schon da, bevor der Unfall passierte? Es hätte doch auch später gereicht?“ Er meint: „Eure Anwesenheit bereits vor dem Unfall könnte Schlimmeres verhütet haben.“ Und er sieht es so: Wir hätten ja vorher göttliche Liebe und Kraft empfangen. Das könnte sich bis ins Materielle hinein auswirken. Denn es hätte durchaus mehr passieren können wie etwa: Ein Wagen fängt Feuer. Oder gar ein Kind fliegt durch die Luft.

Martina schaut mich an: Glaubt Jo wirklich an solche Kraft? Aber der ist schon weiter und kommt nun zum Gebet. Und seine Sicht ist: Gebet hilft immer!

Denn zunächst einmal bringt Gebet einen selbst weiter. Man kann so Dinge abladen, die auf die Seele drücken. Man kann sie in die Hände eines wohlwollenden Gottes legen. Das entlastet, macht freier und hebt die Stimmung.

Und betet man für andere, kann man auch noch persönlich dabei profitieren: Denn beschenkt man andere im Gebet mit Mitgefühl und Erbarmen, kann einem das selbst gut tun. Das kann sogar manchmal beglücken. Und Jo verweist darauf: Das hätten wir doch gerade erlebt.

Aber vor allem: Natürlich kann Gebet auch wirklich den Menschen helfen, denen es gilt. Und wenn es tatsächlich sichtlich erfolgreich ist: Dann kann das tief befriedigen. Vielleicht sogar lässt das innerlich einen kleinen triumphalen Gipfel erleben.

„Aber solch ein Gipfel war euch wohl nicht vergönnt?“ fragt Jo. Wir können nur den Kopf schütteln. „Aber ich denke schon, dass euer Gebet Schmerzen, Blutungen und Seelenschäden verringert hat. Und wer weiß: Vielleicht konnten so Notarzt und Rettungsdienst etwas schneller auf der Bildfläche erscheinen.“

Dann aber fällt Jo noch etwas Grundsätzliches ein, und er schiebt nach: „Ganz schlechte Aussichten hat übrigens ein Gebet, das nur eigene Gelüste, Wehwehchen oder engstirnige persönliche Interessen im Auge hat.“

Und damit schweigt Jo. Er schaut in die Landschaft hinaus und versinkt offenbar in Gedanken. Als er innerlich zurückkommt, lächelt er und sagt: „Übrigens: Gott dankt euch für euren Einsatz!“ Und er fügt noch hinzu: „Ja, Gott ist tatsächlich Menschen dankbar. Und gelegentlich will er ihnen das auch unbedingt sagen – so wie gerade euch!“

Und damit überlässt uns Jo nun unseren eigenen Gedanken.

15. Nächstenliebe auf dem See

Wir wollten einmal nur miteinander Zeit verbringen, Martina und ich. Und zwar bei einer Bootspartie. Jo fand das eine gute Idee und hat uns finanziell dafür ausgestattet.

Nun stehen wir auf einem Bootssteg bei dem gemieteten Boot. Wir einigen uns: Ich rudere zuerst, und Martina sitzt hinten im Boot auf der Bank. Und damit geht es lachend ans Einsteigen. Das Boot wackelt zwar ziemlich unkontrolliert, und es ist ungewohnt, seine Bewegungen mit eigenen Bewegungen ausgleichen zu müssen. Aber dann ist der Einstieg geschafft. Und der Bootsvermieter gibt uns noch einen mächtigen Stoß hinein in den See.

Erst einmal bin ich dran, mit den Rudern zurechtzukommen. Und da planscht und spritzt es immer wieder. Martina begleitet mich dabei mit Anfeuerungsrufen – lachend und lobend. Bald aber rudert es sich fast wie von allein. Und das Boot schiebt sich immer weiter in den See hinaus in Begleitung einer angenehmen Sonne.

Beim Rudern sitze ich mit dem Rücken in Fahrtrichtung. Ich habe so Martina ständig im Blick – und sie mich. Sie dirigiert mich, wenn ich rechts oder links überziehe und vom Kurs abkomme. Wir wollen in die Mitte des Sees. Wir wollen möglichst viel Abstand von allem.

Dort lasse ich dann die Ruder fallen. Und nun ist viel Zeit, einfach nur das Dasein mitten auf dem See zu genießen. Oder es vielleicht auch mit lockerem Plausch oder Wesentlicherem zu würzen.

Nach einigem leichten Geplänkel kommen wir zu Ernsterem: Was macht es mit uns, eine besondere Sorte von Mensch zu sein? Wir stehen höchstens mit einem Fuß im normalen Leben – und das auch nur ab und an. Und ich bekenne: Darüber habe ich mich schon mal heftig beklagt. Ich fand es mehr als unfair, ungefragt in solch ein Leben hineingestoßen zu werden.

Aber dann füge ich ziemlich eilfertig hinzu: Jetzt aber, da Martina da ist – nun ja, da fühlt sich das Leben schon etwas voller und runder an. Und das meine ich ganz ehrlich.

„Aber fühlen wir uns wirklich wohl unserer Haut?“ denkt Martina laut. Und meint dann: „Wir sind doch Flachwurzeler, wenn wir uns mit den Menschen ringsum vergleichen!“ Denn die haben Kinder, Eltern, Haushalt, Beruf und sonstige Pflichten. Sie schlagen sich oft nur mit viel Mühe durchs tagtägliche Leben. Und manchmal gibt es noch eine gute Portion Schmerz und Leid obendrauf. Jahr um Jahr kämpfen sie sich dann durch ein schier endloses Leben voran. Und am Ende steht trotz aller Anstrengung immer der Tod.

Und nun fragt Martina: „Weißt du eigentlich, wie wir mal enden werden?“ Ich rate: „Einfach nicht mehr ins Bewusstsein treten?“ „Und unsere Körper gehen ins Nichts?“

Nein, wir wissen es nicht.

Auch schon jetzt ist uns schleierhaft, wo wir zwischendurch sind: Also dann, wenn unser Bewusstsein erlischt und wir erst am nächsten Tag wieder in der Welt auftauchen. Ist das ein vorläufiges Nichts?

Ein anderes Boot ist in Hörweite. Darin tobt plötzlich das Leben: Mann und Frau schreien sich an. Wir beide gucken hin und hören erstaunt zu: Richtig, im tagtäglichen Leben gibt es ja auch Bosheiten, Streitereien und Kämpfe unter den Menschen!

„Können wir eigentlich auch streiten?“ frage ich Martina. „Sollen wir’s mal ausprobieren?“ fragt sie zurück. Ach nein, danke! Und könnten wir das überhaupt?

Wir schweigen eine Weile. Martina sitzt da mit geschlossenen Augen. Sie hängt anscheinend ihren Gedanken nach. Schließlich öffnet sie die Augen und schaut mich länger an. Und sagt schließlich: „Ich habe für dich gebetet.“ Ich bin erstaunt. Ich bin gerührt. Und habe das Gefühl: Das erhebt mich, macht mich leichter.

Und Martina weiter: „Auch für die habe ich gebetet, die uns im Buch kennenlernen. Es floss durch mich hindurch und zu ihnen hin.“ An was sie alles denkt! Und oh, da sollte ich mich doch gleich anschließen. Und ich denke auch intensiv bittend an Martina und all die, die uns beiden mit ihren Augen und Gedanken folgen.

Doch dann zurück auf den See: Martina möchte jetzt rudern. Wir tauschen die Plätze und schlängeln uns aneinander vorbei. Bloß nicht zu sehr kippeln und womöglich ganz mit dem Boot kippen! Ausgerechnet hier mitten auf dem See zu prüfen, ob uns auch die Fähigkeit zum Schwimmen mitgegeben ist, das wäre mehr als leichtsinnig.

Dann sitzen wir uns wieder gegenüber – nur umgekehrt. Und Martina muss erst einmal üben. Mal taucht ein Ruderschlag zu tief ein. Mal wird ein anderer zum Luftschlag. Die Ruder gleichmäßig und sauber durchzuziehen, ist nicht einfach. Aber Martina wird immer besser darin. Dann macht sie plötzlich einen Ruderschlag, der mich nassspritzt. Angesichts ihres Fortschritts im Rudern ist das ganz sicher ein gezielter Schlag. Und ihr übermütiges Lachen verrät sie zusätzlich. Na warte!

Da hallt unerwartet ein „Hallo!“ über das Wasser. Aus dem Boot mit dem Streit winkt die Frau: Bitte kommen! Martina greift zu den Rudern und zieht jetzt ganz passabel durch. Als wir dicht heran sind, sehe ich: Der Mann sitzt auffällig starr auf der Ruderbank und dreht uns nur mühsam seinen Kopf zu. Ich frage rufend, was denn los ist. Die Frau ruft zurück: Ihr Mann habe einen Hexenschuss. Mit Rudern sei es bei ihm aus und vorbei. Und ich denke: Ja, Streit hat manchmal unübersehbare Folgen.

Was tun? Wir müssen wohl die beiden abschleppen. Aber Martina denkt erst einmal anders. Sie bugsiert unser Boot an das andere heran – nicht ganz ohne Anrempeln. Dann fragt sie: „Sie hatten Streit?“ Und da bricht es schon aus der Frau heraus: „Mein Mann muss immer alles bestimmen!“

Ihr Mann schweigt. Ihm ist offensichtlich die Situation äußerst peinlich. Martina sagt: „Wir können Sie abschleppen“, und schaut, ob ich dazu nicke. Auch die Frau ist damit einverstanden. Martina hat aber eine Bedingung: „Das geht nur, wenn Sie beide das wollen.“ Der Mann will aufbrausen, aber sofort durchzuckt ihn Schmerz. Da stöhnt er halb: „Wir setzen einen Notruf ab!“ Seine Frau dazu: „Gut, wenn du möchtest!“ Der Mann will nun tatsächlich nach seinem Smartphone greifen, zuckt aber schon wieder zusammen. Und ich sage: „Es kann aber dauern, bis Helfer da sind. Und dann müssen die auch noch ein Boot zu Wasser lassen, um bis hierher zu kommen.“

Nun liegt erst einmal allseitiges Schweigen über dem Wasser. Ich merke, ich muss dem Mann beispringen, ohne ihm die Situation noch peinlicher zu machen. Denn mir fällt meine persönliche Lektion in Sachen Scham ein. Und mir kommt: „Wenn Sie jetzt schnell am Bootssteg sind, sind Sie auch schnell beim Arzt.“ Ist das nicht ein gut annehmbares Argument? Beim Mann bewirkt es tatsächlich einen Sinneswandel. Und er nimmt unser Angebot an.

Aufatmen auf dem Wasser. Ich sage „Auf denn!“ und hangele mich Bootsrand an Bootsrand vor, bis ich eine Leine vorn beim anderen Boot erwische. Ich befestige die Leine hinten an unserem Boot. Und schon geht’s los als Schleppzug!

Martina taucht jetzt die Ruder ziemlich gleichmäßig ins Wasser. Und sie hat einen guten Zug drauf. Es geht besser als gedacht. Und als ich sie ablöse, merke ich selbst: Anderen zu helfen kann Kräfte freisetzen.

Am Bootssteg hilft der Vermieter dem lädierten Mann aus dem Boot. Irgendwie scheint der schon etwas beweglicher geworden zu sein. Seine Frau bedankt sich bei uns überschwänglich. Und ich denke: Hoffentlich lernt der Mann aus dem Geschehen, hoffentlich macht er seiner Frau in Zukunft das Leben weniger schwer.

Diese Bootspartie wird auf jeden Fall für den Mann und die Frau unvergesslich bleiben. Und ebenso für uns. Und ich merke: Jemandem erfolgreich geholfen zu haben, macht durchaus ein wenig glücklich.

16. Vergebung am Fluss

Ich bin allein unterwegs. Und ich stehe auf einer lebhaften Brücke mit Autogeschiebe und Fußgängergewimmel. Vor mir ein See, der sich – bis auf ein paar Boote darauf – unauffällig und still verhält. Am See eine Front mehrstöckiger Häuser auf der rechten Seite. Links Villen mit etwas hochnäsigem Blick aufs Wasser. Und die Brücke dazwischen zwingt beide Seiten irgendwie zueinander.

Genau unter der Brücke der Abfluss des Sees. Wie mag es aussehen, wenn dieser stille See auf Trab kommt und dabei von zwei engen Ufern zu einem Fluss zusammengepresst wird? Ich schlage mich durch zur anderen Seite der Brücke. Da beuge mich über das Geländer. Unter mir nun das Seewasser, das unter der Brücke Fahrt aufgenommen hat und sich eilig davonmacht. In seiner Flut wedeln langgezogene Fahnen von grünen Wasserpflanzen bedächtig hin und her. Und dazwischen stehen Fische in der Strömung, die sich mit sparsamsten Schwanzschlägen auf der Stelle halten.

„Hast du zufällig mal zwei Euro für mich?“ höre ich. Da bin wohl ich gemeint, und ich ziehe Kopf und Oberkörper hoch. Da steht ein Mann, leicht abgerissen und abgemagert. „Nein“, sage ich. Und ich ergänze ganz ehrlich: „Ich habe kein Geld dabei.“ Aber er wendet sich nun nicht ab, sondern scheint überrascht und schaut an mir hinunter und sagt: „Ach so!“ Ich folge seinem Blick an mir nach unten. Und oh, denke ich da, was habe ich denn heute an! Ja, da könnte er mich schon für seinesgleichen halten.

Wo ich übernachte? möchte er nun wissen. Ich gebe an: Nirgends. Er meint leicht aufdringlich, man muss doch irgendwo nachts bleiben. Ich darauf: Ich schlafe aber nie. Er wiederum: Das gibt es doch gar nicht! Ob ich etwa plemplem bin? Ich überhöre geflissentlich den abschätzigen Ton.

Zu meiner Überraschung sehe ich nun kurz eine lichte Hand auf seiner Schulter. Das heißt anscheinend: Ich soll mich mit dem Mann näher befassen. Und dann ist es wohl eine vertrauensfördernde Maßnahme, wenn ich ihm in meiner Kleidung kaum nachstehe.

Also frage ich den Mann, ob er ein stilles Plätzchen weiß, wo man ganz friedlich dem Wasser beim Fließen zuschauen kann. Oh ja, meint er, da hat er was. Und ob er mir das auch zeigen mag? Ja, er hat sonst nichts vor. Sein persönliches Selbstbeschäftigungsprogramm läuft ihm nicht weg.

Also bewegen wir uns ein kleines Stück flussabwärts, und da tut sich tatsächlich eine lauschige Ecke mit Bank auf. Wir setzen uns und schweigen eine Weile. Nun ist es an der Zeit, mal die Namen auszutauschen: Ich sage meinen, und er heißt Bruno. Er verrät dann auch, wo er übernachtet. Das ist gar nicht weit weg unter einem Felsüberhang. An einem richtig schön trockenen Plätzchen.

Wieder Schweigen. Dann wage ich es: Was ihn denn in diese Situation gebracht hat? Er: Ob ich das wirklich wissen will? Ich: Ja, ganz ehrlich und wirklich. Und so fängt er an mit der Frau, nach der er süchtig wurde – hinter dem Rücken seiner Angetrauten. Und wie dann alles aufflog und wie dann nicht nur seine eigene Frau, sondern auch die andere entschwand. Wie ihn das aus der Spur brachte, wie es ihm seinen Job vermasselte und auch die Zuneigung seiner Kinder kostete. Dann war bald an Wohnung und Auto nicht mehr festzuhalten. Immerhin war es zunächst wenigstens etwas abenteuerlich, bei Mutter Natur kostenfrei in Untermiete zu gehen.

Inzwischen ist nur noch Scham da. Und die ist so groß, gesteht er, dass er sich nicht mehr um eine neue Wohnung kümmert. Die Scham lähmt ihn regelrecht. Aber er kommt ja im Moment irgendwie durch. Ich frage: Welche Scham? Und ich erfahre: Er schämt sich zutiefst über das, was er seiner Frau und seinen Kindern angetan hat. Und dass er nun arbeitslos dahinvegetiert. Er ist ja jetzt einfach nur noch ein Penner.

Die Idee ist plötzlich da, ihn zu fragen: „Kannst du eigentlich dir selbst vergeben?“ Da schaut er mich groß an. Sich selbst vergeben – das war noch nie sein Thema. Er ist sich auch sofort sicher: „Das könnte ich nie!“ Ich darauf: „Und wenn dir deine Frau vergeben würde?“ Nein, das würde die nie tun. Bei den Lügenschlössern, die er ihr vorgegaukelt hat.

Ich gebe nicht auf: Wenn er nun aber Vergebung von einer ganz hohen Stelle bekäme – so einer, die über allem steht? Da kommt er ins Nachdenken. Er meint, das könnte vielleicht etwas haben. Und ich: Ob es für ihn Gott gibt? Ja schon – aber irgendwo weit weg und weit draußen. Und wenn dieser Gott nun eigentlich ganz nahe wäre und ihm vergeben würde? In seinen Augen glimmt etwas auf.

„Weißt du“, sage ich nun, „dieser Gott schickt mich extra zu dir. Er kann und will dir vergeben.“ Er schaut aufs Wasser, fragt: „Und was?“ Ich: „Na, alles!“ Er: „Das geht doch gar nicht.“ Ich: „Und ob das geht!“

Wie jetzt weiter, frage ich mich. Er braucht doch jetzt ein Zeichen des Himmels, ein Zeichen von Gott! „Pass auf“, sage ich, „ich mache dir einen Vorschlag. Du probierst es einfach aus: Du bittest Gott um Vergebung – am besten laut. Für alles Ungute und Schlimme, was du getan hast. Und dann schaust du, was mit dir passiert.“

Das ist gar nicht so einfach für ihn. Er fragt: „Was bringt das denn wirklich?“ Ich kann es ihm nicht sagen, ich weiß es auch nicht im Vorhinein. Ich denke nur laut: „Es ist immerhin eine Chance für dich. Und vielleicht verlierst du dabei die Scham, die dich zu Boden drückt.“ Erst zögert er weiter. Dann fürchtet er sich. Und dann wird ihm auch noch schlecht. Doch schließlich bringt er sie heraus: Die Bitte an Gott um Vergebung.

Ich schaue ihn an: Sein Gesicht verändert sich. Erst schaut er nur erstaunt, als geschähe ihm Unvorstellbares. Dann bricht ein Schrei voller Schmerz aus ihm heraus, ihm kommen die Tränen. Er jammert und stöhnt: „Das tut weh! Das tut weh!“

Es dauert eine ganze Weile, bis er sich schließlich beruhigt. Und da hellt sich sein Gesicht auf. Frieden kehrt nun offenbar bei ihm ein. Und irgendwann fängt er an zu lachen, immer befreiter. Und er stammelt: „Das gibt es doch nicht! Das gibt es doch nicht!“ Er schaut mich kurz an, schaut weg, schaut wieder her zu mir her – ein paar Mal.

Dann passiert höchst Verblüffendes: Der Mann reißt sich die Kleider vom Leib, springt nackt ins Wasser und lässt sich davontragen. Ich raffe seine Klamotten zusammen und gehe am Ufer mit ihm mit. An einer guten Ausstiegsstelle landet er an, geht ein paar Schritte und verschwindet in den Büschen unterhalb eines Felsens. Als ich ihm folge und ihn finde, trocknet er sich gerade ab. Es ist sein Übernachtungsplatz. Er wirft sich in frische Kleider, reckt und streckt sich und bemerkt höchst erstaunt: „Manchmal kann das Leben doch noch wunderbar sein!“

Dann besprechen wir, wie er an eine Wohnung kommen kann – als Neubeginn für alles. Seine Tante hat, so meint er, sicherlich ein Zimmer für ihn. Nur bislang hat er sich nicht getraut, ihr unter die Augen zu treten. Und nun ist die Scham weg? frage ich. Noch nicht ganz, meint er, aber der Mut ist da, das Leben neu einzutüten.

Damit verlasse ich Bruno.

Auf geht’s!

17. Überraschung mit Ausblick

Am nächsten Morgen warten Martina und ich im Arbeitszimmer auf Jo. Aber der erscheint nicht. Stattdessen klopft es, die Tür öffnet sich ein wenig, und ein Gesicht mit Vollbart fragt, ob Eintreten erlaubt sei. Wir beide schauen uns an. Aber das Gesicht fragt in so freundlicher und gewinnender Weise, dass wir neugierig werden und es hereinbitten.

Jetzt tritt ein jugendlicher Mann mit Vollbart, langem Gewand und Jesuslatschen ins Zimmer. Wir sind überrascht, und ich frage mich: Ist gerade irgendwo eine Veranstaltung, bei der man in dieser Weise passend angezogen ist? Oder ist der Mensch ausgesprochen exzentrisch? Oder ist er womöglich echt psychotisch, und wir bekommen jetzt ein Problem?

Der Mensch setzt sich auf den angebotenen Platz und schaut uns ganz harmlos lächelnd an. Er scheint seinen Auftritt und unsere Ratlosigkeit zu genießen. Vielleicht ahnt oder weiß er, was wir denken. Und dann wirft er uns locker hin: „Ich bin’s wirklich!“

Jetzt geht unsere Ratlosigkeit in Fassungslosigkeit über. Der Mensch behauptet auch noch allen Ernstes, er sei Jesus! Einen Moment ist mir, als wüsste ich nicht mehr, ob ich meinen Kopf noch richtig herum trage. Und Martina springt auf, vielleicht um den Menschen mal aus anderer Perspektive ins Auge zu fassen, aber das bringt ihr auch nichts. Und sie setzt sich irritiert wieder hin.

Und dann passiert Unglaubliches: Der Mensch wird zu der lichten Gestalt, die mich besonders am Anfang intensiv begleitet hat. Aber die Verwandlung dauert nur einen langen Moment. Und schon sitzt der Mensch wieder so normal da wie vorher. Und er fragt: „Glaubt ihr mir jetzt?“ In mir geht es drunter und drüber. In meinem Kopf herrscht Chaos – da ist erst einmal nichts auf die Reihe zu bringen. Und es dauert, bis sich der Strudel in mir wenigstens langsamer dreht.

Ja, es ist wohl tatsächlich der Jesus aus der Bibel – zumindest wie er in Bildern verbreitet wird. Doch diese Gestalt ist zugleich frappierend anders. Von ihr geht eine Sicherheit und Souveränität aus, dass man auf den ersten Blick befürchten könnte, von ihr womöglich völlig an die Wand gequetscht zu werden. Doch die Gestalt hat zugleich eine entwaffnende Wärme. Sie ist durch und durch wohlwollende Zuwendung. Und ihre Anwesenheit macht sogar glücklich.

Wir sind erst einmal sprachlos. Wir haben keine Worte für das, was sich vor unseren Augen ereignet. Und wir wissen ebenso wenig, was wir jetzt sagen könnten oder was wir fragen sollten. Also ergreift dieser Jesus das Wort und holt aus:

„Die Situation ist so: Die Menschen glauben und vertrauen zu wenig. Ich habe ihnen mal gesagt, sie könnten Berge versetzen, wenn sie wenigstens eine Spur von Glauben und Vertrauen hätten. Steht so in jeder Bibel! Aber das geschieht unglaublich selten. Ja, schon: Es gibt gelegentlich wundersame Heilungen. Oder unverrückbar erscheinende Dinge kommen in unglaublicher Weise in Bewegung. Aber das wird dann immer als Zufall abgetan. Doch da werden Berge versetzt!“

Eine kleine Kunstpause folgt, und dann bekommen wir dies zu hören: „Euer Auftrag kann nun sein: Ihr zeigt, dass sich tatsächlich Berge versetzen lassen. Jedenfalls könnt ihr das vielleicht denkbar machen. Und dafür braucht es einleuchtende Beispiele.“

Martina und ich sitzen da und rühren uns nicht. Die Gestalt, dieser Jesus, wird beim Reden immer lichter. Aber anders als bisher, wenn er mein Begleiter war, bleiben jetzt Gesicht und Gestalt klar erkennbar.

Und Jesus weiter: „Gott erspart euch unendlich viel von der Schwere, unter der unzählige Menschen ächzen. Die Menschen sehnen sich nach Leichtigkeit. Sie lechzen danach. Und ihr dürft ihnen Leichtigkeit vorführen, damit sie erreichbar erscheint. Denn Gott will ihnen tatsächlich mehr Leichtigkeit schenken! Und er will gelegentlich sogar Berge tanzen lassen.“

Und Jesus lächelt uns aufmunternd an und verschwindet vor unseren Augen.

Wir sitzen da. Schauen uns an. Sind berührt, ein Stück begeistert. Das ist vielleicht eine Ansage! Doch zugleich sind wir auch erschrocken, haben die Naivität verloren, die uns bisher getragen hat. Jetzt wird richtig Leistung von uns erwartet! Und solcher Erwartung fühlen wir uns absolut nicht gewachsen. Wir sollen ein Maß an Glauben und Vertrauen stemmen, vor dem andere Menschen kapitulieren!

Das ruft jetzt Jo auf den Plan. Er erscheint und weiß, dass er im Moment höchst ersehnt ist. Und wir hoffen, er verhilft uns zu erlösendem Durchblick. Ich überfalle ihn gleich mit der Frage: „Müssen wir uns jetzt ordentlich ins Zeug legen?“

Aber Jo sieht die Dinge gelassener: „Gott setzt oft hohe Ziele – als Anreiz, sich immer nach der Decke zu strecken. Aber zugleich will er niemanden zwingen. Er lässt jedem ungeheuer viel Spielraum und freien Willen. Und er weiß zugleich auch um die Verführbarkeit, Unentschlossenheit und sonstigen Schwächen der Menschen. Sie folgen etwa verlogenen Gestalten und ihren scheinheiligen Verheißungen, sind in Kopf und Herz zerstreut, sind willen- und haltlos, sind leicht ablenkbar, fühlen sich überfordert oder sind einfach nur schwach. Und das dürfen sie alles sein!

Aber da kommt nun ihr ins Spiel. Ihr habt weniger schweres Gepäck zu tragen. Ihr seid leichter und könnt höher und weiter springen. Und wenn ihr wollt, kommt ihr so näher an Gottes Ziele heran als andere Menschen. Damit könnt ihr zu leuchtenden Beispielen werden. Und ihr könnt andere ermutigen und stärken. Doch Achtung: Euren freien Willen tastet Gott nicht an!“

Und er fasst das Gesagte so zusammen: „Müsst ihr euch also ordentlich ins Zeug legen? Ihr müsst das in keiner Weise, aber ihr dürft es! Es bringt einfach mehr Freude und Sinn.“

Danach fragt er: „Wie steht es: Seid ihr nun zu etwas mehr bereit? Besonders wenn es dabei hoch hinaus geht?“ Und er guckt dabei etwas rätselhaft.

Aber natürlich sind wir bereit! Und wir sind gespannt.

18. Übermut und Notfall

Als ich mal wieder zu mir komme, sitze ich rittlings auf einem Satteldach in vielleicht zehn Metern Höhe. Ich bin völlig irritiert. Hatte Jo so etwas mit „hoch hinaus“ gemeint?

Unten steht Martina und lacht: „Hey, was machst du denn da oben?“ Ja, das frage ich mich auch. Und ich schaue mich um. Nach vorn heraus sehe ich eine Straße, nach hinten einen Garten. Was zum Himmel soll ich hier oben! Etwa Vögel zählen?

Doch erst einmal: Ruhe bewahren! Und die Situation klären. Irgendeinen Grund muss es ja für die heikle Sitzposition geben, die mir aufgezwungen ist. Und bis sich dieser Grund herausschält, gilt es, dieser merkwürdigen Lage ein Minimum an Würde abzutrotzen.

„Ich will näher zu Gott!“ antworte ich Martina. Das finde ich ein situationsgemäßes und ehrenwertes Vorhaben. Martina aber kontert: „Vielleicht ist dafür ja Runterfallen die beste Lösung!“ Ihr mangelt es gerade an hilfreichem Ernst.

Dann ruft ein Mann herauf: „Hat man da oben den entscheidenden Überblick?“ Ich hinunter: „Zumindest stören hier keine Gardinen.“

Noch jemand: „So wird man Hausbesitzer!“ Ich brauche eine lange Sekunde, um die Doppeldeutigkeit zu bemerken. Und reagiere mit: „Allerdings ohne Grundbucheintrag.“

Noch weitere reizvolle Kommentare von jemandem? Ich gebe mich notgedrungen übermütig, um nicht hilflos zu erscheinen.

Und genau jetzt geht unter mir ein nervtötender Alarm los – er kommt von der Rückseite des Hauses. Und dem folgt auch gleich danach noch ein heftiger Aufschrei und lautes Stöhnen! Das ist die Gelegenheit, der Situation einen ganz anderen Anstrich zu verpassen.

Höchst alarmiert schreie ich nach unten auf die Straße: „Ein Unglück!“ Ich zeige nach hinten. Dann rutsche ich das Dach hinunter und lasse mich auf den Balkon darunter fallen. Hinter der offenen Balkontür liegt eine alte Dame auf dem Boden und stöhnt. Ich eile zu ihr, kann aber ihr Problem nicht erkennen. Schnell versichere ich ihr: „Es kommt Hilfe!“ Dann stürze ich in die Küche: Von da kommt Rauch, zieht ins Wohnzimmer – und in einer Pfanne verbrutzelt etwas. Schnell das Geschwärzte von der Platte ziehen, die Platte abstellen. Danach den nervtötenden Brandmelder von einem Stuhl aus außer Gefecht setzen. Und nun wieder auf den Balkon! Unten wartet schon Martina mit anderen Leuten. „Eine alte Dame liegt hier auf dem Boden und stöhnt. Der Notarzt muss her!“ rufe ich hinunter. Dann drücke ich lange auf den Öffner für die Haustür und öffne auch die Wohnungstür.

Martina ist schnell oben mit zwei anderen Frauen. Sie kümmern sich sofort. Auch der Notarzt trifft bald ein. Schnell steht fest: Die alte Dame hat einen Oberschenkelhalsbruch, und Krankenhaus ist für sie unumgänglich. Sie lässt fast alles stumm über sich ergehen, als sie für den Abtransport vorbereitet wird. Und als sie dann weg ist, kann ich mit Martina noch ein wenig auf dem Balkon sitzen. Wir warten da auf die gute Seele des Hauses, wie sie genannt wird: die Nachbarin der Frau. Sie ist bereits unterwegs, um uns von den letzten Resten an Verpflichtung zu entbinden.

Also schon mal Zeit aufzuatmen. Und Gelegenheit, das sonderbare Vorspiel dieses Einsatzes samt seiner verblüffenden Wendung zu durchdenken. Der Einsatz jedenfalls war todernst: Als die alte Dame beim Alarm stolperte und fiel, war die Pfanne samt Inhalt sich selbst überlassen. Ein kleines Inferno war damit womöglich in Reichweite. Es hätte vielleicht nur noch ein paar entzündungslüsterner Flammen bedurft, um es Realität werden zu lassen. Und da alle anderen Bewohner des Hauses fort waren, hätte eine Katastrophe erst einmal unbehelligt ihren Lauf nehmen können.

Und das Vorspiel? Musste ich denn wirklich unbedingt für eine rechtzeitige Rettung auf dem Dach sitzen? Oder noch weiter gedacht: Musste denn die alte Dame überhaupt solch einen Unfall erleben? Fragen, mit denen ich tief in die unergründliche Begründungskiste menschlichen Schicksals greife – natürlich vergeblich.

Immerhin ist klar: Auch dieser Einsatz wird in unserer Erinnerung unauslöschliche Spuren hinterlassen.

19. Rebellion und Bescheidenheit

Am nächsten Morgen bei Jo in seinem Arbeitszimmer. Es rumort in mir. Ich will nicht von Krise reden, aber Unzufriedenheit ist auf jeden Fall da. Und mir wird bewusst: Ich habe meinen Ritt auf dem Dach noch nicht abgehakt. Denn in Wirklichkeit hatte er etwas Lächerliches. Auch wenn es mir ganz gut gelang, mir selbst anderes vorzugaukeln: Im Grunde genommen habe mich geschämt, da oben wie ein närrischer Tollpatsch zu hocken.

Jo will erst abwiegeln. Aber ich werde unwillig: Ihn hat es ja nicht getroffen. Und dann frage ich: „Müssen wir uns eigentlich alles gefallen lassen?“ Ich habe schon früher einmal diese Frage gestellt. Nun ist sie erneut da. Und sie ist wieder eine kleine Rebellion gegen den Himmel und gegen Gott.

Jo guckt besorgt. Aber er ist nicht ernsthaft beunruhigt. Er bringt nun alles so auf den Punkt: „Ja, wie viel Freiheit hast du eigentlich?“

Aus seiner Sicht liegen die Dinge so: Ich habe das Angebot Gottes verbindlich angenommen, mich hilfreich für andere Menschen einzusetzen und als Gegenleistung dafür die besondere Zuwendung Gottes zu erhalten. Damit habe ich aber ein Stück Freiheit an ihn abgetreten. Denn ich kann nun nicht mehr alles machen, was mir gerade in den Kram passt. Dessen war ich mir noch nicht bewusst. Aber nun kommt es unausweichlich auf den Tisch. Das sagt mir Jo jetzt klipp und klar.

Er will mich aber auch sofort trösten. Und er erklärt: „Für deine Bindung bekommst du nicht nur besondere Zuwendung von Gott, sondern auch noch höheren Sinn in deinem Leben. Bei Abwägung aller Vor- und Nachteile ziehst du damit ein ganz passables Los. Es ein Los mit einem ansehnlichen Gewinn.“

Jo fügt dann noch hinzu: „Deine Bindung kannst du durchaus jederzeit kündigen. Auch sofort. Aber ist es besonders geschickt davonzulaufen, wenn es mal unangenehm wird?“

Nun holt Jo noch einmal aus und erklärt mir: „Der Mensch will immer hoch hinaus. Er will immer mehr, mehr. Er ist so angelegt, damit er seine Möglichkeiten ausschöpft. Aber dabei stößt er logischer Weise früher oder später an Grenzen. Und das tut dann meist weh. Doch an solchem Schmerz kommt keiner vorbei. Manchmal ist der Schmerz ganz klein, manchmal riesengroß. Deiner war gestern noch relativ erträglich.

Der Schmerz hat dabei eine wichtige Funktion: Er stößt dich mit der Nase darauf, dass es Probleme gibt. Und er zwingt dich, innezuhalten und zu schauen, wo es hakt.“

Ich: „Und wo hakt es bei mir?“ Jo meint nun, gerade durch die Begegnung mit Jesus hätte mich das normalmenschliche Mehr! Mehr! erfasst. Ein bisschen Sucht nach Größe und nach Hochhinaus. Eine etwas überbordende Expansionslust. Dagegen hat der Himmel aber nichts. Denn das gibt ihm die wunderbare Gelegenheit, dich schnell wieder auf den Boden zurückholen und dir dadurch etwas beizubringen.

„Und was will mir der Himmel beibringen?“ Jo nun: Der Himmel wolle mir damit zweierlei zeigen. Erstens: Wenn schon Höhenflug, dann muss der unbedingt Sinn machen – insbesondere dadurch, dass er anderen Menschen hilft. Und zweitens: Für einen Höhenflug kann ein hoher Preis zu zahlen sein. Der soll davor bewahren, dass man erfolgsstrotzend und hochmütig wird.

Aber welche Konsequenz soll ich nun daraus ziehen? Martina ist plötzlich da. Ich habe sie schon vermisst. Und nun, da sie da ist, bitte ich sie gleich mitzudenken. Ich wiederhole ihr also, was Jo gesagt hat. Und ich frage sie: „Was folgt für dich daraus?“

Martina fragend: „Bescheidenheit?“

Jo lächelt: „Genau das! Das Vertrackte ist ja: Der Mensch kann sich zwar Bescheidenheit vornehmen. Aber er neigt trotzdem immer wieder zu Übertreibung und Maßlosigkeit. In der Regel wird Bescheidenheit nur dann zu einer festen Charaktereigenschaft, wenn sie über viele schmerzhafte Erfahrungen im Menschen verankert wird.“

Darauf nun ich: „Aber Jesus hat uns doch ermuntert, groß zu denken!“ Und Jo: „Aber nur der Bescheidene hat hilfreiche Distanz zur Größe. Und nur er kann angemessen mit ihr umgehen.“

Jo blickt nun erst mich an und dann Martina. Nein, wir haben im Moment keine weiteren Fragen. Und Jo denkt offenbar, er hat nun für uns genug getan hat. Er verabschiedet sich jetzt.

Aber ich bin noch nicht fertig mit dem Thema. Ich merke, mich treibt innerlich um: Mein Leben und das Buch sind inzwischen fortgeschritten. Und da sollte schon noch mehr kommen. Also in aller Bescheidenheit: Bitte schon noch eine attraktive Steigerung für unser Tun! Der Besuch von Jesus war doch trotzdem ein Versprechen!

Martina habe ich dabei ganz auf meiner Seite. Auch sie findet, es darf und sollte mehr sein. Jo allerdings hat nachdrücklich darauf hingewiesen: Für das Mehr kann ein hoher Preis fällig werden. Und zudem haben wir ein Stück Freiheit an Gott abgetreten. Und damit sind wohl die großen Perspektiven und die entsprechende Preisgestaltung allein Gottes Ding. Es ist also an ihm, mit seinem eigenen Kompass dem Buch und uns die Richtung zu weisen.

Ich beschließe nun, ganz bewusst zu akzeptieren, was vielleicht an schmerzlichen Herausforderungen auf mich und auf uns zukommt. Solange wirklich ein höherer Sinn damit verbunden ist.

20. Versuchung und das Böse

Ich habe um eine kleine Auszeit gebeten. Nach dem aufregenden Dacherlebnis war mir sehr danach. Ich möchte mich einfach mal ausklinken und an einem belebten Platz dem normalmenschlichen Treiben zusehen. Und schon bin ich da.

Links von mir der Zugang zu einer Altstadt. Rechts ein Café an einer sehr belebten und beliebten Ecke. Sonnenschirme überspannen da drei Reihen von Tischen. Ich ergattere gerade noch einen davon mit gutem Ausblick. Und ich vermute: Einige Tische sind anscheinend nur deshalb belegt, weil man das ortsübliche Treiben von da aus gut auf sich wirken lassen kann.

Touristen schlendern vorbei. Einige Menschen gehen einen Schritt schneller – das sind vermutlich Einheimische, die unterwegs sind, um Besorgungen zu machen. Und ein paar Fahrradbehelmte fallen auf, die – ihr Gefährt schiebend – sich nach einem geeigneten Parkplatz umsehen.

Jetzt möchte ich mal Eis kosten. Ich bin neugierig, wie die vielgestaltigen und vielfarbigen Gebilde wohl schmecken, die hier überall aufgetischt werden. Und ich entscheide mich für eine rot-braun-weiße Variante. Als sie dann vor mir steht, fange ich vorsichtig an zu löffeln. Aber ich kann mir selbst schnell Entwarnung geben: Das schmeckt tatsächlich richtig gut! „Oh, köstlich!“ sage ich vor mich hin. Und dem Rest will ich nun keine Chance geben, sich noch zu verflüssigen.

Ich bin eifrig am Löffeln, da steht unerwartet eine Frau neben mir. Sie fragt, ob an meinem Tisch noch etwas frei sei. Eigentlich möchte ich einfach nur für mich sein. Aber bei der Beliebtheit des Cafés ist das ziemlich aussichtslos. Zudem fragt die Frau sehr charmant, und da gebe ich ihr schon ganz gern mein Ja. Beim Platznehmen bemerkt sie: „Ach, es ist doch schön, nicht allein zu sitzen.“

Und wer hat sich da nun bei mir eingefunden? Während ich weiter löffele, mustere ich die Frau dezent: Ihre Kleidung ist apart. Und der Körper darunter – den Blick gönne ich mir – steht anscheinend der Kleidung in nichts nach.

Wir unterhalten uns über den Ort und die Menschen, die unser Gesichtsfeld kreuzen. Ich erfahre dabei, dass die Frau sich schon in der ganzen Welt umgesehen hat. Und dass sie jetzt hier in dem führenden Hotel am Platz abgestiegen ist, dem das Café vorgelagert ist. Die historischen Gebäude in dieser Stadt haben es ihr angetan, sagt sie, und sie genießt den fantastischen Blick darauf von ihrer kleinen Suite aus. Dann wirft sie mir wie nebenbei hin: Ihr Ausblick von oben sei natürlich viel besser als der hier von unten, wo wir gerade sitzen. Und wenn mich Historisches interessiert, würde sie mir das auch gern von oben aus zeigen.

Bei mir geht eine kleine Warnlampe an. Das ist doch nun eine etwas dubiose Einladung. Aber ich denke: Was kann mir schon passieren? Und zudem hat es etwas, von solch attraktiver Frau in dieser Weise gewürdigt zu werden.

Mit dem Aufzug geht es dann in den zweiten Stock. Und die Frau hat nicht zu viel versprochen: Wir treten auf den Balkon, und die Aussicht ist wirklich atemberaubend. Zusammen mit zwei mittelalterlichen Kirchen im Hintergrund bilden die historischen Häuser ein atmosphärisch dichtes Ensemble.

Danach bietet sie mir freundlich – und ohne Widerspruch zu dulden – einen Sessel an. Nun beginnt sie, von ihren Reisen zu schwärmen. Wo sie nicht schon überall war! Sie scheint kaum arbeiten zu müssen, aber trotzdem viel Geld zu haben. Und schließlich kommt die Frage, ob ich nicht Lust hätte, ihr Begleiter zu werden.

Wie bitte? Na, so was! Ihre Frage schmeichelt mir, aber mir ist nun wirklich nicht nach Herumreisen und einem Begleiterdasein bei dieser Frau zumute. Und ich wehre vorsichtig ab: „Reisen reizt mich nicht. Ich habe lieber sinnvolle Aufgaben.“ Doch die Frau hakt nach: „Was denn für Aufgaben?“ Und ich deute so als Richtung an: „Etwas für Menschen tun.“

Sie überlegt eine Weile. Dann schaut sie mich durchdringend an und meint: „Ich habe da etwas ganz Besonderes. Ich habe eine große Stiftung ins Leben gerufen. Und da ist eine Stelle neu zu besetzen. Es geht dabei um die Verteilung von viel Geld an Hilfsorganisationen. Da kann man einiges bewegen. Könnte das etwas für Sie sein?“ Und wieder fixiert sie mich und beobachtet genau meine Reaktion.

Ich bin irritiert. Wieso kommt die Frau dazu, mir solch eine verantwortliche Stelle anzubieten? Sie kennt mich doch gar nicht. Dann aber denke ich: Sollte hier etwa der Himmel im Spiel sein? Und ist das seine manchmal verblüffende Art, Dinge voranzutreiben? Komme ich etwa so zu einer bedeutsamen Aufgabe?

Die Frau sieht, dass ich ins Nachdenken komme. Und sie ergänzt: „In der Position kann man auch Fäden ziehen, die bis in die Politik reichen.“ Da allerdings kippt plötzlich etwas in mir: Was die Frau mir da anbietet, ist nun doch zu schön, um wahr sein zu können. Da stimmt etwas nicht! Und jetzt merke ich überdeutlich: Die Frau umgarnt mich und will mich einwickeln.

Ich stehe unvermittelt auf und erkläre: „Nein, das ist nichts für mich!“ Die Frau erhebt sich ebenfalls und tritt dicht vor mich hin. Sie ist kleiner als ich, und wenn ich ihr ins Gesicht schaue, erfasst mein Blick unvermeidlich auch ihr Dekolleté. Und das ist sehr offenherzig. Sie versucht es nun mit: „Sie tun doch gern etwas für Menschen. Machen sie mich doch jetzt ein wenig glücklich!“

Oh, ein raffinierter Versuch, mich zu halten! Ich spüre deutlich den Sog, den gezielt eingesetzte Weiblichkeit bei mir als männlichem Wesen auslöst. Etwas in mir würde sich ja gern einwickeln lassen. Aber meine Vernunft behält die Oberhand. Sie treibt mich eilig aus dem Raum und gleich auch noch die Treppen hinunter. Unten atme ich auf und verlasse schnell das Café.

Bald danach bin ich bei Jo. Er weiß ja immer, was passiert. Und er empfängt mich mit: „Jetzt weißt du, was Versuchung ist!“ Oh ja, das ist mir jetzt klar!

Jo erklärt nun: „Im Vaterunser gibt es die Bitte an Gott: Lass uns nicht in Versuchung geraten, sondern erlöse uns vom Bösen. Und damit sind genau solche Situationen gemeint, wie du sie erlebt hast. Das Aufleuchten der ersten Warnlampe hast du zunächst noch übersehen. Doch die heftigere Alarmglocke hast du dann zum Glück gehört.“

Und Jo weiter: „Du wurdest an einer persönlichen Schwachstelle gepackt: Du willst ja noch mehr in deinem Leben. Und genau da wollte die Frau dich mit Macht und Geld betören – das sind große Versuchungen für Männer. Und als das nichts half, hat sie es auch noch mit dem Angebot von Sex versucht. Da sind ebenfalls viele Männer leicht zu packen.“

Jos Sicht dabei ist: Eine Versuchung deckt Anfälligkeiten und Schwachstellen auf. Sie zeigt den Betroffenen, wo sie unbedingt noch mehr Selbstkontrolle üben und einen klaren Kopf behalten müssen. „Und dir ist das nun ja wohl auch klar!“ fügt Jo hinzu.

Und dann kommt Jo direkt zum Bösen. Jo sieht es so: Das Böse will stören und zerstören. Und so, wie es bei mir lief, kann man dem Bösen sogar planvolle Absicht unterstellen. Es wollte gezielt meine Anbindung an Gott torpedieren und mich für weitere Aufgaben unbrauchbar machen. Bei solchen Aktionen kann das Böse offen zerstörerisch sein, aber ebenso auch raffiniert und hinterhältig – so wie gerade bei mir. Und die Bitte des Vaterunsers um Erlösung vom Bösen hat dann eine tiefe Berechtigung.

Jo fällt nun auch noch ein: „Übrigens: Die normalen Menschen sind tagtäglich kleinen Versuchungen ausgesetzt. Das sind besonders oft Nachlässigkeiten, wo eigentlich strengere Disziplin walten sollte. Und ab und an gibt es auch große Versuchungen. Etwa hartnäckige Süchte, mit denen die Menschen sich selbst schaden. Oder gefährliche Heimlichkeiten, mit denen sie andere schädigen.“

Da will ich nun doch gern wissen: „Und wie groß war meine Versuchung?“ „Die hatte schon ein beträchtliches Kaliber – da steckte echt Böses dahinter. Für dich hätte sie sogar das Ende deines Lebens im Buch bedeuten können.“ Das schockt nun noch nachträglich!

21. Segen und das Gute

Am nächsten Morgen berichte ich Martina freimütig von meiner Versuchung. Und von der immerhin gut überstandenen Gefahr, meine weitere Existenz im Buch zu verlieren. Das steckt sie nun nicht leicht weg! Da guckt sie mich groß an und wird blass.

Und Jo greift das Thema Versuchung auch noch einmal auf. Aber jetzt möchte er dem Bösen unbedingt etwas Gutes entgegensetzen. So kommt er auf den Segen zu sprechen – als etwas ausgesprochen Gutem. Und er möchte uns das Segnen ans Herz legen.

Sofort kommt mir nun die Frage: „Bin ich denn nach dem gestrigen Ereignis überhaupt würdig, in die Geheimnisse des Segnens eingeweiht zu werden?“ Jo lacht: „Neugier allein ist kein Vergehen. Und du hast die Versuchung doch gut durchgestanden. Was willst du mehr?“

Damit kommt er zum Segen. Und er erklärt den Unterschied zum Gebet so: „Beim Gebet fehlt einem etwas Gutes, und man bittet darum. Beim Segen dagegen steht schon etwas Gutes bereit, und es geht nur noch darum, das Gute zu vermitteln und zu verteilen. Oder etwas knapper: Das Beten möchte noch nehmen, doch das Segnen kann schon geben.“

Die Frage ist allerdings offen: Woher kommt all das Gute, das bei einem Segen verteilt wird? Und Jo dazu: „Der Spender und Schenker ist immer Gott. Er ist zugleich auch der Verteiler des Segens. Denn er weiß, wo das Gute gerade gebraucht wird, das er spendiert. Und er sorgt dafür, dass es auch wirklich dorthin kommt, wo es hilft und beglückt. Allerdings braucht er dabei Menschen, die zunächst seinen Segen erbitten und ihn dann an Bedürftige vermitteln.“

Ganz wichtig ist ihm dabei: „Gott ist mit seinem Segen großzügig. So wie er grundsätzlich die Sonne über Gute und Böse scheinen lässt, so ist er auch ausgesprochen freigebig darin, Gutes zu verschenken – selbst an Übeltäter und Ganoven. Er will im Prinzip, dass es allen Menschen gut geht.“

Nun wendet sich Jo direkt an uns: „Und jetzt seid ihr dran – wenn ihr wollt! Ein Betrieb braucht gerade Gottes Segen. Und Jesus würde euch begleiten.“

Ich denke: Wunderbar! Und bemerke glücklich: „Auf so etwas warten wir schon heftig!“ Jo erwidert nur trocken: „Gott seinerseits wartet immer so lange, bis alles passt.“

Kaum hat Jo zu Ende gesprochen, stehen wir schon vor einem Fabrikationsgebäude. Auch Jesus ist da als Lichtgestalt, so wie er sich uns zuletzt wieder zeigte. Er weiht uns ein: Der Inhaber hat derzeit viele Sorgen. Gerade auch, weil er mit ganzem Herzen hinter seiner Belegschaft steht. Denn im Betrieb sind zur Zeit Arbeitsplätze in Gefahr. Der Inhaber braucht nun unbedingt für alle und alles Gottes Segen. „Und wie vermitteln wir den?“ will Martina wissen.

Jesus erklärt uns: Er wird uns jetzt in die oberste Ecke der Fabrikationshalle führen. Von da aus können wir diese Halle, den daran anschließenden Büroteil und alle Mitarbeiter segnen. „Aber bis da oben haltet bitte unbedingt den Mund!“ fügt er hinzu.

Wir begeben uns in die Halle. Da werden große runde Behälter gebaut, deren Aufgabe sich uns nicht erschließt. Alle laufen hier mit weißen Schutzhelmen herum. Wir allerdings sind ohne. Ich zeige nun erst auf die Helme der anderen und dann auf unsere unbehelmten Köpfe, doch Jesus winkt ab mit einer Geste, die sagt: Euch kann nichts passieren! Und ihm gelingt es, uns irgendwie durch die Halle zu schleusen, ohne dass wir beachtet werden. Er bringt uns auch noch etliche Treppen hoch ans Ziel, und da verabschiedet er sich.

So, jetzt sind wir dran. Jetzt geht es ans Segnen! Deshalb sind wir ja da. Wir öffnen nun dafür die Hände und heben sie halb hoch. Und zwar so, dass sie den Segen nach vorn und unten abstrahlen können. Und dann wiederholen wir dreimal in kleinem Abstand: „Gottes Segen über dieses Haus! Und über alle, die hier arbeiten!“

Sofort macht das etwas mit uns selbst. Wir fühlen eine merkwürdige Stärke in uns. Es ist eine Kraft da, die etwas anstoßen und bewirken will. Sie geht durch uns hindurch und lässt wohl auch gleich etwas geschehen – wo und wie auch immer. Wir möchten die Arme gar nicht mehr herunternehmen. Erst nach einiger Zeit lässt die Kraft nach, und unsere Arme sinken herab. Und jetzt ist es offenbar genug.

Nun haben wir noch etwas Zeit, dem Treiben unter uns zuzusehen. Was da gebaut wird, ist noch immer nicht klar. Aber wie daran herumgewerkelt wird, das ist an einigen Stellen durchaus spannend und sehenswert.

Und plötzlich kommt Bewegung in die Szenerie unter uns. Eine Frau stürzt aus dem Büroteil herbei. Sie fragt sich durch, bis sie einen bestimmten Mann entdeckt: Der dürfte hier der Chef sein. Und dann redet sie begeistert auf ihn ein. Sie hat ein Tablett mitgebracht und zeigt immer wieder darauf. Erst ist der Chef noch reserviert, dann wirkt er immer erstaunter. Zuletzt nimmt er die Frau in den Arm und drückt sie – was sie überhaupt nicht gewohnt zu sein scheint. Da muss Umwerfendes passiert sein! Und wir fragen uns: Hat das mit unserem Segen zu tun? Die Frage bleibt zwar offen. Aber wir glauben einfach: Der Segen ist hier wie ein Blitz vom Himmel eingeschlagen.

Und wir merken dan auch gleich: Damit ist unser Einsatz nun zu Ende.

22. Predigt und Erfahrung

Der nächste Tag ist ein Sonntag. Und Jo überrascht uns da so: „Heute ist ein Gottesdienst dran. Eine Feier, bei der Gott und Mensch manchmal glücklich, manchmal aber auch eher unglücklich aufeinander treffen. Gelegentlich schlagen da die Wogen hoch, und man feiert freudig oder sogar jubelnd miteinander. Aber häufiger schieben dabei Menschen auch Langeweile – das Gähnen höflich vermeidend. Ihr dürft nun eure eigene Erfahrung damit sammeln. Ihr seid inzwischen so weit. Ein Fernsehgottesdienst wartet auf euch!“

Am Morgen hatte Gott Jo darauf hingewiesen: Frauen sind in vielen Kirchen und Gemeinden noch immer unterbewertet. Oft sind sie nur für untergeordnete Tätigkeiten gut. Und die wenigen Frauen in leitender Stellung brauchen Rückendeckung. Beim heutigen Fernsehgottesdienst würde nun eine Pfarrerin in vorderster Linie stehen. Und für die sei jetzt eine Durchschlagskraft wünschenswert, die auch noch die Sesselfront vor den Fernsehgeräten erreicht.

Und Jo nun: „Also: Ihr setzt euch weit vorn in den Gottesdienst. Von da aus segnet ihr alles Tun und Lassen der Pfarrerin. Und ihr betet ebenso für die Leute in den Kirchenbänken und in den Fernsehsesseln.“ Mit diesen Worten entlässt er uns.

Und schon stehen wir vor einer eher unauffälligen Kirche. Übertragungsfahrzeuge parken daneben. Sie sind stark mit der Kirche verkabelt, und diese vielfache Verkabelung macht sie zu leicht skurrilen Anhängseln der Kirche. Innen im Kirchenraum sind die Nischen mit blauem Licht ausgeleuchtet. Das ergibt eine wundersame Atmosphäre, die etwas geheimnisvoll Entrückendes hat. Und die im Raum verteilten Kameras schüren zugleich die Erwartung auf ein bewegendes und eindrucksvolles Geschehen.

Wir beide haben noch keinen Gottesdienst erlebt. Nun finden wir relativ weit vorn zwei Plätze – wie für uns freigehalten. Und dann harren wir der Dinge, die da kommen sollen. Als es so weit ist, erscheint die Pfarrerin in schwarzem Talar mit weißem Kragen. Welch ein Auftritt! Mich erschreckt sie damit. Sie wirkt in dieser Tracht ausgesprochen weltfremd und merkwürdig förmlich.

Die Worte der Pfarrerin sind dann allerdings lockerer als erwartet. Und eine kleine Band und ein Chor machen danach ihre Sache durchaus passabel. Mehr noch: Sie stimmen sogar freudige bis jubelnde Töne an. Und die Gemeinde kommt auch noch mit einem munteren Lied zum Zug und in Stimmung.

Dann rückt die Pfarrerin endgültig in den Mittelpunkt. Sie stellt sich frei hin zur Predigt. Und wir beide sind jetzt besonders gefordert mit verdecktem Gebet und Segen.

In der Predigt geht es um Freiheit. Das Thema liegt mir im Moment nicht so fern, und ich bin folglich sehr damit einverstanden. Und noch mehr einverstanden bin ich damit, dass ich nun Jesus sehe: Halb hinter der Pfarrerin steht er da als Lichtgestalt. Allerdings geht kein staunendes Raunen durch Kirche – andere erblicken ihn offenbar nicht. Und Jesus fordert uns nun mit anfeuernder Gestik auf, der Pfarrerin und ihrer Predigt zu erhöhter Wirksamkeit und Durchschlagskraft zu verhelfen. Wir segnen und beten also innerlich eifrig.

Das Thema der Pfarrerin ist die Freiheit, die aus Glauben erwachsen kann. Und die Freiheit, die dadurch Menschen auch in ihren Beziehungen untereinander gewinnen können. Sie bebildert ihre Worte gelegentlich mit heiteren Beispielen und löst Schmunzeln aus. Sie ist dabei rhetorisch gewandt und spricht mit einiger Begeisterung. Aber sie ist noch steigerungsfähig.

Zwischendurch fordert uns Jesus immer wieder mal mit energischen Handzeichen auf, unserer Aufgabe nachzukommen – so wie ein Dirigent ein Orchester anfeuert. Er möchte noch mehr Intensität. Und auch bei bedeutsamen Sätzen, also bei richtig guten Merksätzen, gibt Jesus Zeichen. Einige Worte sollen offenbar bei der Zuhörerschaft bleibenden Eindruck hinterlassen.

Mit der Zeit steigert sich tatsächlich noch die Begeisterung der Pfarrerin. Und ich spüre: Da redet jetzt nicht nur ein Mensch, sondern da schlägt bei ihr göttlicher Geist unmittelbar durch. Da berührt mich etwas, da erfasst mich etwas, das größer ist als ein Mensch, und die Frau ist dafür die Übermittlerin.

Von ihr geht nun liebende Eindringlichkeit und rückhaltlose Zuwendung aus. Und sie vermittelt ihr persönliches Gottvertrauen so, dass es man nicht anders kann als ihr zu glauben: Gottvertrauen schützt, vertreibt Angst und eröffnet innere Freiheit.

Die Pfarrerin endet schließlich mit einem gekonnten Merk- und Schlusssatz. Ich bin sehr bewegt. Die Frau ist einfach Spitzenklasse! Und besonders ist es der Geist, der mit ihr ist. Etwas in mir würde nun am liebsten klatschen. Aber ich merke, das ist nicht angemessen. Vielmehr bleibt man hier unbewegt sitzen. So kann ich nur hoffen, dass immerhin ein paar Fernsehzuschauer aus ihren Sesseln aufspringen, um ihrer inneren Bewegtheit auch äußerlich Ausdruck zu verleihen.

Was bleibt nun bei mir selbst von der Predigt hängen? Soweit es um Einsichten geht, ist es besonders diese: Wer andere einsperrt und ihnen die Freiheit nimmt, sperrt die eigene Seele gleich ein Stück mit ein. Das ist eine überraschende Einsicht. Aber sie ist sehr punktuell. Und wie lange wird sie sich bei mir halten?

Was hoffentlich länger hängen bleibt, das ist die begeisternde Kraft der Predigt. Ihre Intensität! Und letztlich das Vorbild der Pfarrerin: Also die erhebende Erfahrung, dass Gott und sein Geist einen Menschen so erfüllen können, dass er davon überfließt.

Allerdings hat die furiose Predigt bei mir erst einmal eine Hoffnung zur Seite geschoben. Nämlich die Hoffnung, dass ich in einem Gottesdienst mal wieder direkt von Gott angesprochen werde. Doch nun meldet sie sich: Sie ist noch überhaupt nicht gesättigt. Und ich versuche nun innerlich, noch ein paar göttliche Worte als alles abrundende Zugabe zu erlauschen.

Und dann ist tatsächlich Gottes Stimme da und fragt: „Wie viel von deiner menschlichen Freiheit gibst du her, wenn du dafür göttliche Freiheit gewinnst?“ Eine für mich unverständliche Frage. Da gebe ich doch erst einmal unsicher zurück: „Was ist denn göttliche Freiheit?“ „Das ist die Freiheit, selbst immer genau das zu wollen, was ich, Gott, möchte.“

Wieder das Thema Freiheit. Aber mit was für einer Wendung! Die durch Glauben gewonnene Freiheit wieder abtreten, um sie verwandelt und als neue Freiheit zurückbekommen? Ich blicke nicht durch. Und in mir sperrt sich einiges. Ich kann Gott nur bitten: „Lass mir Zeit!“ Und Gott erwidert: „Du hast alle Freiheit.“ Das klingt gut. Dann allerdings kommt noch der Satz: „Aber du könntest auch etwas verpassen.“ Ich stutze. Doch dann denke ich: Gott nimmt Rücksicht und will nicht drängeln, sondern einfach nur informieren.

Irgendwann höre ich Martina fragen: „Kommst du mit?“ Ach ja, die Worte von Gott haben mich ziemlich weit weggetragen. Aber der Gottesdienst ist zu Ende, und Martina wartet geduldig neben mir. Wir erheben uns nun und schließen damit das Kapitel Fernsehgottesdienst ab.

23. Freiheit und Opfer

Dieses Mal finden wir uns auf der luftigen Treppe eines Aussichtsturms wieder. Irgendwo zwischen oben und unten. Direkt über uns vielstimmiges Getrappel. Und unter uns ebenso. Da sind noch etliche andere unterwegs – aufsteigend oder absteigend. Aber was führt uns hierher?!

Durch die Streben der Treppe hindurch sehen wir Bergland mit dichtem Waldbestand. Dazwischen ein paar großzügige Lichtungen mit Weideflächen. Und an den Fingern abzählbar liegen kleine Ansammlungen von Häusern mitten drin. Wie viel Aussicht kann da noch bis oben hinzukommen?

Das müssen wir wissen – wir wollen den ganzen Ausblick! Und so machen wir uns auf den Weg. Die Treppe führt immer ein kleines Stück hoch, knickt dann scharf in einer Ecke ab und geht danach weiter aufwärts. Dabei wird es langsam enger. Zwei abwärts steigende Menschen müssen daher in einer Ecke warten, bis wir an ihnen vorbei sind.

Schließlich sind wir oben. Die Aussichtsplattform ist dreieckig. Überall stehen Menschen, die gucken und gucken. Manchmal deuten sie in die eine oder die andere Richtung. Und geknipst wird auch. Um nun selbst schauen zu können, müssen wir uns erst einmal freie Plätze suchen – an jeder der drei Seiten neu –, um am Ende einen nahtlosen Rundumblick gehabt zu haben.

Von oben sind die Menschen am Fuß des Turmes gut zu erkennen. Die Bänke da sind besetzt. Viele stärken sich vielleicht noch vor dem Aufstieg. Oder sie ruhen vom Auf- und Abstieg aus. Aber manche kapitulieren womöglich auch gleich vor der Höhe des Turmes.

Ringsum fällt der Aussichtsberg, auf dem sich unser Turm erhebt, ziemlich steil ab. Und ganz unten umschließen ihn tiefe Täler. Dahinter steigen nach einer Seite weitere Berge neu auf – die mit den bereits gesichteten Lichtungen und Häusern.

In einer anderen Richtung erstreckt sich eine weite Ebene. Darin liegt eine Stadt mit Hochhäusern, und man kann sich vorstellen, wie lebendig da jetzt der Verkehr lärmt. Von hier aus allerdings wirkt die Stadt völlig still und stumm. Sie liegt da wie festgeklebt und unverrückbar. Und sie scheint auch noch willenlos der Landschaft und dem Himmel ausgeliefert zu sein.

Und dann gibt es noch die dritte Richtung: Da zeigen sich am Horizont weiß marmorierte Berggipfel und Bergkämme. Sie markieren die Grenze zwischen Erde und Himmel. Und sie haben dabei schon etwas leicht Überirdisches.

„Hier oben fühlt man sich unglaublich frei und leicht. Bei solch einem Blick!“ denke ich laut neben Martina. „Man fühlt sich schon fast nicht mehr irdisch“. Die Weite rundum hat etwas von himmlischer Unendlichkeit. Und Martina: „Ja, hier oben klopft der Himmel bei einem an.“

Und dann passiert es: Ein warmer Lichtschein legt sich über die ganze Welt ringsum. Ein Abglanz göttlicher Herrlichkeit. Ich staune, mir wird ganz andächtig zumute. Dann blicke ich zu Martina neben mir. Sie blickt andächtig lächelnd zurück. Und ich weiß: Sie sieht auch, was ich sehe.

Jetzt müsste sich zusätzlich noch der Himmel direkt über uns öffnen! Und er sollte so den Blick freigeben in jenseitige göttliche Tiefe. Doch es ist unübersehbar: Da gebietet der Himmel Halt und verweigert sich. Einem von Menschen für andere Menschen hingestellten Turm setzt er Grenzen.

Dafür bietet sich mir etwas anderes an: Ein Blick in irdische Tiefe. Und mir fällt unerwartet mein Absprung ein: Der Absprung von der Bibliothek hinunter zu den Menschen – damals zu Beginn meiner Existenz. Ich schaue abwärts und denke: Ob ich hier auch unten heil ankommen würde? Ich bin mir ziemlich sicher.

Ich gestehe spontan Martina: „Ich hätte Lust, mal wieder abzuspringen!“ Doch Martina ist entsetzt. Sie kennt meine Geschichte und erinnert mich eindringlich: „Du sollst doch nie wieder springen! Oder legst du Wert darauf, mal wieder auf einem Dachfirst reiten – mindestens?“ Ich sehe schnell und ziemlich kleinlaut ein: „Ok, dies ist eine Versuchung.“ Und diese engstirnige schräge Idee ist genau der böse Gegenpol zu göttlicher Weite.

Damit holt mich das Thema Freiheit ein. Denn ich spüre deutlich: Ich muss mir gerade ein Stück Freiheit verkneifen. Ich will es mir ja nicht mit dem Himmel verderben. Und um mich in Sicherheit zu bringen, bitte ich Martina: „Komm, lass uns absteigen.“ Sie ist sofort dabei.

Auf den ersten Treppenstufen hinunter merke ich erneut: Ich gebe Freiheit auf. Nämlich die unendliche Weite, die suggeriert: Man schwebt losgelöst von Erdenschwere über allem, was irdisches Dasein ausmacht. Da fällt es schwer, Stufe für Stufe abzusteigen. Nur zu gern würde ich die Weite mit hinunternehmen.

Dann erreichen wir wieder den Boden. Von da blicke ich noch einmal hinauf nach oben – mit Wehmut. Es fällt schon schwer, sich von der Leichtigkeit und großen Freiheit zu trennen, die dem Leben da oben innewohnt.

Bald danach sind wir wieder bei Jo. Er begrüßt uns mit: „Na, zurück in der Erdenschwere? Ja, Abstieg ist im Leben nicht immer leicht.“ Martina darauf: „Geht es darum?“ Jo: „Nein, es geht um mehr: Das Thema Freiheit – wenn es euch interessiert.“ Oh ja! denke ich, und Martina ist auch dafür offen.

Jo nun zu Martina: „Gott hat Arno göttliche Freiheit angeboten. Und ihr habt gerade ein bisschen an göttlicher Freiheit geschnuppert. Denn göttliche Freiheit fühlt sich schon ein wenig so an wie das, was ihr auf dem Turm erlebt habt. “ Aha! Da bekomme ich nun ganz lange Ohren.

Und Jo: „Gott hat Arno gesagt: Göttliche Freiheit ist, immer das zu wollen, was Gott möchte. Die Frage ist nur: Wie kommt man dahin, immer genau das zu wollen, was Gott will? Da müsste ich nun etwas ausholen.“ Und wir bitten: „Ja, mach doch!“

Jo erklärt dann: Der Mensch ist von Natur aus mit starkem Willen ausgestattet. Der hilft ihm, in der Welt zurechtzukommen, sich darin zu entfalten und einen passenden Platz zu erobern. Dabei ist zunächst ein ganz wichtiges Ziel des Menschen: Er will Herr und Herrscher werden in einem eigenen kleinen Reich. Er möchte da alles im Griff haben. Und er möchte ebenso mit möglichst viel Freiheit tun und lassen können, was er gerade will.

Es kann aber noch ein anderes Ziel geben: Nämlich nicht allein klein, sondern gemeinsam groß zu sein. Und das geht so: Der Mensch gliedert sein eigenes kleines Reich in ein größeres Reich ein. Schon eine wirklich gute enge Partnerschaft zwischen zwei Menschen kann ein doppelt so großes Reich darstellen. Man verfügt dann in solch einem Bündnis gemeinsam über mehr Schutz, Kraft und Reichweite als vorher.

Und es gibt auch noch ein viel größeres Reich. Das ist Gottes Reich. Das hat etwas von der Weite, wie wir sie auf dem Turm erlebt haben. Es ist sowohl diesseitig als auch jenseitig. Und auch da kann sich der Mensch eingliedern.

„Aber was hat man von der Eingliederung in dieses Reich?“ frage ich. Jo sieht es so: „Das gewaltige göttliche Reich hat einen weitreichenden Schutzschirm. Den spannt es dann über jedes kleine Reich aus. Zudem hat es ungeheure Kraft und Größe. Und auch noch viele andere Vorteile. Die stehen allen kleinen Reichen nach ihrer Eingliederung voll zur Verfügung.“ Gut, das klingt verlockend.

Und Jo jetzt weiter: „Damit nun zurück zur Freiheit! In seinem eigenen kleinen Reich hat der Mensch die Freiheit, sich allerhand zu erlauben. Und auch mal rücksichtslos durchzuregieren.

Will er aber die Vorteile eines größeren Reiches nutzen, muss er etwas von seiner bisherigen Freiheit abtreten. Das ist in jeder guten Partnerschaft so. Unter Menschen wird da häufig erst einmal verhandelt. Danach wird etwas vereinbart. Und am Schluss wird dann in der Realität oft noch etwas Freiheit abgetreten.

Und das ist genauso, wenn sich der Mensch dem großen göttlichen Reich anschließt. Das kostet ihn einiges an Freiheit. Einige seiner bisherigen Möglichkeiten sind von da an tabu. Doch dafür erhält er ganz neue Möglichkeiten, die ihm weitreichende Spielräume erschließen. Das ist dann die neue göttliche Freiheit. Mit ihr gewinnt der Mensch mehr Sinn, Zufriedenheit und Lebenserfüllung.“

Draußen vor dem Fenster ist schon länger ein Brummen zu hören. Es schwillt immer wieder an und lässt dann wieder nach. Jo begibt sich schließlich ans Fenster, um die Geräuschquelle zu orten. Und er sieht: Auf einer Wiese in der Nähe wird Gras gemäht. Und wir verfolgen dann mit ihm am Fenster, wie eine große Maschine ihre Arbeit macht: Auf einem nicht sonderlich weiträumigen Wiesenstück pendelt sie langsam hin und her.

Jo nimmt nun das Geschehen da draußen als gutes Beispiel: „Dort hat sich ein kleines Reich mit einem großen Reich verbündet. Der Besitzer der Wiese ist im Nebenberuf Bauer, und sein Hof ist klein. Er selbst könnte nur mit billigen alten Maschinen sein Gras mähen, es wenden und als Heu einfahren. Das würde ihn aber viel Zeit kosten. Und das schränkt dann unter anderem seine Möglichkeiten ein, kleine Zeitfenster mit günstigem Wetter für die Ernte zu nutzen.

Da hat er sich nun mit einem großen Betrieb zusammengetan. Und der übernimmt für ihn alles. Denn der große Betrieb hat schnellere Maschinen, bessere Informationen und kann damit günstigere Entscheidungen treffen. Allerdings bestimmt der Bauer nun nicht mehr selbst über die Umstände der Ernte. Das ist ihm völlig aus der Hand genommen. Doch angesichts der Vorteile kann er das leicht verschmerzen: Denn die Ernte wird für ihn schnell, sicher und kostengünstig erledigt.“

Und nun kommt Jo zum Thema Freiheit zurück: „Der Bauer hat also ein Stück seiner Freiheit und Selbstbestimmung geopfert. Und so ist es auch, wenn ich meinen menschlichen Eigenwillen dem größeren Willen Gottes unterstelle und opfere. Dafür profitiere ich dann vom höheren und weiteren Horizont des Himmels. Und von seiner gewaltigen Macht. Gott kann mir dann etwa zu weitsichtigeren Entscheidungen verhelfen. Oder aber er regelt gleich selbst einige Dinge für mich – und zwar optimal.“

Das also ist der Punkt: Die Unterordnung des eigenen Willens unter den göttlichen Willen. Das ist nach Jo der Weg zu göttlicher Freiheit. Doch solch eine Unterordnung lässt sich sicher nicht einfach aus dem Ärmel schütteln. Da tun sich doch gleich Fragen auf!

Und Martina fragt nun auch: „Wie geht denn Unterordnung?“

Jo rückt erst einmal etwas zurecht: „Nur vordergründig geht es um Unterordnung. Tatsächlich aber soll mein eigener Wille mit Gottes Willen zur Deckung kommen. Er soll in ihn einschwingen und letztlich mit ihm verschmelzen. Gottes Wille soll ganz mein Wille werden. Und wir handeln dann auf einer gemeinsamen Ebene aus gemeinsamem Interesse.“ Und Jo erinnert noch einmal an die Partnerschaft unter Menschen: Auch da handelt ein gutes Paar oft in völliger Übereinstimmung und Eintracht.

Martina hakt nach: „Aber wie geht solche Verschmelzung?“

Jo sieht es so: Man muss erst einmal grundsätzlich die Absicht haben, den eigenen Willen mit Gottes Willen zur Deckung zu bringen. Und danach muss diese Absicht in unendlich vielen kleineren und größeren Entscheidungen in die Realität umgesetzt werden. Es ist jedes Mal ein kleineres oder größeres Opfer. Man zügelt immer neu den eigenen Willen und unterstellt ihn dem Willen Gottes. Die Zügelung wird dabei zu einer immer lieberen und leichteren Gewohnheit. Irgendwann wird sie völlig unnötig. Dann ist der eigene Wille ganz in Gottes Willen aufgegangen. Mit allen Vorteilen, die das bringt.

Dabei ist Jo ganz wichtig: Das ist aber nicht etwa einseitige Unterordnung! Auch Gott passt häufiger seinen Willen dem des Menschen an. Besonders dann, wenn der Mensch Gott sehr ergeben ist.

„Wie meinst du das?“ frage ich. „Nun,“ sagt Jo, „ganz einfach: Wenn der Mensch häufig auf Gottes Bitten hört, dann erfüllt Gott seinerseits diesem Menschen mehr von seinen Bittgebeten. Das ist Erfahrung.“

Das verstehen wir nun erst einmal. Martina interessiert jetzt aber noch: „Wie lange braucht es denn, bis der eigene Wille mit Gottes Willen zur Deckung kommt?“

Jo sieht es so: „Viel hängt davon ab, wie oft ein Mensch seinen Eigenwillen runterfährt und opfert. Und das ist von Mensch zu Mensch verschieden. Zugleich ist es bedeutsam, wie groß ein Opfer jeweils ist. Manche Menschen erreichen schon in jungen Jahren eine beachtliche Verschmelzung ihres Willens mit dem Willen Gottes. Bei anderen kann es Jahrzehnte dauern, bis sie auf diese Weise einen Zipfel göttlicher Freiheit erreichen. Und eine Unmenge Menschen kommt nie dahin.“

Damit wendet sich Jo nun nachdrücklich an uns: „Ihr habt extrem leichte Startbedingungen. Und ihr habt viel göttlichen Wind im Rücken. Deshalb ist meine persönliche Bitte an euch: Klinkt euch klar und entschieden in den Willen Gottes ein. Mit eurem ganzen Willen.“

So eindringlich spricht Jo selten. Und Martina reagiert zuerst: „Jo, ich bin absolut dabei!“

Was mich angeht, so hat Gott mir ja bereits göttliche Freiheit angeboten. Doch da verstand ich noch nicht, was er meinte. Und ich zögerte. Doch jetzt gibt es keinen Pardon mehr für mich. Und ich schließe mich voll und ganz Martina an.

24. Leiden und Demut

Unerwartet stehen Martina und ich vor einer kleinen Kapelle. Sie wirkt unscheinbar, liegt aber auf einem Hügel mit berauschendem Fernblick. Rechts und links schaut man weit ins Land hinein. Der Ort hat etwas Erhebendes.

Wir haben noch nie eine Kapelle besucht. Hier bei dieser ist die Tür offen, wie wir feststellen, und wir treten ein. Innen eine Bank und eine Altarfigur, die nicht viel von sich hermacht. Alles ist schlicht. Alles ist bescheiden. Nichts fasziniert hier und hält einen länger fest.

Wir wenden uns wieder dem Ausgang zu. Neben der Tür eine unauffällige Informationstafel. Gut, die können wir ja noch lesen. In kleiner Schrift wird über die Geschichte der Kapelle informiert. Doch dann beim Lesen: Die Kapelle wird immer erhabener und zu einem Ort, der einem Tränen in die Augen treiben könnte. Martina reibt sie sich zumindest. Und ich bin auch bewegt.

Denn die Tafel berichtet: Innerhalb von drei Jahren hat eine Bäuerin alle ihre Kinder verloren. Es waren sieben. Und kurz darauf starb auch noch ihr Mann. Dem Text nach ist die Frau aber daran nicht zerbrochen, sondern hat im Jahr danach die Kapelle errichten lassen. Und vier Jahre später hat sie auch noch eine Glocke für die Pfarrkirche des Ortes gestiftet. Das war vor 150 Jahren.

Wir fragen uns ergriffen und voll Bewunderung: Was war das bloß für eine Frau? Schon ihrer Mitwelt muss ihre Haltung als unfassbar erschienen sein. Damals wurden ja manchmal Kapellen nach hilfreichen Wundern als Zeichen für überschwänglichen Dank errichtet. Aber bei der Frau hat doch eine Todesserie die gesamte engste Familie ausgelöscht. Und da soll es auch noch etwas zu danken gegeben haben? Das strapaziert unsere Vorstellungskraft aufs Ungeheuerlichste.

Ich stelle kopfschüttelnd fest: „Was für eine gigantische Prüfung! Da muss man sich doch eigentlich empören, gegen Gott aufstehen und ihm fristlos kündigen. Ihr Mann jedenfalls hat es nicht geschafft, mit der familiären Katastrophe weiterzuleben.“

Martina allerdings wagt eine Erklärung: „Wenn sich die Frau bei der Todesserie seelisch über Wasser halten konnte, muss es einfach so gewesen sein: Die fromme Frau hat sich vom Himmel gestützt und durchgetragen gefühlt. Und das war für sie ein heimliches und unerwartetes überirdisches Glück.“

Martina bringt mich damit auf den Gedanken: „Die Frau könnte sich bei jedem Tod zu den Worten durchgerungen haben: Gott, dein Wille geschehe! Sie hat ihren eigenen Willen und die eigenen Wünsche Gott geopfert. Und dafür hat Gott sie dann innerlich überreich belohnt. Sie wurde nicht bitter und blieb nicht in tiefster Trauer hängen.“

Irgendwie arbeiten wir uns dahin vor, wohin wir wohl kommen sollen. Und Martina trifft es dann vermutlich mit: „Der Mensch schafft es nicht allein, sich immer wieder Gottes Willen unterzuordnen. Gott muss ihm dabei unter die Arme greifen. Und das hat er bei der Frau getan.“

Sind wir deshalb hier? Will Gott uns sagen, wir brauchen sein Zutun, um in Einklang mit seinem Willen zu kommen? Und verspricht er uns zugleich seinen Beistand dafür?

Martina hat nun die Idee, Gott selbst zu fragen. Und sie schlägt vor, das Kniebrett in der Kapelle auch tatsächlich zum Knien zu nutzen. Als Ehrerweisung für Gott. Und ebenso als Ehrung für die beeindruckende und bewundernswerte Bauersfrau. Ich nehme gern Martinas Vorschlag an, und es wird nun ganz still in der Kapelle.

Nach einiger Zeit taucht in mir der Satz auf: „Loslassen ist der erste Schritt zur Freiheit.“ Mehr kommt nicht. Ich wende mich nun fragend Martina zu. Sie bemerkt es und sagt: „Ich habe gehört: Demut kostet.“

Über beides müssen wir jetzt sprechen. Wir beschließen, es draußen auf der Bank neben der Kapelle zu tun. Da, wo der Himmel groß ist und der Blick weit.

Die Bauersfrau hat losgelassen, so verstehen wir dort Gottes ersten Satz. Sie hat erst ihre Kinder und ihren Mann losgelassen. Und dann auch noch sich selbst und ihr Leid. Damit hat sie sich davor bewahrt, sich in einem Netz aus Schmerz und Trauer zu verfangen, das sich immer weiter zuzieht.

Das allerdings ging sicherlich nicht mit einem Fingerschnippen. Sondern das hat die Frau Schweiß und Tränen gekostet. Sie hat schwer mit sich selbst gerungen und an sich selbst gearbeitet. Zugleich hat sie auch viel gebetet und Gott um Hilfe angefleht. So verstehen wir den zweiten Satz: Demut kostet. Aber gerade deshalb hat Gott dann auch seinen Teil dazu tun können. Und er hat ihrer Seele aus der Dunkelheit ins Licht geholfen.

Und dabei ist wohl ein entscheidender Punkt: Die Frau hat gleich den Tod des ersten Kindes auf solche Weise verarbeitet. Und da erlebte sie bereits: Gott nimmt ihr die Schmerz- und Trauerlast von der Seele, sie kann aufatmen. Durch diese Erfahrung gestärkt, hat sie die weiteren Tode mit wachsender Zuversicht auf göttliche Hilfe durchgestanden. Und am Ende hat sie aus vollem Herzen Kapelle und Glocke gestiftet. Wir dürfen und sollten also den Satz „Demut kostet“ noch unbedingt ergänzen. Denn wie sich an der Frau zeigte, gilt am Ende sogar: Demut gewinnt!

Was aber hat es eigentlich mit Demut auf sich? Etwas loszulassen kostet. Und das heißt: Man verliert etwas, wird ein Stück kleiner und leerer. Man verliert dabei auch Eigenwillen und eigenwillige Ziele. Und sind Herz und Hände dann erst einmal deutlich freier und leerer, können sie wieder gefüllt werden. Und zwar mit speziellen Gottesgeschenken. Gott kann nun seinen eigenen wohlwollenden Willen und seine kostbaren Ziele hineingeben.

Demut ist also mehr als Bescheidenheit, das wird uns klar. Sie ist die Unterordnung unter etwas viel Größeres. Sie ist eine tiefe Verbeugung vor Gott.

Und damit sind wir bei uns selbst: Wir spüren, dass uns Gott die Bauersfrau als Vorbild vor Augen stellt. Und dass Gott uns fragt: Sind wir bereit, wie jene Frau einige Zumutungen tapfer durchzustehen? Und wollen wir uns tiefer auf seinen Willen einlassen und uns in ihn einklinken?

Ich gebe uns nun erst einmal zu bedenken: „Lassen wir nicht schon viel mit uns machen? Mal hier auftauchen, mal dort – ganz ungefragt? Liefern wir uns nicht schon ganz schön weit Gottes Willen aus?“

Doch Martina hält dagegen: „Aber Gott könnte doch noch viel mehr für uns auf Lager haben. Willst du das nicht abrufen? Mehr göttliche Freiheit und Freude? Mehr Lebenserfüllung?“

Ja, es könnte engstirnige Dummheit sein, sich das entgehen zu lassen! Und so einigen wir uns darauf: Wir gehen noch einmal auf das Kniebrett in der Kapelle. Und da erklären wir Gott unsere absolut uneingeschränkte Bereitschaft.

Gesagt, getan. Und als wir dann die Kapelle verlassen, sagt Martina: „Du, wir müssen aber denjenigen sagen, die das Buch lesen: Die Bauersfrau hat wirklich gelebt. Sie ist absolute Realität!“ Ich sage ihr: „Ok, das mache ich!“ Und hiermit geschieht es.

Ein Rückschlag

25. Krankheit und Angst

Wir sind wieder mal bei Jo. Dieses Mal hängt allerdings Martina etwas in ihrem Sessel. Jo fragt sie: „Geht es dir nicht gut?“ Martina erklärt: „Jetzt weiß ich, was Kopfschmerzen sind. Und ich bin ziemlich schlapp.“

Das kommt nun allerdings wie aus heiterem Himmel. Uns sind bisher körperliche Beschwerden fremd. Wir waren immer topfit. Und bis jetzt lag es außerhalb meiner Vorstellungskraft, dass wir jemals krank werden könnten. Und nun passiert es?

Auch Jo ist irritiert. An solch eine Situation hat er offenbar selbst noch nicht gedacht. Nun fragt er: „Was machen wir denn jetzt? Meinst du, es tut dir gut, dich auf die Couch zu legen?“ Er deutet in Richtung Couch. Martina zögert kurz, dann nimmt sie das Angebot an. Und Jo entschließt sich auch noch, eine Schmerztablette zu holen.

Martina legt sich. Ich helfe ihr, die Decke über sich zu ziehen, die auf der Couch liegt. Ganz besorgt frage ich: „Ist es schlimm?“ Martina blickt mich an und meint leicht stöhnend: „Dass ein Kopf so weh tun kann!“ Ich lege meine Hand auf ihren Arm. Mir gehen ihre Worte durch und durch.

Jo kommt mit Tablette und einem Glas Wasser zurück. Martina nimmt, trinkt und schluckt. Mehr ist erst einmal nicht zu tun. Und Jo erklärt: „Wenn ein normaler Mensch krank wird, wartet man meistens erst einmal ab. Und das tun wir jetzt auch.“

Dann fragt Jo nach der Kapelle. Wir berichten von unserem Besuch dort – das heißt: Ich tue es vor allem. Martina wirft nur kurz einmal etwas ein. Jo meint schließlich: „Ich glaube, die Kapelle sollte euch auf schwierigere Zeiten vorbereiten. Und die beginnen gerade. Eure ziemlich unbeschwerten Tage sind erst einmal vorbei.“

Das will mir nicht in den Kopf. Ich sage: „Hey Jo, du siehst aber gleich sehr schwarz! Da komme ich nicht mit!“ Jo schaut mich nachdenklich an. Dann meint er: „Das musst du auch nicht. Wir schauen einfach mal, wie sich die Dinge entwickeln.“

Martina rührt sich. Sie sagt: „Arno, ich fürchte, Jo hat recht.“ Und ich: „Ok, wenn man Kopfschmerzen hat, sieht die Welt wohl eher düster aus. Das kann ich verstehen. Ich hoffe, die Tablette wirkt bald.“ Martina darauf ziemlich beklommen: „Du, ich fühle mich schon merkwürdig schwach.“

Jetzt kriecht doch etwas in mir hoch, merke ich. Etwas, das ich so noch nicht kenne: Es muss Angst sein. Die Situation ist letztlich undurchschaubar. Und da pocht vielleicht tatsächlich unüberhörbar Unheil an die Tür.

Der Besuch in der Kapelle sollte uns vielleicht vorbereiten, meint Jo. Heißt das: Es könnten Schicksalsschläge anstehen wie bei der Bauersfrau? Das wäre mehr als heftig! Oh, wie geht man bloß mit Angst um?

Und dann kocht etwas in mir über: Nein, ich will Martina nicht verlieren! Ich will nicht, dass sie stirbt!

Ich kriege mich zwar gleich wieder ein. Aber eins ist klar: Mein Ich–will–nicht! ist genau der Eigenwille, den die Bäuerin in sich niedergekämpft hat. Was für eine Situation, was für ein Tag!

26. Krankheit und Gottvertrauen

Am nächsten Morgen bin ich wieder bei Jo. Nun steht ein Bett im Arbeitszimmer. Und ich sehe: Martina liegt darin mit geschlossenen Augen. So etwas!

Jo sitzt vor seinem Bildschirm. Als er mich bemerkt, sagt er leise auf Martina weisend: „Sie schläft jetzt das erste Mal in ihrem Leben. Ich habe vorsichtshalber schon gestern ein Bett hereinstellen lassen. Martina kam vor einer Stunde, hat sich gern ins Bett gelegt und war gleich weg.“

„Und wie geht es ihr?“ frage ich mit gedämpfter Stimme. Jo: „Sie ist immer noch sehr schlapp und müde. Und sie braucht Schmerztabletten. Was aber wirklich los ist, ist unklar.“

„Wann holt man denn einen Arzt?“ will ich nun wissen. Jo: „Na, so vielleicht am vierten Tag, wenn sich nichts ändert. Nur: Ihr seid eine Sonderklasse Mensch. Ihr braucht nichts zu essen, und ihr braucht keine Toilette. Da ist völlig undurchsichtig, wie es mit euren Organen aussieht. Kann da ein Arzt überhaupt eine sinnvolle Diagnose stellen? Ich denke, wir sollten erst einmal abwarten.“

Die völlig undurchschaubare Situation schüchtert mich ein. Jo merkt es und meint, dies sei nun so etwas wie eine Standardsituation für angewandtes Gottvertrauen. Und wenn es damit noch hapert, dann soll man eben dabei Gottvertrauen lernen. Das wirft er mir einfach so hin.

Ich erinnere mich vage, dass die Pfarrerin im Fernsehgottesdienst auch mal etwas zum Gottvertrauen gesagt hat. Aber was? Da frage ich doch jetzt mal ganz dumm: „Warum muss man denn eigentlich auf Gott vertrauen?“ Jo zuckt etwas zusammen und merkt, dass er einen ABC-Schüler in Sachen Gottvertrauen vor sich hat. Er muss erst einmal Grundwissen vermitteln.

Und Jo sieht zwei Gründe für Gottvertrauen: Erstens wünscht Gott sich das. Denn wenn Menschen ihm vertrauen, ist es leichter für ihn, sie zu trösten, ihnen zu helfen, sie zu ermutigen und sie zu beschenken.

Und zweitens erleichtert Gottvertrauen den Menschen das Leben. Denn wer Gott eng verbunden ist und ihm vertraut, braucht keine Angst zu haben, selbst wenn es mal hart auf hart kommt. Er kann im Leben leichter Unannehmlichkeiten annehmen und verdauen. Und er braucht sich weniger Sorgen zu machen. Und er empfindet mehr Geborgenheit und zugleich Freiheit.

Zudem ist ein Mensch mit Gottvertrauen offener für Gottes Wohltaten. Er erkennt sie leichter. Er kann sich auch häufiger daran freuen. Und er kann überhaupt sein Dasein als ein kostbares Geschenk erleben.

Da ist jetzt nur noch die Frage: „Und wie kommt man an Gottvertrauen?“ Doch nun kommt Jo ins Stolpern. Er will ansetzen, zieht aber Gedanken und Worte wieder zurück. Überlegt neu. Und sagt schließlich: „Ich merke, das Thema ist noch nicht dran.“

Gerade jetzt schlägt Martina die Augen auf und sagt: „Hallo, Arno!“ Ich grüße zurück und erkundige mich nach ihrem Befinden. Sie wiederholt, was Jo schon dazu gesagt hat. Dann frage ich: „Und wie ist Schlafen?“ „Das ist einfach weg sein – so wie auch sonst bei uns. Nur man kann dabei auch noch träumen. Und das ist neu.“ „Ist das denn schön?“ „Teils, teils – jedenfalls war Jesus da und hat im Traum mit mir gesprochen.“

Ich schaue sie an. Und dann rückt sie damit heraus: Jesus hat ihr gesagt, sie solle Hilflosigkeit erleben. So wie alle Menschen immer wieder Hilflosigkeit zu spüren bekommen. Oh, das erschreckt mich nun aber. Und das tut mir weh!

Ich frage sie: „Wie geht es dir damit?“ Und sie: „Ich habe euch schon sprechen gehört. Aber ich musste noch bei der Hilflosigkeit bleiben. Und es ist wirklich so: Ich fühle mich ganz schön ohnmächtig.“ Aber sie fügt schnell hinzu: Tröstlich sei immerhin, dass Jesus ihr das gesagt hat. Und das, meint sie, wird nicht sein letztes Wort sein.

27. Ohnmacht und Tod

Am nächsten Tag liegt Martina weiterhin im Bett. Nur das Kopfteil ist etwas angehoben. Und Jo hat ihr schon zu einer Schmerztablette verholfen.

Die Stimmung ist gedämpft, und ein Gespräch kommt nur schwer in Gang. Doch dann fragt Martina unvermittelt: „Jo, warst du schon mal dabei, als ein Mensch gestorben ist?“ Jo bejaht das erstaunt. Und Martina möchte wissen: „Wie war das?“

Jo zögert. Man sieht: Das Thema behagt ihm nicht. Er überlegt. Aber schließlich lässt er sich doch darauf ein. Er berichtet von der Begleitung eines Menschen in dessen letzten Monaten.

Zuerst fällt ihm die Phase der Wut ein. Das Ende war da schon absehbar. Und der Schwerstkranke fühlte sich ohnmächtig dem ausgeliefert, was unaufhaltsam auf ihn zukam. Er versuchte, sich mit Händen und Füßen gegen das Unausweichliche zu wehren. Aber irgendwann war schließlich das Einverständnis mit dem da, was einfach nicht zu ändern war.

Jo blickt nun Martina an. Und Martina fühlt sich gefragt und sagt: „Oh, ich arbeite auch daran!“

Jo weiter: Die Begleitung des Sterbenden hat ihn teilweise bis über seine Grenzen hinaus strapaziert. Und nach dessen Tod war Jo, als fiele ein schwerer Sack von seinen Schultern. Doch zugleich klaffte auch eine drastische Lücke. Sie war wie ein schmerzendes riesiges Loch.

Und nun wird Jo auffällig still. Schließlich kommt von ihm: „Wenn ihr mal weg seid, wenn also das Buch fertig ist, wird sich auch ein Loch auftun.“

Ich frage: „Warum?“ Und Jo: „Jeden Tag bin ich mit euch beschäftigt. Und das sollte eigentlich noch länger so sein. Aber abends liege ich doch manchmal im Bett und weiß nicht: Werdet ihr am nächsten Tag wieder lebendig um mich sein? Und da pirscht sich gelegentlich das schreckliche Gefühl an, dass das Buch auch mal schlagartig zu Ende sein könnte.“

Martina daraufhin ganz direkt: „Jo, wie werden wir enden?“

Da holt Jo etwas aus: „Am besten ist, wenn man über einen Menschen am Ende sagen kann: Er hatte ein erfülltes Leben. Und das wünsche ich euch sehr. Aber egal ob nun erfüllt oder nicht: Am Ende liegt jeder Mensch als Leiche da. Eine unfassbare Situation! Der Mensch ist noch da, und zugleich ist er schon weit, weit weg. Vermutlich werdet ihr am Ende auch einfach weg sein. Nur von euch liegt dann kein toter Körper da. Und es ist dann einfach so, als seid ihr plötzlich abgereist.“

Nun geht Jo noch einmal kurz zurück: „Übrigens: Wenn ich abends traurig im Bett liege, ratlos bin und nicht weiter weiß, fühle ich mich auch ziemlich ohnmächtig. So wie du, Martina.“ Und dann sagt er ihr mit Nachdruck: „Selbst wenn du jetzt krank bist: Es ist schön, dass du weiterhin da bist!“

Ich möchte nun unbedingt von Jo wissen: „Aber wie kommst du dann aus deiner Ohnmacht raus?“ Und Jo: „Ich nehme morgens Kontakt auf mit Gott, dem Schöpfer aller Dinge. In seiner Gegenwart denke und fühle ich. Und ich warte auf eine gute Eingebung. Die kommt dann fast immer, und so lebt ihr auf und lebt ein Stück weiter.“

Ein merkwürdiges Gefühl, mit dem eigenen Leben auf der Kippe zu stehen! Jeden Tag. Das ist so etwas von brisant! Die normalen Menschen haben zwar insgesamt viel, viel mehr in ihrem Leben zu tragen als wir. Aber ihre Existenz ist nie Tag für Tag so gefährdet wie unsere.

Ich setze mich zu Martina aufs Bett und lege wieder mal meine Hand auf ihren Arm. Solche Gefährdung macht auch mich ein Stück ohnmächtig.

28. Lehr- und Lernzeit

Mich hat es an das Ufer eines größeren Flusses versetzt. Der Himmel ist trüb und matt. Ein kleines Stück Sandstrand liegt vor mir. Es ist noch feucht vom Regen und leicht verschmutzt. Immerhin lockt am Rand ein leidlich trockenes Graspolster. Ich setze mich darauf.

Der Fluss schiebt sich gemächlich voran. Zwei Paddler kommen in Sicht, ein Paar in einem Boot. Sie lassen sich langsam abwärts treiben. Einmal korrigieren sie kurz die Ausrichtung des Bootes. Dann sitzen sie wieder still und schweigen.

Etwas oberhalb von mir ein Angler. Ab und an holt er seinen Angelhaken wieder ein und wirft ihn in hohem Bogen erneut hinaus. Er angelt nach einem Lebewesen, um ihm das Leben zu nehmen.

Traurig sitze ich da. Martina ist krank, und das in undurchsichtiger Weise. Und noch mehr: Jeden Tag ist ihr und mein Leben aufs Neue gefährdet. Und Jo ist ganz offenbar keine standfeste Säule, an die man sich bedenkenlos anlehnen kann.

Der Angler zieht einen Fisch heraus. Er löst ihn vom Haken und wirft ihn in einen Eimer. Und der Fisch, dessen Kiemen Wasser zum Atmen brauchen, erstickt jetzt an der Luft. Ja, das Thema Tod ist akut. Es hat mich unversehens erwischt. Und mein Denken ist so matt wie der Himmel.

Unerwartet höre ich ein freundliches „Du bist traurig!“ neben mir. Ich sehe zur Seite: Da sitzt Jesus auf einem anderen Graspolster. Ja, ich bestätige ihm, dass ich bekümmert bin. Aber zugleich atme ich auf, weil er da ist.

„Euch ist es eine Weile ganz gut gegangen“, sagt Jesus. „Aber ihr wollt mehr, ihr habt euch ja entschieden, Aufgaben zu übernehmen. Ihr wollt nicht nur fröhlich und verantwortungslos im Weltgeschehen herumhüpfen. Und Aufgaben bringen nun einmal Arbeit, Stress und Konflikte mit sich. Auch Ohnmacht ist ab und an dabei.“

Das klingt zwar nicht vergnüglich, aber es hört sich immerhin nach tieferem Sinn an. Der interessiert mich dann schon. Also frage ich: „Und warum muss das sein?“

„Weißt du,“ sagt Jesus, „es gibt Menschen, die haben sich einmal Gewissheiten angeeignet und wissen nun ein für allemal Bescheid. Sie werden starr, selbstgewiss und selbstgerecht. Die wissen auch ein für allemal, was Gott will und was nicht. Sie machen so Gott zu einem starren und toten Gott. Sie nehmen ihm jede Lebendigkeit. Aber Jo ist da anders. Er macht das nicht mit!“

„Und was macht Jo?“ „Jo lässt Zweifel zu – an sich und an Gott. Er lässt sich auf Ratlosigkeit und Ohnmacht ein, die heftige Zweifel mit sich bringen können. So bleibt er anpassungsfähig. Denn für ihn ist Gott lebendig. Für ihn entscheidet Gott von Tag zu Tag und von Situation zu Situation neu.

Von Jos Haltung profitieren auch andere. Denn solche wie er, die Zweifel und Ratlosigkeit kennen, gehen oft sanfter und verständnisvoller mit anderen Menschen um. Besonders mit denen, die in ähnlicher Situation sind. Gelegentlich zweifelnde Menschen fordern deshalb oft weniger von anderen, geben ihnen aber zugleich mehr. Das kommt auch euch zugute.“

Und dann weist Jesus darauf hin: Gott zeigt häufig einem Menschen erst einmal eine verlockende Zukunft. Das hat er ja schon bei uns gemacht. Und wenn dann der Mensch anbeißt und dahin möchte, kommt er erst einmal ins Stolpern. Gerade solche Momente des Stolperns zeigen ihm dann, wo er unbedingt noch seine Fähigkeiten aufstocken muss.

Ich frage: „Das gilt auch für uns?“ „Ja. Und das gilt genauso für Jo. Denn er soll euch Tag für Tag in eurem Leben voranzubringen. Dafür aber braucht er immer neue Ratlosigkeit. Die bringt ihn dazu, sich wieder und wieder an Gott zu wenden. Nur so erfährt er, wie es aus höherer göttlicher Perspektive mit euch weitergehen kann und soll.“

„Und bei Jo sind wir gut aufgehoben?“ Jesus meint nun, jeder Mensch könne immer noch ein Stück weiter reifen und Gott entgegenwachsen. Aber Gott selbst hat nun einmal Jo für uns als Berater und Betreuer ausgesucht – und niemand anderen. Und das will schon was heißen.

Ich schaue aufs Wasser: Ein Fisch platscht gerade in diesem Moment. Auf der anderen Seite kommt ein Hund herunter ans Wasser und schnüffelt herum. Ein Pfiff ruft ihn zurück zu einem unsichtbaren Herrchen oder Frauchen. Ein größeres schwarzes Baumstück schiebt sich unendlich langsam vorbei.

Mir kommt nun wieder Martina in den Sinn. Und meine Traurigkeit ihretwegen. Ich frage also Jesus: „Wie geht es denn mit Martina weiter? Ich habe Angst, dass sie schwächer und schwächer wird und dass ich sie ganz verlieren könnte. Mir geht schon die ganze Zeit das Thema Tod im Kopf herum.“

„Angst macht hilflos. Aber Martina wird dir erhalten bleiben. Sie teilt nur gerade ein ganz klein wenig das Leid von Menschen, die krank sind oder anders leiden. Das ist eine Lehr- und Lernzeit für euch beide. “

„Was lernen wir denn?“ „An erster Stelle: Leid zu akzeptieren. Bei euch selbst und bei anderen. Und das ist nicht zuletzt auch deine Aufgabe: Denn du leidest ja mit Martina mit.“

Etwas ungläubig frage ich nach: „Das ist wirklich eine große Lernaufgabe?“ Und Jesus: „Wenn der Schmerz richtig heftig und die Situation ziemlich verzweifelt ist – dann gewiss. Es kann extrem anstrengend sein, solch eine Prüfung mit Bravour durchzustehen. Du steckst ja Martinas Krankheit auch nicht locker weg. Kommst du da aber einigermaßen aufrecht hindurch, fällt es dir danach leichter, Gott in weniger schwierigen Dingen deinen Willen zu unterstellen.“

Jesus lächelt mich an mit einem unerhörten Wohlwollen. Es geht mir durch und durch. Ich merke: Ich habe großes Vertrauen zu ihm. Und er verabschiedet sich auch noch mit einem liebevollen Wink.

Die Paddler sind nun längst entschwunden. Der Angler hat seine Sachen gepackt und die toten Fische mitgenommen. Und der immer noch trübe Tag wirkt nun um vieles heller. Ich merke, ich habe wieder Kraft. Und ich kann mich wieder der Situation in Jos Arbeitszimmer stellen.

29. Gebet und Zeit

Ich bin mal wieder in Jos Arbeitszimmer. Martinas Bett ist leer. Und Jo ist auch noch nicht da.

Draußen in der Landschaft sieht es nach Regen aus. Drinnen schlendere ich an den Bücherregalen entlang, entziffere ein paar Buchtitel und stelle fest: Nichts für mich dabei. Dann zu Jos Arbeitstisch. Darauf ein leichtes Durcheinander. An einer Stelle lugen halb verdeckt ein paar bebilderte Seiten hervor. Sie blicken mich herausfordernd an und wollen einfach hervorgezogen werden. Und ich beginne zu lesen.

Es geht ums Gebet. Ein Mann wird vorgestellt: Eine tiefe Unzufriedenheit trieb ihn dazu, sich viel mehr Zeit für Gott zu nehmen als bisher. Er gab sogar seinen Beruf auf. Und er ging oft betend in der Waschküche seines Hauses auf und ab. Aus diesem kümmerlichen und zugleich verwegenen Anfang wurde mit den Jahren eine Gebetsstätte, an der heute viele Menschen rund um die Uhr beten. Und dieser Ort hat Ausstrahlung: Er wird inzwischen von Bedürftigen hoch geschätzt und ist für so manche Menschen ein Durchlauferhitzer für neues und intensiveres Leben mit Gott.

Für mich ist dieser Artikel ein kleiner Rippenstoß. Die Seiten liegen da und flehen mich fast an: Mach etwas aus uns! Sie sind wie ein göttlicher Impuls, der bei mir vorgelassen werden möchte. Nur worum geht es? Mehr beten? Und wofür?

Hinter mir räuspert sich jemand. Ich drehe mich um und sehe nun Martina im Bett. Schön, dass sie wieder da ist! Aber es ist traurig, wie sie entkräftet und irgendwie hinfällig daliegt. Sie trägt nun Pyjama. Und das deutet auf eine langwierige Bettlägerigkeit hin.

„Noch immer schwach?“ frage ich. Ja! Und es geht ihr nicht besser. Sie bittet gleich um eine Schmerztablette. Jo hat auf seinem Arbeitstisch eine Pille unübersehbar platziert und schon ein Glas Wasser dazugestellt.

Ich frage Martina, wie ihr Leben nun aus der Bettperspektive aussieht. Sie: „Es rumort in mir. Da treibt sich ein hartnäckiges Warum in mir herum. Und dem muss ich immer wieder auf den Kopf hauen.“

Ich will sie ablenken. Ich erzähle Martina von einem schweigend dahintreibenden Paddelboot. Und ebenso von einem Fischer, der seine geangelten Fische von der frischen Luft umbringen lässt. Und dann komme ich zu Jesus. Er war sich nicht zu schade, sich auf ein noch nicht ganz abgetrocknetes Graspolster neben mich zu setzen.

Ob Jesus denn auch etwas zu ihr gesagt habe? Oh ja! Und ich reiche an sie weiter: Jesus sieht ihre Schwäche und Bettlägerigkeit als Lehr- und Lernzeit für uns beide an. Das ist Martina nicht fremd: Sie erinnert mich an die Kapelle: Da waren wir doch auf Knien bereit, immer tiefer in Gottes Willen einzuschwingen. Und nun ist halt praktisches Üben angesagt. Sie arbeitet schon daran, sich immer neu mit ihrer Schwäche anzufreunden.

Nun kommen mir die Seiten auf Jos Arbeitstisch in den Sinn. Ich fasse Martina den Inhalt knapp zusammen. Und stelle fest: „Die Seiten haben Widerhaken und lassen mich nicht los. Ich möchte nun unbedingt Jo zum Thema Gebet hören.“ Martina hat nichts dagegen.

Jo hat ein Smartphone auf seinem Arbeitstisch hinterlassen. Ist er nicht da, können wir ihn damit herbeibitten. Jetzt ist der Moment für einen Test gekommen: Funktioniert sein Rufsystem? Tatsächlich meldet sich Jo sofort, und er verspricht baldmöglichstes Erscheinen.

Und er hält sein Versprechen, kommt und fragt: „Was liegt an?“ Ich: „Das Thema Gebet!“ Und ich gestehe, dass ich mich auf seinem Arbeitstisch bedient und mir da ein paar Seiten zu Gemüte geführt habe.

„Ah, dir geht es also ums Gebet?“ Jo erinnert uns daran, dass wir schon über das Gebet gesprochen haben. Damals allerdings ging es um das Beten für andere. „Doch jetzt“, stellt er fest, „seid ihr in einer bedenklichen Lage. Da muss es jetzt um das Gebet für euch selbst gehen.“

Und dann erklärt er: Eine eigene schwierige Lage ist immer ein Aufruf von Gott zum Gebet. Denn Gott will dem Menschen näher kommen. Und ernstere Probleme können eben der Anlass sein, mal wieder den Kopf zu heben und sich an Gott zu wenden. Deshalb muss der Mensch ab und an unbedingt Probleme haben! Und das heißt für Jo: Martinas Schwäche und unser beider Hilflosigkeit sollen uns ins Beten bringen.

Martina meldet sich: Sie will nun in einen Sessel. Da kann sie besser mitdenken, meint sie. Sie richtet sich auf und setzt sich auf die Bettkante. Aber ihr wird da schwindelig. Sie bittet um eine helfende Hand. Ich erleichtere ihr mit meiner Hand den Ortswechsel. Und ich bin ihr auch noch dabei behilflich, sich in zwei Decken einzuwickeln.

Dann will Martina als Erstes wissen: „Um was sollen wir denn genau beten?“ „Ganz einfach“, sagt Jo, „du bist krank. Und gerade jetzt kommt das Thema Gebet auf den Tisch. Wenn ich nun eins und eins zusammenzähle, heißt das: Das Gebet um deine Wiederherstellung ist dran.“ „Dem widerspricht aber doch, dass ich meine Schwäche annehmen soll!“ Und Jo: „Du kannst beides verbinden: „Du betest für deine Gesundung. Doch zugleich sagst du Gott: Aber nur dein Wille geschehe!“

„Und wie lange soll ich so beten?“ Jo: „Bis du gesund bist. Oder bis dir Gott klarmacht, dass du damit aufhören kannst oder sollst.“ „Und wie lange kann das gehen?“ Jo: „Menschen haben bei Krankheit oder anderen Problemen schon Jahre gebetet – und dann ist plötzlich in verblüffender Weise eingetreten, worum sie gebetet haben.“

Jetzt mische ich mich ein: „Jo, aber nur wenige Menschen haben einen so langen Atem!“ Jo: „Das stimmt! Deshalb ist etwas anderes noch wichtiger: Möglichst viel intime und beglückende Nähe mit Gott. Damit kann man länger durchhalten.“

Ich erstaunt: „Was meinst du mit Nähe?“ Und Jo: „Also, wenn du einem Menschen nur zwischen Tür und Angel begegnest, kann sich keine Nähe entwickeln. Du kannst grüßen oder schnell eine Bitte an ihn loswerden. Aber intime Nähe ergibt sich so nicht.“ Ok, das verstehe ich.

„Nähe braucht Zeit. Unbedingt Zeit! Eine intime Nähe zu Gott entwickelt sich nur, wenn man sich genug Zeit für ihn nimmt. Mal schnell – husch, husch – ein paar Bittgebete an Gott loslassen, das bringt Gott nicht näher. Und zudem ist die Frage, ob das viel nützt und ob Gott darauf hört.“

Ich nun: „Aber worauf hört Gott?“ „Gott hört besonders dann auf dich, wenn du auch deinerseits auf ihn hörst. Nur durch gegenseitigen Austausch entsteht Nähe. Rede und Gegenrede sind nötig. Gegenseitiges Hinhören ist bei gutem Austausch einfach Pflicht. Das allerdings braucht Zeit.“

„Rede und Gegenrede hat es schon gegeben zwischen Gott und mir“, werfe ich ein. Jo lächelt: „Ich weiß. Aber eigentlich doch nur ein einziges Mal beim Fernsehgottesdienst. Das muss häufiger geschehen, wenn Nähe entstehen soll. Das letztendliche Ziel ist: Dass man ständig mit Gott im Gespräch ist – wo immer man sich auch aufhält und was immer man tut.“

Nun schaltet sich Martina ein: „Das geht doch gar nicht!“ Jo: „Es gibt Menschen, die sind schon recht dicht dran. Die sprechen jedenfalls am Tag häufiger mit Gott als andere mit ihrem Smartphone.“

Dann überlegt Jo und meint: „Ich selbst könnte auch noch dichter dran sein. Aber immerhin kann ich schon gut mal eine Stunde sitzen. Dabei wechsele ich nur hin und wieder ein paar Worte mit Gott. Zwischendurch bin ich ganz still, oder ich denke in Gottes Gegenwart nach. Auf jeden Fall bin ich dabei offener für seine Eingebungen als sonst. Und ihr beiden profitiert davon.“

Martina und ich schauen uns an: Jo hat gerade mal wieder etwas Persönliches preisgegeben. Das tut er so selten. Er spricht relativ wenig über sich selbst. Umso mehr Gewicht haben dann seine Worte.

Und nun möchte Jo noch loswerden: „Es ist viel möglich in der Zeit, die man Gott schenkt. Und die man auf einer Zeitinsel mit ihm verbringt, die vom Alltag losgelöst ist. Wenn man da Gott eine Bitte vorträgt, antwortet er manchmal sofort. Etwa indem er gleich eine gute Idee gibt. Oder indem er manchmal auch klar Nein sagt. Dann muss man nicht tage- oder wochenlang darauf warten, ob er nun eine Bitte erfüllt oder nicht.

Oder man dankt in der Zeit Gott für etwas, was einem gut getan hat. Oder man lobt ihn für eine Sache, die er perfekt geregelt hat. Oder man freut sich in seiner Gegenwart ausdrücklich darüber, dass es ihn überhaupt gibt. Und immer ist es so: Das verbessert enorm das Klima.

Und auch das geschieht manchmal: Gott seinerseits dankt uns dann. Oder er lobt uns in höchsten Tönen. Das sind Momente, die uns ganz dicht an ihn heranrücken.“

Und dann fällt Jo noch ein: „Eine längere Zeit in der Nähe Gottes wirkt über Zeitinseln hinaus. Sie beeinflusst auch sonst das Denken, Fühlen und Tun. Und je mehr Zeit man auf solchen Inseln verbringt, desto mehr prägt es das Leben.“

Jetzt schweigt Jo. Und wir schweigen auch. Dann lacht Jo unerwartet. Wir schauen ihn neugierig an. „Wisst ihr“, schiebt er jetzt auch noch nach, „auf so einer Zeitinsel einige Zeit mit Gott zu verbringen, das kann wie ein entspannter Urlaub mit Gott sein. Man plaudert mit ihm, lacht mit ihm. Der Umgang wird spielerisch. Und das Leben gewinnt eine unbefangene Leichtigkeit.“

Nach einigen Minuten bittet Martina mich, sie zum Bett zurückzubegleiten. Ich tue es. Danach liegt sie mit geschlossenen Augen da. Vielleicht nimmt sie sich gerade Zeit für Gott.

Das will ich dann auch tun. Denn „Urlaub mit Gott“, das klingt so verheißungsvoll! Aber da hat Jo noch ein Anliegen: „Arno, schlag doch den Leserinnen und Lesern auch die Zeitinsel mit Gott vor.“ Lieber Jo, als wenn die nicht schon von allein daran denken!

Jo geht. Und ich gönne mir nun selbst Zeit mit Gott. Für entspanntes Lachen reicht es aber leider noch nicht. Dafür bin ich gegenwärtig zu nervös.

Als ich danach zu Martina hinüberblicke, ist sie schon wieder fort und ihr Sessel leer.

30. Erdenschwere und himmlische Leichtigkeit

Martina sitzt bereits im Sessel, als ich erneut bei Jo auftauche. Ich frage hoffnungsvoll: „Geht es dir etwas besser?“ Martina schüttelt nur traurig den Kopf.

Jo arbeitet. Er tippt noch schnell ein paar Worte ein, und danach ist er wieder für uns da. Sein Blick wandert von mir zu Martina. Dann blickt er wie abwesend zum Fenster hinaus. Er hält ein langes Schweigen durch, und wir warten geduldig auf ihn.

Schließlich kommt Jo mit seinen Überlegungen zu einem Ergebnis: „Heute habe ich etwas Besonderes für euch!“ Und er berichtet: Er hat früher oft mit inneren Bildern gearbeitet. Bei anderen Menschen und manchmal auch bei sich selbst. Er hat seine Erfahrungen sogar schon mal in einem Buch aller Welt zugänglich gemacht. Und nun macht er Martina das Angebot, dass sie mit ihm in innere Bilder gehen kann.

Martina guckt fragend und so, als wenn sie wissen will: Was bringt das? Und Jo erklärt ihr: „Zuletzt hast du Jesus beim Fernsehgottesdienst gesehen. Das war in der äußeren Wirklichkeit. Und danach ist er dir im Traum begegnet. Also im Schlaf. Es gibt nun noch eine dritte Möglichkeit: Man kann Jesus auch in inneren Bildern erleben. Das ist ein bisschen wie im Traum, zugleich ist man aber voll bei Bewusstsein. Man kann diese Bilder selbst steuern. Und ich habe das Gefühl, das ist jetzt dran.“

Ich frage: „Und wie soll das gehen?“ Jo sagt: „Ich würde Martina in ihren inneren Bildern begleiten. Und wenn du magst, Martina, fangen wir einfach damit an. Magst du?“

Martina überlegt, und dann mag sie sich einlassen. Jo rückt nun einen Sessel an Martina heran und setzt sich dicht neben sie. Und mich ermuntert er, auch mit meinem Sessel näher zu kommen. Dann bittet er Martina, die Augen zu schließen, und er beginnt mit einer Entspannung:

„Fühl jetzt erst einmal deine Füße auf dem Boden, Martina. – Fühl nun deine Beine bis zu den Knien. – Nun sind die Oberschenkel dran: Fühl sie. – Jetzt spüre, wie dein Körper bis zu den Schultern den Sessel berührt und von ihm getragen wird. – Nun fühle deine Arme bis in die Fingerspitzen. – Und zuletzt noch: Fühl nun, wie dein Kopf ganz entspannt auf deinem Hals sitzt.“

Jetzt schweigt Jo ein bisschen. Und dann geht er zu inneren Bildern über: Er bittet nun Martina, sich eine Wiese vorzustellen. Eine Wiese, in der sie mitten drin steht. Wenn ihr diese Situation vor Augen tritt, soll sie den Anblick näher beschreiben. Und tatsächlich erblickt nun Martina innerlich so etwas wie eine Wiese. Die ist allerdings eher ein kurz geschorener Rasen.

Nun bittet Jo weiter: Martina soll sich umsehen, ob Jesus von irgendwoher auf sie zukommt. Es dauert etwas, dann sieht sie, wie er sich aus der Ferne sehr gemessenen Schrittes nähert. Und zwar als Lichtgestalt. In einigem Abstand von ihr verharrt er allerdings. Und er winkt ihr nun freundlich, sie möchte doch bitte zu ihm kommen. Sie tut es.

Für eine verlässliche Begleitung muss Jo immer wieder mal wissen, was bei Martina innerlich geschieht. Und Martina berichtet ihm nun weiter, dass sie mit Jesus an einen Fluss geht. Und dort sieht sie am jenseitigen Ufer eine üppige Wiese mit großartiger Blumenpracht. Ob sie auf die andere Seite möchte, fragt Jesus. O ja, das möchte sie nur zu gern. Aber wie hinüberkommen?

Jesus fasst sie fest an der Hand und zieht sie in einem gewaltigen Sprung nach oben. Und dann sinkt er auf der anderen Flussseite langsam mit ihr wieder hinab. Mitten zwischen dicken Büscheln von Blumen setzen sie auf. Der Sprung war richtig lustvoll, und die Blumen ringsum machen Martina noch mehr gute Laune und Freude.

Ihr ist nun danach, sich weiter mit großen Sprüngen fortzubewegen. Und Jesus ermuntert sie dazu. Sie macht nun in Zeitlupe hohe Sprünge, und die werden ständig höher. Sie genießt so die Blumenpracht von immer weiter oben und immer mehr aus der Vogelperspektive.

Dann aber wird ihr plötzlich schwindelig. Sie sieht Jesus weit unten und schreit: „Hilf mir!“ Jesus breitet die Arme für sie aus. Und sie fällt ihm entgegen, bis er sie schließlich ganz sanft auffängt.

Sie sieht nun: Ihr Sessel steht jetzt direkt neben Jesus auf der Wiese, auf der sie anfangs war. Aber anders als vorher grünt und blüht die Wiese nun. Jesus lässt sie sanft in ihren Sessel gleiten. Erst will sie sich dagegen sträuben, dann aber ist ihr klar: Ihr kleines Abenteuer geht zu Ende, und auch das gilt es zu akzeptieren.

Nach einer Weile schlägt Martina die Augen auf, sieht uns kurz an und blickt dann in irgendeine Ferne. Sie ist offenbar noch bei dem Erlebten. Und sie muss sich erst wieder für die Realität sammeln.

Wir lassen sie. Schon während ihrer inneren Bilder sind ihr Momente des Glücks durchs Gesicht gehuscht. Sie wirkte auch jünger. Schließlich erklärt sie uns immer noch hingerissen: „Es war unglaublich schön, von Jesus aufgefangen zu werden.“

Irgendwann setzt aber ihr Denken ein, und Martina möchte jetzt von Jo wissen: „Hat das alles eigentlich eine Bedeutung?“ Und Jo sieht es so: „Ich denke, du hast einen Vorgriff erlebt auf Wunderbares, das dir noch bevorsteht. Aber das muss nicht heißen, dass es nun gleich mit dir aufwärts geht.“

Nun steht Jo auf und geht einmal hin und wieder zurück. Dann wendet er sich mir zu und fragt: „Arno, wie sieht’s aus: Möchtest du auch?“

Ich? Oh, so weit hatte ich noch nicht gedacht. „Weißt du“, sagt Jo, „wir sind an einer wichtigen Wegmarke. Das spüre ich. Und die inneren Bilder gehören zu eurer Lehr- und Lernzeit.“ Was bleibt mir da anderes als zuzustimmen? Doch möchte ich wirklich? Aber die Sache hat schon einen ganz eigenen Reiz, das muss ich zugeben. Also: „Ja, ich möchte!“

Jo setzt sich wieder in seinen Sessel. Dann beginnen wir mit der Entspannung. Und danach ist auch bei mir eine Wiese dran. Meine Wiese wirkt allerdings freundlicher als die von Martina. Zudem geht mitten durch sie hindurch ein Weg von einer Seite zur anderen. Und genau auf diesem Weg stehe ich.

Jo bittet mich nun ebenfalls, nach Jesus Ausschau zu halten. Und schon kommt der auf dem Weg auf mich zu. Wir treffen uns, und Jesus fragt: „Bist du bereit?“ Ich weiß nicht wozu, aber ich bin es. Da deutet Jesus den Weg entlang auf einen Hügel. Der Weg führt ganz gerade auf diesen Hügel zu und dann immer steiler auf ihn hinauf.

Jesus sagt: „Da wollen wir mit Anlauf hinauf!“ Und er läuft ganz langsam los, wird aber mit der Zeit schneller. Erst komme ich noch gut mit, doch dann schaffen es meine Beine nicht mehr. Da ergreift Jesus meine Hand und zieht mich hinter sich her. Und ich beginne waagerecht zu fliegen. Zuletzt geht es eine steile Rampe hinauf, und oben hebt Jesus mit mir ab. Wir fliegen nun in den Himmel hinein: Es ist ein zunächst beklemmendes, dann aber ungeheuer berauschendes Gefühl!

Die Erde wird kleiner unter uns. Nein, ich habe keine Angst, ich fühle mich sicher. Doch dann lässt Jesus mich los – ein Schockmoment! Aber nun fliege ich einfach hinter ihm her, von ganz allein. Und ich merke: Ich kann selbstständig nach rechts oder nach links schwenken. Oder ich kann auch höher oder tiefer fliegen. Ich habe ziemlich viel Spielraum und nutze ihn. Dieser Formationsflug ist Glück pur!

Wir umrunden einmal die Erde. Sie liegt in Blau, Grün und Braun tief unter uns. Teilweise ist sie auch von weißen Wolkenfeldern bedeckt. Dann gebietet Jesus mit einer Hand: Achtung! Die andere streckt er aus, damit ich sie ergreife und mich wieder ankoppele. Und nun gehen wir in rasanten Sinkflug über. Wir stürzen geradezu in Richtung Erde. Dicht über den Wolken fangen wir uns wieder. Dann sinken wir langsam durch sie hindurch, und wir landen auf einer Bergkuppe. Da umarmt mich Jesus kurz. Und dann bin ich allein und wieder zurück aus dem All.

Es fällt mir nun schwer, die Augen zu öffnen. Zuerst sehe ich dann zu Martina hinüber. Danach zu Jo. Die eine schaut in den Raum, der andere zum Fenster hinaus. Sie lassen mich in Ruhe ankommen.

Jo meint schließlich: „Wisst ihr was: Lasst die Bilder in euch nachwirken! Zur Besprechung treffen wir uns dann morgen woanders.“

31. Erfahrung und Vertrauen

Ein Sommertag, wie er im Buche steht: Windstill, sonnig und warm. Draußen auf dem Meer kleine Segelboote. Auf einem relativ schmalen Sandstreifen eine Frau mit Kindern. Dort auch zwei Leute im Erholungsschritt. Nirgends Spektakuläres. Ein Strand für Ruhedürftige und Einsamkeitssammler.

Wir sitzen in drei Sesseln aufgereiht auf einer Terrasse. Mit komfortablem Blick aufs Wasser. Martina sitzt zwischen uns in eine leichte Decke eingeschlagen. Aus dem Deckenbündel lugen oben ihr Kopf und unten ihre Beine heraus. Eine Markise über uns gewährt uns freundlich Schatten. Und das Haus in unserem Rücken ist gerade unbelebt und hüllt sich in Schweigen. Niemand stört also. Wir geben uns erst einmal ganz dem Schauen hin.

Schließlich erkundige ich mich bei Martina nach ihrem Befinden. „Im Prinzip ist nichts gut“, sagt sie. „Aber hier habe ich immerhin einen Ausblick, der von vielem anderen ablenkt.“ Und Jo hat sie auch schon mit ihrem Schmerzmittel bedacht.

Dann kommt Jo auf sein Versprechen zurück, noch über unsere inneren Bilder zu reden. Und erst einmal fragt er Martina: “Wenn du heute zurückblickst: Was war gestern das Eindrucksvollste für dich?“ Martina bleibt bei dem bereits Gesagten: „Das war, wie Jesus mich auffing. Für kurze Zeit war da eine überwältigende Geborgenheit.“

Jo fragt weiter: „Und was war das Zweitschönste?“ „Die Sprünge! Du bist krank und schwach, und dann kannst du plötzlich mit größter Leichtigkeit hüpfen. Und ganz hoch! Das war zum Jubeln.“

Nun kommt Jo zu mir: „Und bei dir?“ „Der absolute Gipfel war: Ganz abgenabelt in völliger Freiheit hinter Jesus herzufliegen. Ohne jede Absturzgefahr.“

Jo lächelt: „Manchmal ist unglaublich, was bei Jesus in inneren Bildern geschieht! Arno, ich denke, du hast da ganz praktisch göttliche Freiheit erlebt. In hochsymbolischen Bildern.

Und dir, Martina, ist dasselbe passiert. Deine fröhlichen Hüpfer waren auch ein Stück göttliche Freiheit. Nur du bist gerade krank und machst dir Sorgen, wie es weitergeht. Und da hat Geborgenheit zunächst einmal Vorrang.“

Wir staunen, was Jo aus unseren Bildern herausholt. Und Jo legt noch nach: „Die göttliche Freiheit war bei euch beiden mit großer Leichtigkeit verbunden. Das Ganz-hoch-Hüpfen war völlig mühelos. Und erst recht das Fliegen. Und beides hatte zugleich auch noch etwas Spielerisches: Im Grunde genommen habt ihr euch kindlich naiven Hüpf- und Flugspielen hingegeben.“

Ok, so kann man das auch sehen. Und es war wirklich toll! Trotzdem muss ich Jo mal auf den Boden zurückholen mit: „Aber, Jo, was bringt das denn?“ Jo stellt mir daraufhin nur die Frage: „Wäre dir lieber, du hättest das nicht erlebt?“ Oh, da hat er mich erwischt! Nein, diese Erfahrung möchte ich nicht wieder hergeben. Das Erlebte wirkt einfach noch allzu angenehm nach. Und ein Hauch von beglückender spielerischer Leichtigkeit ist geblieben. Das gebe ich gern zu.

„Siehst du!“, sagt Jo.

Jetzt dringt markerschütterndes Kindergeschrei vom Strand herauf. Da ist wohl ein Spiel aus dem Ruder gelaufen. Aber mindert so etwas den Wert des Spielens? Mir kommt in den Sinn: Lieber viel Spiel mit etwas Streit als gar kein Spiel! Meine inneren Bilder wirken offenbar nach.

Jo wird jetzt grundsätzlicher. Er berichtet von seinen vielen Sitzungen mit inneren Bildern, in denen Jesus unterschiedlichsten Menschen begegnete. „Fast immer ist dabei Hilfreiches passiert. Jedenfalls nichts Abträgliches. Oft haben die Menschen Erleichterung erfahren und konnten Lasten abwerfen. Sogar Schmerzen konnten rückstandsfrei verschwinden. Die Menschen haben Jesus als wohltuend bis überwältigend erlebt. Und manchmal war auch Fantastisches dabei – wie gerade bei euch.“

Solche Erfahrungen sind einfach spannend. Und Jo will damit auf einen bestimmten Punkt hinaus. Er sagt: „Arno, du hast mich mal gefragt: Wie kommt man zu Gottvertrauen? Und ich habe dich vertröstet. Jetzt aber meine Antwort: Meine vielen ermutigenden Erfahrungen mit inneren Bildern haben mein Vertrauen zu Jesus ständig gesteigert. Ich konnte immer mehr darauf vertrauen, dass er den Menschen voller Güte, Kraft und Liebe begegnet. Und auch mir selbst.“

Daraus ist für ihn ein beachtliches Vertrauen zu Jesus erwachsen, erklärt Jo. Allerdings war dieses Vertrauen immer unmittelbar an die Person Jesus gebunden. Auf Gott strahlte seine Jesuserfahrung nicht aus.

Und Jo schließt daraus: Ein gestandenes Gottvertrauen braucht direkte Erfahrung mit Gott selbst. Und das auf möglichst auf vielerlei Weise. Ganz elementar sind dabei absolut unvergessliche Erlebnisse mit Gott. Die können dann über Jahre und Jahrzehnte durch Höhen und Tiefen hindurchtragen und eine Basis von Gottvertrauen schaffen und untermauern.

Martina will nun wissen: „Aber wie kommt es zu solch unvergesslichen Erlebnissen, Jo?“ Jo: „Oft ist der Ausgangspunkt eine Krise oder ein heftiger Notfall. Man sitzt fürchterlich in der Klemme. Und man betet nicht nur, sondern schreit schon zu Gott: Hilf mir! Und wenn dann völlig Unwahrscheinliches geschieht und man erleidet nicht den gefürchteten Schiffbruch, sondern alles wendet sich zum Guten – ja, dann ist diese Hilfe von Gott unvergesslich. Und sie bringt einen deutlichen Schub an Gottvertrauen mit sich.“

Jo hält inne und überlegt. Und dann meint er: Das ist aber nicht alles. Zunächst muss man überhaupt Gottvertrauen haben wollen. Und man darf und soll Gott darum bitten.

Aber auch ein langsamer und schleichender Weg ist möglich: Darauf kann ebenfalls Gottvertrauen wachsen – langsam und fast unmerklich. Und zwar dann, wenn es auf diesem Weg immer wieder kleine Stolpersteine gibt. Ohne die geht es einfach nicht. Und die verlangen, dass man immer wieder mal wenigstens ein bisschen riskiert und den Mut hat, auf Gott zu setzen. Damit kann sich dann ein Grundvertrauen Millimeter für Millimeter aufbauen.

Das aber heißt: Ab und an muss man Gott ein Anfangsvertrauen entgegenbringen und sich überhaupt an ihn wenden. Nur so erlebt man, dass Gott einem auch im ganz Kleinen zur Seite springen kann – etwa bei der verzweifelten Suche nach einem Schlüssel. Und Jo gleich dazu: „Gerade gestern habe ich übrigens einen gesucht und nach einem kleinen Stoßgebet tatsächlich gefunden!“

„Und wo stehen wir nun dabei?“ frage ich Jo. Er meint: „Ihr habt noch nicht wirklich genug tragfähige Erfahrung. Aber eure bisherigen Erlebnisse mit Jesus und mit Gott können schon eine Grundlage für Gottvertrauen sein. Auf dieser Basis kann euer Vertrauen weiter wachsen. Und bei Einsatz von etwas Mut und Kraft wird es auch reichen, um ein paar Dinge in Bewegung zu bringen.“

Dann überlegt Jo und fügt hinzu, als wenn er uns trösten will: „Es gibt übrigens nie das ganz große, endgültige und lebenslang unerschütterliche Gottvertrauen. Vertrauen ist ein durchaus verderbliches Gut. Es zerbröselt und verdampft einfach mit der Zeit. Deshalb muss es immer wieder mal erfolgreich geprüft werden und kann durch bestandene Prüfungen nachwachsen.“

Das klingt nach Schlusswort. Aber Jo hat doch noch einen Nachschlag: „Großes Vertrauen ist übrigens unter Menschen das wichtigste Element in einer engen Partnerschaft. Und genauso ist es in der Beziehung zu Gott. Vertrauen schafft mindestens freundschaftliche Bindung. Und oft wird es auch zur Basis einer langlebigen Liebe – bei Mensch und bei Gott.“

Und dann lacht Jo auch noch auf: „Übrigens: Wenn das Vertrauen zu einem Partner heftig auf dem Prüfstand steht und es erweist sich dann – wider Erwarten – doch als absolut gerechtfertigt, gerade dann können Flammen der Liebe richtig hochschlagen. Das ist unter Menschen so. Und das ist auch bei der Liebe zu Gott so. Deswegen kann Gott gar nicht auf Vertrauensprüfungen verzichten, wenn seine Beziehung zu einem Menschen lebendig bleiben soll.“

Jo lehnt sich nun bequem zurück. Für ihn ist offenbar wieder beschauliches Schauen angesagt. Mir allerdings gehen seine Worte nach, und ich frage mich: Wie viel Vertrauen haben eigentlich Martina und ich zueinander? Ich merke: Ich weiß es nicht, und ich muss es offen lassen.

Irgendwann spüre ich: Das Meer ruft mich. Und sein Ruf wird immer lauter. Schließlich zieht es mich fast magisch an. Ich muss jetzt unbedingt ans Wasser – und auch mal hinein!

Das Meer habe ich schon an meinem ersten Lebenstag gesehen. Da ließ ich es mich aber noch unbehelligt. Doch jetzt möchte es mir gern seine Frische zeigen! Und was es sonst noch zu bieten hat.

Ich verkünde also laut: „Jetzt ist das Meer dran!“ Und ich springe auf. Mein Blick fällt dabei auf Martina. Oh, an ihr Handicap habe ich nicht gedacht! Sie wird traurig. Und sie wünscht sich, dass ich sie bitte in Gedanken mit ans Meer nehme. Natürlich sage ich das zu.

Das Hineinwaten ist dann verblüffend: Die Kühle um die Beine zieht bis in den Kopf. Sie saugt da alle Gedanken heraus. Und das leichte Schieben und Ziehen des Wassers im Takt der Wellen intensiviert noch die Erfahrung. Ein unvergleichliches Erlebnis. Und ich stehe lange einfach so da.

Irgendwann fällt mir Martina ein. Da drehe ich mich um und winke. Sie winkt matt zurück. Am Strand finde ich dann ein paar Muscheln. Die nehme ich mit und lasse sie schließlich Martina liebevoll in die Hand gleiten.

Damit endet unser kleiner Gelegenheitsausflug ans Meer.

32. Gottes Geist- und Liebeskraft

Einen Tag später: Martina und ich sitzen auf weich gepolsterten Stühlen in einem ziemlich kahlen Raum. Vorn ist so etwas wie ein weißer Tisch. Durch die Tür an der Rückseite dringt gedämpft diffuser Lärm herein. Wo sind wir hier nur?

Es wird einen Moment lauter – die Tür geht offenbar auf und wird gleich wieder geschlossen. Es kommt wohl jemand herein. Und siehe da: Es ist Jo! Er setzt sich neben Martina und begrüßt uns in gedämpftem Ton. Und er klärt uns auf: Wir befinden uns in dem Andachtsraum eines Krankenhauses.

Das trifft Martina. Sie fragt Jo sofort: „Steht es so schlimm um mich?“ Jo beruhigt sie: Nein, das hat nichts mit ihr zu tun. Und er möchte auch erst einmal wissen, wie sie sich heute fühlt. Sie meint, es gehe ihr immerhin eine Spur besser. Doch die Kopfschmerzen! Jo hat aber an ihr Schmerzmittel gedacht und reicht es ihr. Auch einen Schluck Wasser hat er dabei.

Jo erklärt nun: „Hier in diesem Andachtsraum lässt sich gut über Gottes Geist- und Liebeskraft reden.“ Ich schaue ihn an: „Was meinst du damit?“ Jo: „Das ist eine besondere göttliche Kraft, die Gott Menschen schenken kann. Und diese Kraft kann Menschen über ihre normalen Möglichkeiten hinausheben. Auch euch.“

Jo weist nun auf die Stühle ringsum: Auf diesen Stühlen haben schon viele Kranke gesessen. Sie haben hier mit ihrer Krankheit gerungen. Und ebenso taten es etliche ihrer Angehörigen. Krankheit und Leid machen aber besonders offen für Höheres. Und so haben sich diese Menschen hier schon oft an Gott gewandt und seine Hilfe erfleht.

Und wenn dann bei Kranken tatsächlich heilsamer innerer Frieden einzog oder hilfreiche Hoffnung und Zuversicht keimte, dann wirkte die besondere göttliche Kraft. Oder wenn innerlich eine gute Lösung auftauchte für ein Problem, das sich mit der Krankheit eingeschlichen hatte, dann hatte das auch mit dieser Kraft zu tun.

„Was passiert denn da eigentlich genauer?“ möchte ich wissen. Jo meint: „Erst einmal: Was ist eigentlich Gottes Geist- und Liebeskraft? Ich sehe sie so: Der eine Teil, die göttliche Geistkraft, ist eine innere Lenkung, und der andere Teil, die göttliche Liebeskraft, ist eine verändernde oder antreibende Energie. Beides zusammen ist zusätzliches Potenzial. Dieses göttliche Potenzial kann die menschliche Vernunft und Energie über ihre normalen Grenzen hinaus aufstocken und erweitern. Manchmal über alle Erwartungen hinaus.“

Martina nun: „Und wann wirkt Gottes Geist- und Liebeskraft?“ Jo: „Zunächst einmal nur, wenn der Mensch sie braucht und für sie offen ist. Ist das der Fall, kann die göttliche Kraft lenkend eingreifen, wenn die menschliche Navigation überfordert ist und womöglich in die Irre führt. Oder sie kann einen zusätzlichen Schub verpassen, wenn die menschlichen Akkus schwächeln oder ganz am Ende sind.“

Dann möchte Martina noch weiter wissen: „Und wann macht sich diese göttliche Kraft bemerkbar – nur ab und an mal?“ Jo muss überlegen. Dann meint er: „Ich glaube, da muss man genauer hinsehen.“

Jetzt hört man wieder, wie die Tür aufgeht. Eine Frau kommt herein und setzt sich. Jo schweigt erst einmal, und wir tun es auch. Mich beginnt zu beschäftigen, was die Frau hereingeführt haben könnte: Ist sie selbst krank? Ist sie eine Angehörige, die für jemand anderes hier beten will? Und da kommt nun Mitgefühl in mir auf. Zugleich ist der Impuls da, mich dem Anliegen der Frau anzuschließen – also auch meinerseits für ihr Anliegen zu beten.

Nach etwa drei Minuten erhebt sich die Frau wieder und geht – ich hoffe ein Stück erleichtert.

Jo hat inzwischen Zeit gehabt nachzudenken. Und er präsentiert uns sein Ergebnis. Er meint: „Es gibt gelegentlich deutliche Impulse und Schübe an besonderer göttlicher Kraft. Im Prinzip kann diese Kraft jeden Menschen erfassen. Doch sie findet leichter Einlass bei Menschen, die Gott nahe sind.

Und darüber hinaus kann sich die göttliche Kraft auch bei Menschen fest einnisten. Zum Teil merkt man das daran, dass diese Menschen eine besondere Ausstrahlung haben. Oft wirken sie besonders liebevoll. Normalerweise bleibt die göttliche Kraft bei ihnen unauffällig im Hintergrund. Doch bei Bedarf drängt sie nach vorn und kann auch mal ganz die Führung übernehmen.

„Und wofür ist die göttliche Kraft überhaupt da?“ Das ist der entscheidende Punkt, denke ich, und bin nun auf Jos Antwort gespannt. Und der: „Zunächst soll sie Menschen helfen, Gottes Liebe in ihrem eigenen Leben unmittelbarer zu erleben, sie stärker zu spüren und klarer zu erkennen. Ebenso soll sie aber auch dazu anregen oder sogar treiben, anderen Menschen beizustehen und ihnen hilfreich zur Seite zu springen.“

Und dann fällt Jo ein: „Es gibt auch noch den großartigen Bericht in der Bibel, wie diese besondere Gotteskraft über die Jünger von Jesus kommt. Die fingen an, überschwänglich Gottes große Taten zu preisen. Das macht klar, was die göttliche Kraft ebenfalls soll: Sie soll Menschen dazu anstiften, anderen Menschen begeistert erzählen, was sie an Wundern mit Gott erlebt haben.“

„Jo“, sagt Martina nun ziemlich irritiert, „davon sind wir aber noch weit entfernt!“ Und Jo: „Nun, ich denke, eure ganze Existenz hat genau diesen Sinn. Aber du hast schon Recht: Da ist mehr fällig!“

Da sind wir nun wieder bei dem nebulösen Mehr, auf das Martina und ich hoffen. Wird dieses schemenhafte Plus mit göttlicher Kraft zu tun haben? Doch Jo können wir gerade dazu nicht befragen. Er ist noch bei Grundsätzlichem:

„Gottes Liebe drängt mit Hilfe der göttlichen Kraft in drei Richtungen. Und es geht dabei immer um die Stärkung der Liebesfähigkeit. Das heißt: Erstens soll die Liebe zu Gott stärker werden. Zweitens soll die Selbstliebe aufgepäppelt werden – falls nötig. Und drittens soll die Liebe zu den Mitmenschen angeregt und gesteigert werden.

Und was die Liebe zu den Mitmenschen betrifft: Da soll der Mensch geduldiger, toleranter und friedlicher werden. Er soll seine Mitmenschen direkt oder indirekt fördern und sie unterstützen.“

Oh, das klingt nun aber abstrakt. Da frage ich Jo: „Darf ich mal versuchen, das hier auf die Situation im Krankenhaus umzulegen?“ Jo ist erstaunt, stimmt aber gern zu.

„Also: Wenn ich hier als Kranker im Andachtsraum Hilfe bei Gott suche, kann ich durch die göttliche Kraft Frieden, Trost und Hoffnung geschenkt bekommen. Ich werde also zuversichtlicher. Und ich fühle mich mit mir selbst wohler. Und wenn ich dann hinaus auf den Flur trete, treffe ich da auf andere Kranke und auf das Personal. Die spüren intuitiv meinen neuen Frieden und meine neue Zuversicht. Und das verändert die Atmosphäre. Richtig so?“

Jo findet, dass ich es wunderbar getroffen habe. Er ergänzt mich nur noch: „Und wenn der Kranke dann in diesem Raum eine recht eindrückliche Begegnung mit Gott hatte, kann er vielleicht auch noch zusätzlich von Gottes großen Taten erzählen.“

Martina kommt in diesem Moment aber ein entgegengesetzter Gedanke: „Doch was ist mit denen, die hier ungetröstet wieder hinausgehen?“ Jo überlegt. Und dann meint er: „Das können Menschen sein, die einfach noch zu wenig Nähe zu Gott haben. Oder es passt gerade nicht in Gottes Plan, diesen Menschen im Moment etwas von ihrer Last abzunehmen.“

Und Jo fällt noch Schwerwiegenderes ein: „Die göttliche Kraft kann auch mal den Finger in eine Wunde legen: Dann hält sie einem Menschen etwa sein liebloses oder zerstörerisches Leben vor. Sie sagt dann etwa: Schau dir an, was du mit dir selbst machst! Oder auch mit anderen. Deshalb bist du krank, und du kannst vielleicht sogar noch stärker krank werden. Ändere dich! Kehr um! Und dann schleicht so jemand erst einmal geknickt in sein Krankenzimmer zurück.“ Oh, das klingt nicht so gut, und das wünsche ich eigentlich niemandem.

Nun scheint das Thema aber erst einmal abgegrast zu sein. Uns fällt jedenfalls nichts mehr dazu ein. Da schlägt Jo vor, uns hier im Andachtstraum noch etwas Zeit zu nehmen. Dann kann das Thema in aller Stille in jedem weiterarbeiten. Gute Idee!

Mir kommt da: Ist das vielleicht auch eine Chance, jetzt hier mit Gott ins Gespräch zu kommen? Ich versuche einfach mal, innerlich auf Empfang zu gehen. Und tatsächlich höre ich in mir: „Arno, schön dass du mich fragst!“ Wie bitte – frage ich etwas? Ich also: „Was frage ich denn?“ „Du willst wissen, wie es weitergeht.“ Ja, tatsächlich: Das wabert nach wie vor in mir herum. Und Gott: „Ich habe bald mehr für euch!“ Das klingt nun richtig liebevoll. Und natürlich auch geheimnisvoll. „Danke!“ kann ich da nur denken und innerlich sagen.

Mir ist nun noch danach, Gott um ganz viel von seiner besonderen göttlichen Kraft zu bitten – so viel, wie ich aushalten kann. Und in meiner Vorstellung gehe ich dafür sogar auf die Knie. Ich merke: Da lächelt Gott. Und er dankt mir zunächst für meine Bitte. Und dann verspricht er, wenn es so weit ist, ganz wohlwollend auf meine Sehnsucht nach mehr zurückzukommen.

Damit geht für mich unsere Sitzung im Krankenhaus zu Ende. Die anderen beiden sind gerade auch so weit. Und wir verabschieden uns nun noch voneinander.

Neuer Aufbruch

33. Ernst und Spiel

Bei Jo begrüßt mich erst einmal nur Martina. Sie sitzt weiterhin im Sessel. Aber sie teilt mir freudig und fast triumphierend mit: „Keine Kopfschmerzen mehr!“ Ich darauf: „Und sonst?“ „Bäume ausreißen ist noch nicht.“

Ich sehe mich um. Auf Jos Arbeitstisch liegt unübersehbar ein Zettel. Darauf steht: „Ich bin krank. Aber ihr kommt auch ohne mich zurecht.“ Martina meint dazu: „Oh, sehr zuvorkommend von ihm! Vielleicht ist er ja aus Mitgefühl mit mir krank.“

Aber was machen wir denn nun? Martina schlägt eine „stille Stunde“ vor. Sie meint damit das, was Jo eine Zeitinsel genannt hat: Eine Zeit vor Gott, in der man beten, denken oder einfach nur da sein kann. Martina hat das starke Gefühl: Genau das ist jetzt dran. Und auch für mich hat die Idee ihren Reiz.

Doch vorher möchte ich noch wissen: „Betest du eigentlich dafür, dass du gesund wirst?“ „Was denkst denn du!“ Und ich: „Ich tu’s auch.“ Wir lächeln uns an.

Dann die stille Stunde. Martina schließt die Augen. Ich ebenso. Und wir gehen ins Schweigen.

Jos Erkrankung treibt mich um. Gott lässt ihn krank werden – warum? Und wie krank ist er tatsächlich? Mir dämmert: Sollte es ihn schlimm getroffen haben, kann es auch für uns schlimm werden. Und wenn er auf absehbare Zeit nicht mehr schreiben kann: Was ist dann mit uns?

Damit ist das Gespenst wieder da, dass unser Leben vorzeitig enden könnte. Aber dieses Mal steht nicht nur Martinas Leben auf dem Spiel, sondern auch ganz ernsthaft meins! Ich kann nicht mehr den Mund halten und durchbreche die Stille: „Martina, ist dir klar, dass es uns jetzt wirklich ans Leben gehen kann?“

Martina ist auch schon dabei: „Ich weiß!“ Und ich frage: “Wie gehen wir damit um?“ „Mit göttlicher Geist- und Liebeskraft?“ „Also beten und vertrauen, dass Jo bald wieder hier sitzt?“

Doch Martina kommt noch etwas anderes: „Nein, ich denke: Wir sollen loslassen. Und einverstanden sein, dass unser Leben vielleicht schon vorbei ist!“ Da bäumt sich aber etwas steil in mir auf: Alle Erwartungen vom Tisch wischen und alle Hoffnungen begraben?! Massiver Lebenswille regt sich, ich merke es. Auf gar keinen Fall jetzt schon Schluss! Nein! Ich melde geharnischten Protest an.

Da fragt Martina: „Ist unser Lebenswille nicht Eigenwille?“ Ich: „Aber wir müssen doch zu Ende bringen, was begonnen hat!“ Sie: „Wieso? Gott sieht das vielleicht anders.“ Oh, diese Martina bringt mich in Verlegenheit!

Also noch ausstehendes Leben einfach aufgeben? Wer hat denn etwas davon? Wirklich Gott? Doch ich ahne: Das Leben bis zum letzten Lebensfunken zu opfern, das ist absolute Unterordnung. Das ist letztmögliche Demut. Oder mal ganz überspitzt formuliert: Wahre Demut kostet das Leben.

Martina lässt nicht locker: „Sieh es doch nicht so verbissen! Du fällst doch nicht gleich tot um! Hast du vergessen: Du hast dir schon mal eine Probezeit von Gott geben lassen. Ganz am Anfang. Da hast du Gott getestet. Und Gott hat sich von dir testen lassen.“

Ich nun: „Und jetzt läuft’s umgekehrt: Gott testet uns?“

Martina lacht: „Das ist dann doch wahre Gleichberechtigung! Komm, nimm’s sportlich! Oder noch besser: spielerisch! Und sieh es mal so: Unsererseits testen wir damit gleich wieder Gott, wenn wir uns völlig aufgeben. Bei mir jedenfalls rumort schon die Frage im Hinterkopf: Und was haben wir dann danach davon?“

Ich schweige lange. Schließlich klopft Martina bei mir an: „Wo bist du? Brauchst du noch eine Rücktrittsklausel?“

„Ich nehme es schon ernst: Totale Selbstaufgabe. Letztmögliches Opfer.“ Martina: „Das sollst du auch. Das müssen wir beide. Aber der erste Schritt zur Selbstaufgabe ist doch vielleicht: Dem Ernst etwas von seiner Schwere zu nehmen. Ihn leichtfüßiger zu machen. Damit er uns nicht auf der Stelle festnagelt. Auch bei allem Ernst sollten noch Luftsprünge möglich sein.“

Ich frage: „Also spielerischer Ernst?“ Martina: „Genau! Oder auch ernsthaftes Spiel. Komm, jetzt ist Mut zum Gottvertrauen gefragt!“ Ok, das ist der letzte kleine Stoß, den ich noch brauchte. Und Martina nun: „Wie sieht’s jetzt aus: Bist du bereit?“ Ja, nun bin ich es. Nun sind wir beide bereit.

Es wird wieder still im Raum. Ich erkläre jetzt Gott leichtfüßig und ernst zugleich: Ich bin bereit, mein weiteres Leben herzugeben. Ich bin bereit es zu opfern. Und unversehens tritt nun eine eigentümliche Ruhe in mir ein. Der letztmögliche Schritt liegt hinter mir. Und damit tut sich vor mir bisher Unerwartbares auf.

Es fällt mir wie Schuppen von den Augen: Die göttliche Geist- und Liebeskraft hat mich beharrlich bis hierher geführt. Und sie will mich auch weiter begleiten und voranbringen.

Jetzt meldet sich Martina: „Merkwürdig: Ich habe die Pfarrerin vom Fernsehgottesdienst gesehen. Sie hat mir zugewinkt: Wir sollen zu ihr kommen.“ Ich: „Ganz ohne Worte?“ „Das Winken war schon deutlich genug.“

Ich denke: Oh, tut sich da etwas? Kommen jetzt Dinge in Bewegung? Aber zunächst einmal lassen wir uns wieder ins Schweigen zurückfallen.

Schließlich dürfte wohl eine Stunde um sein. Ich flüstere das Martina zu. Sie taucht nun auch aus der Stille auf. Aber sie hat jetzt einen anderen Blick als sonst – sie schaut mich leicht herausfordernd an. Und dann kommt: „Was für ein Verhältnis haben eigentlich wir zueinander?“

Oh! Das habe ich mich auch schon manchmal gefragt und hätte es gern ergründet. Aber das zu fragen war mir zu heiß. Doch nun traut sich Martina und marschiert einfach auf mich los.

Ich taste mich vor: „Ich mag dich sehr. Und es ist schön, mit dir zusammenzuarbeiten.“ Doch dann will einfach hinaus: „Aber in mir sträubt sich etwas, mehr daraus zu machen.“ Und Martina wirkt erleichtert: „Bei mir ist es auch so.“

Das ermutigt mich, auch noch zu gestehen: „Ich habe schon Fantasien von mehr Nähe.“ Martina seufzt und lächelt: „Ja, die Fantasien! Die Menschen da draußen – die wären schon gezielt übereinander gestolpert und aufeinander liegen geblieben.“ Sie lacht.

Und dann wird sie ernst: „Wir haben eine gemeinsame Aufgabe, und die hat es in sich. Ich kann keine Ablenkung gebrauchen.“ Da bewegen wir uns ja auf einer Ebene. Das befreit!

Plötzlich ist nun weit weg, dass Jo schwer erkrankt sein könnte. Vielmehr ist ganz klar: Es wird weitergehen. Und irgendwie mit mehr Feuer!

34. Bibel und Frucht

Und dann ist Jo tatsächlich wieder da! Er sitzt an seinem Arbeitsplatz, als sei nichts gewesen. Es hat ihn nur kurz erwischt und umgehauen. „Was hattest du denn?“, möchte ich wissen. „Eine kleine Lebensmittelvergiftung. Die hat mich außer Gefecht gesetzt. Jetzt ist aber alles wieder ok.“

Gleich nach mir taucht auch Martina auf. Mit ihr wirkt die Sesselecke eindeutig viel belebter. Nun sofort die tagtägliche Frage an Martina, immer von neuer Hoffnung diktiert: „Und du?“ Sie: „Es geht etwas besser.“

Ich wende mich wieder Jo zu: „Du und krank – das konnte ich mir bisher nicht vorstellen“. Jo lacht. „Gottes Liebe mutet einem Menschen manchmal schon einige Härten und Rippenstöße zu. Damit er nicht abhebt. Und damit er sich an Gott erinnert.“

Martina: „Aber du bist doch sonst in Ordnung?“ Jo: „Bis auf einen Lungenschaden. Damit lässt sich wunderbar leben – noch.“ Oh! Jetzt weiß ich, warum Jo gelegentlich hüstelt und hustet. Zugleich schickt sein „noch“ meine Gedanken in eine höchst unerwünschte Richtung.

Jo wird nun grundsätzlicher: „Manche Leute leisten sich die Irrlehre: Gott will nicht, dass der Mensch krank ist. Das ist richtig billig! Denn Gott schickt uns bewusst in ein Leben mit Schmerz, Krankheit und Leid. Er mutet uns das einfach zu. Allerdings nicht ohne hilfreiche Vorkehrung: Wir sind extra so gebaut, dass wir eine ganze Menge davon schultern können.“

„Und wie kommt es zu solcher Irrlehre?“, fragt Martina. „Die Leute berufen sich auf die Bibel. Und sie schütteln sie so lange durch ihr ganz persönliches Sieb, bis darin hängen bleibt, was sie unbedingt finden wollen. Bis ihnen ihre persönlichen Vorurteile bestätigt erscheinen. So treibt man Schindluder mit dem Buch! Und dann muss es manchmal für die absurdesten und lieblosesten Folgerungen herhalten. Dabei steht das Gebot der Liebe als oberstes Gebot darin. Die Bibel ist vor allem dann absolut wunderbar, wenn Gottes Geist- und Liebeskraft die Augen leitet und lenkt. Dann versteht man sie richtig.“

Jetzt kommt in mir hoch: „Enthältst du uns eigentlich die Bibel vor?“ Jo: „Ach nein! Die Bibel hat zigtausend Verse. Wenn du möchtest, können wir da in einzelne Verse einsteigen – bitte schön! Aber die einen passen nur für spezielle Situationen. Die anderen sind wieder von Fall zu Fall anders auszulegen. Und um damit überhaupt anzufangen, ist eure Existenz zu kurz.“

Martina: „Du enthältst uns wirklich nichts vor?“ Jo: „Oh doch, ich enthalte euch ganz viel vor! Aber sieh es mal so: In der Bibel begegnet ihr Jesus, wie er vor 2000 Jahren redete und lebte. Ihr aber seid Glückskinder: Ihr erlebt Jesus heute! Und ebenso ist es mit Gott: In der Bibel spricht er zu Menschen vergangener Epochen. Aber was ihr aktuell braucht, das sagt euch Gott heute direkt.“

Dann überlegt Jo. Und er meint: „Die Bibel ist wie ein uralter knorriger Baum. Er hat einen beeindruckenden Stamm. Man kann sich an ihn anlehnen oder ihn umarmen. Und manche erleben dabei eine starke Kraft. Gestärkt ziehen sie dann von dannen. Aber dieser uralte Baum treibt immer noch junge Triebe und Blüten. Und er trägt ständig neue knackfrische Früchte. Ich schaue nun nicht auf den Stamm, sondern strecke meine Hände nach den nahrhaften Früchten aus. Da ist wunderbarer Geschmack und Saft drin! Und euch versuche ich ein paar Äste herunterzubiegen, damit ihr auch an die Früchte kommt.“

„Da sind wir bevorzugt?“, fragt Martina nach. „Und wie! Aber ihr seid nicht allein. Noch mehr Menschen werden ebenso beschenkt “, sagt Jo. „Doch für Gott sind es zu wenige. Er möchte viel mehr Menschen so beschenken.“ Jo macht nun eine winzige Pause und sagt dann: „Und da kommt ihr ins Spiel!“

Wir horchen auf: Wir? Und Jo legt nach: „Es ist jetzt so weit: Ihr seid dran.“ Und wir: „Wie denn? Wo denn?“

Jo: „Wisst ihr noch die Pfarrerin im Fernsehgottesdienst? Ich habe hin und wieder mal Kontakt mit ihr und habe auch von euch berichtet. Nun möchte sie euch persönlich erleben. Und wenn es passt und ihr wollt, könnt ihr vielleicht ihrer Gemeinde etwas auf die Sprünge helfen.“

Was für ein hehres Ziel! Aber einfach mal probieren – warum nicht? Wollen wir also? Ich schaue Martina an. Sie nickt ein großes Ja. Und sie flüstert mir zu: „Siehst du, sie hat mir zugewinkt!“

Jetzt ist nur noch die Frage: Wann geht es los? Jo will mit der Pfarrerin möglichst bald einen ersten Termin absprechen.

35. Planung und Leitung

Und dann ist es so weit: Wir können uns ein erstes Mal mit der Pfarrerin und ein paar Gemeindemitgliedern treffen. Jo hat diese Nachricht für uns. Und er will uns auf das Treffen vorbereiten.

Aber die gleich wichtige Nachricht des Morgens ist: Martina ist wieder ganz gesund. Endlich! Und sie ist auch noch tatendurstig. Jo kommentiert das so: „Wen Gott zur Tat ruft, den rüstet er auch mit Kraft und Gesundheit aus. Da könnt ihr euch jetzt voll Elan an die Arbeit machen!“

Martina stutzt: „Jo, du klingst so, als wenn du nicht mitkommst.“ Und Jo: „Gott hält mich zurück. Ich denke, ohne mich entwickelt ihr mehr Ideen und Schubkraft. Ist doch auch schön, wenn ihr hinterher übersprudelt und mir hier unbedingt berichten wollt, wie es euch erging.“

Schade. Aber auch viel Vertrauen von Jo in uns! Dann allerdings erhält die Vorbereitung ein besonderes Gewicht. Und Jo schlägt uns nun innere Bilder dafür vor. Darin kann vielleicht das erste Treffen im Voraus erlebt werden.

Und schon geht es los: Wir sitzen in Jos Sesseln zu dritt beieinander. Martina und ich schließen die Augen. Und Jo lässt uns die Schritte zur Entspannung selbst machen, die wir schon kennen. Danach bittet er: „Nun lasst euch das Treffen möglichst lebhaft vor Augen treten. Schaut zum Beispiel, wie viele Leute da sind und wie sie sich benehmen.“

Dann kommt ein weiterer Schritt: „Nun hört, was Gott zu diesem Treffen sagt.“ Und schließlich gibt Jo noch den Impuls: „Schaut auch, ob Jesus gern zu den Leute kommt und wie er sich bei ihnen verhält.“

Dann berichten wir. Und Martina beginnt: Sie sah zusammen mit der Pfarrerin sechs Menschen an einem Tisch. Einer davon war merkwürdig dunkel. Als es um Gottes Stimme ging, hörte sie: „Ich liebe sie.“ Und als Jesus zum Thema wurde, sah sie, wie er an die Menschen herantrat und in die Runde fragte: „Was ist euer Wille?“ Dann legte er jedem die Hand auf die Schulter und verschwand.

Jetzt schauen wir auf Jo. Und Jo interpretiert Martinas innere Bilder so: Der dunkle Mensch kann heißen, dass vielleicht einer in der Runde querschießen wird. Gottes Worte bedeuten, dass Gott liebend gern etwas für die Runde am Tisch tun möchte. Und die Frage von Jesus zeigt Jo, dass er sich einen klaren Willen aller Beteiligten wünscht. Und damit es dazu kommt, segnet Jesus schließlich noch alle am Tisch.

Daraus leitet Jo nun ab: „Ihr solltet selbst schon ein glasklares Angebot mitbringen. Und dann wird nicht herumpalavert, sondern die Beteiligten sollen eindeutig dazu Stellung nehmen.“

Dann bin ich dran mit meinen inneren Bildern. Ich sah nur vier Personen. Und die saßen in einer Runde. Und Gott sagte: „Sie werden es schaffen.“ Danach trat Jesus in ihre Mitte. Er drehte sich langsam immer weiter herum und sah dabei jeden Menschen ausgiebig und prüfend an. Und bei der Pfarrerin lächelte er liebevoll.

Jo fasst jetzt unsere Bilder zusammen und sagt dazu: „Man könnte eure Bilder als Ausfluss eures bisherigen Wissens und Wünschens verstehen. Das wäre eine normalmenschliche Erklärung. Ich aber gehe davon aus, dass Gottes Geist eure Gehirne etwas geflutet hat. Dann könnt ihr tatsächlich etwas im Voraus wissen. Und das würde sich bestätigen, wenn ihr zum Beispiel fünf Personen vor euch haben werdet – also die Mitte zwischen sechs und vier. Leichte Unschärfen sind immer drin.“

Jo dann weiter: „Das Übrige sind Botschaften an euch: Ihr sollt mit einem klaren Angebot antreten. Und Gott traut den Beteiligten auch zu, zu einem klaren Willen zu kommen. Das meint er vermutlich mit: „Sie werden es schaffen.“ Das klingt nun für meine Ohren recht verheißungsvoll.

Und zu Jesus in den Bildern meint Jo: „Ihr sollt zwar die Runde zu einem eindeutigen gemeinsamen Willen hinführen. Aber jede Person kann auf ihre ganz eigene Art dahin kommen. Hauptsache, am Ende stimmen alle überein.“

Ich wende mich nun an Martina: „Du hörst: Ein klares Angebot muss her! Was haben wir denn überhaupt anzubieten?“ Martina fragt zurück: „Was brauchen sie denn, was sie noch nicht haben?“ Da tappen wir nun beide im Dunkeln. Also Jo fragen!

Und Jo: „In Kirchengemeinden können sie gut über Gott reden. Aber sie haben wenig Übung darin, direkt ein offenes Ohr für Gott zu haben.“ „Und wie sieht es mit Jesus aus?“ wilI ich weiter wissen. Jo: „Ihr selbst habt ihn oft gesehen. Aber Jesus zu sehen, das ist für die Gemeinden absolutes Neuland.“

Martina nun: „Wir erzählen ihnen also davon?“ Jo: „Das reicht nicht!“ Martina: „Wir sollen sie anleiten, selbst auf Gott zu hören und Jesus zu sehen?“ Und Jo: „Ja, das kann gut sein. Geht doch am besten gleich selbst in euch und fragt nach, ob Gott das will und ob sich Jesus darauf freut.“

Gute Idee! denke ich. Und Martina denkt das auch. Wir schließen die Augen. Ich höre nun innerlich ein großes warmes „Ja!“ Und ich sehe, wie Jesus zustimmend den Daumen hebt.

Und Martina berichtet: Jesus hat sie innerlich an die Hand genommen. Dann ist er mit ihr zu einer Gruppe von Menschen gegangen, die erwartungsvoll dasaß. Und er hat ihr gesagt: „Lasst sie hören und sehen.“

Jo ist hoch erfreut. So etwas scheint er erwartet und sich gewünscht zu haben. Und er bestärkt uns: „Ja, ich denke, das ist haargenau euer Weg. Und ihr werdet zuverlässig geleitet werden.“

Aber noch ist nichts zu den äußeren Umständen gesagt. Jo informiert uns nun: „Übermorgen ist der Termin. Ihr werdet zur rechten Zeit bei der Pfarrerin vor der Tür stehen. Und dann lasst euch innerlich führen! Euch werden bei Bedarf die richtigen Worte und Ideen zufliegen.“

Und schließlich sagt Jo noch: „Ich soll euch segnen, ihr Lieben.“ Wir sitzen gerade so übereck, dass er zwischen uns treten und seine Hände rechts und links auf unsere Schultern legen kann. Einen Moment schweigt er. Dann sagt er: „Ich segne euch im Namen Gottes, der seinen Geist und seine Liebe in vollem Maß über euch ausschütten will.“

Jo ist sehr bewegt, man hört es an seiner Stimme. Und wir sind auch sehr bewegt: Er hat uns noch nie „ihr Lieben“ genannt.

Was kommt jetzt auf uns zu? Ich blicke Martina an, sie blickt mich an. Es ist schon herausfordernd, was sich da möglicherweise zusammenbraut. Aber ich habe Martina, und sie hat mich. Zusammen werden wir es schon stemmen!

36. Erstes Treffen

Wir stehen vor einer Tür. Uns ist schon etwas beklommen zu Mute. Und Martina bittet mich, drinnen erst einmal den Vorreiter zu spielen und im Zweifel als Erster das Wort zu ergreifen. Aber sie sagt auch gleich: „Keine Angst, ich verstecke mich nicht hinter dir!“

Ist die Tür eigentlich schon offen? Ja, stellen wir fest und treten ein. Wir stehen nun in einem längeren Gang. Wohin müssen wir? Ich rufe ein halblautes Hallo. Da kommt aus einer Tür ein Mann auf uns zu und meint halb fragend: „Sie sind doch sicher die Angekündigten?“ Wir bejahen das, und schon leitet er uns in einen Raum, in dem noch vier weitere Personen uns erwartungsvoll anblicken: Drei Frauen und ein Mann.

Die Pfarrerin ist dabei und begrüßt uns herzlich. Sie bittet uns zu den anderen. Ich stelle uns als Arno und Martina vor. Und um den Anwesenden den Umgang mit uns zu erleichtern, fügt Martina gleich hinzu: „Wir hören auf jede Anrede, ob nun Du oder Sie.“

Die Pfarrerin begrüßt alle und umreißt kurz, wozu das Treffen dienen soll. Dann bittet sie an einen Tisch. Martina und ich setzen uns nebeneinander. Erst schlägt die Pfarrerin vor, dass sich die Gemeindemitglieder kurz mit ihrem Namen vorstellen. Ich bin angespannt und kann sie mir nicht merken. Dann sind wir dran und werden um ein paar mehr Worte zu uns gebeten. Martina sagt leise zu mir: „Mach mal!“ Und ich ergreife ich das Wort:

„Ich weiß nicht, wie wir angekündigt worden sind. Jedenfalls sind wir schon etwas seltsame Gestalten, auch wenn man uns das nicht gleich ansieht. Gott hat uns jedenfalls hierher geführt. Und was bringen wir mit? Ganz einfach: Jesus. Wir sehen hin und wieder Jesus. Und er spricht auch mit uns. Er ist sogar mit uns hierher gekommen. Er nimmt gerade hier neben mir auf dem leeren Stuhl Platz. Er möchte dabei sein. Und ich denke, alle hier sind damit einverstanden.“

Ich sehe Jesus wirklich. Und ich atme ein Stück auf: Seine Anwesenheit wirkt erleichternd, vielleicht sogar beflügelnd! Aus der Runde schaut man jetzt teils höchst aufmerksam, teils leicht entgeistert auf mich und den scheinbar leeren Stuhl neben mir.

Das Weitere fließt mir einfach zu: „Ich denke, solch ein Anfang ist für euch ungewöhnlich und gewöhnungsbedürftig. Ich schlage vor, Jesus jetzt mit ein bis zwei Minuten Stille willkommen zu heißen. Das ist ihm lieber als irgendwelche Worte.“

Wir schweigen. Alle schweigen. Und alle können sich nun auf ihre eigene Weise mit der Anwesenheit von Jesus vertraut machen. Ich schaue auch einmal Martina an, und sie bedeutet mir, unbedingt in meiner Weise weiterzumachen.

Nach gebührender Stille frage ich: „Gibt es hier einen Anlass zur Trauer?“ Man schaut mich fragend an. Ich darauf: „Also nein! Wenn dem so ist, dann gibt es aber Anlass zur Freude! Jesus ist da. Und Gott will seinen Geist und seine ganze Liebe über uns alle ausgießen.“ Plötzlich kommt mir ein Einfall, und ich fahre fort: „Ich selbst habe einiges an Befangenheit mitgebracht. Und anderen hier geht es sicherlich ähnlich. Ich schlage vor: Wir alle stehen jetzt auf und trampeln unnötige Hemmungen weg!“

Ich erhebe mich gleich, trete hinter meinen Stuhl und beginne zu trampeln. Martina folgt mir sofort. Jetzt sind wir zu zweit, und das zieht auch die anderen hoch. Erst sind sie etwas verlegen. Aber sie fangen zaghaft an, trampelnde Schritte zu machen. Und bald beginnt es der Mehrzahl zu gefallen. Hier und da versuchen sich einige sogar in gemeinsamem Rhythmus. Auch Lachen kommt auf und der eine oder andere lockere Kommentar.

„So,“ sage ich schließlich, „jetzt bittet uns Gott zu Tisch. Und es geht darum, was er uns gern auftischen möchte. Er hält so einiges bereit. Nur mit freien Händen und lockeren Fingern kann man da ungeniert und ausgiebig zugreifen. Und die haben wir jetzt.“ Ich mache eine kleine Pause. Dann fahre ich fort: „Gott ist nämlich verrückt – nach menschlichen Maßstäben.“ Wieder Pause. „Er ist so verrückt, die Menschheit immer wieder beglücken zu wollen. Und uns hier auch. Obwohl sich die Menschheit ständig unsäglich daneben benimmt. Und Leid, Leid, Leid produziert.“

Gerade will ich meinen Stuhl rücken, um mich zu setzen. Da empört sich lauthals der Mann, der uns anfangs in Empfang nahm. Schon beim Trampeln hat er nur daneben gestanden: „Nein, nicht Gott ist verrückt. Sondern das hier ist verrückt! Und Sie sind es!“ Er meint tatsächlich mich. „Sie sind ein Spinner! Ihnen gehe ich nicht auf den Leim!“

Stille rundum. Jetzt bin ich ganz auf mich gestellt, denn Jesus hat sich inzwischen verabschiedet. Jetzt brauche ich eine gute Eingebung! Und mir kommt: „Wissen Sie, Gott ist manchmal etwas provokativ. Dann will er uns von einem Gleis runterheben, auf dem wir nicht mehr vorankommen.“ Der Mann darauf: „Besten Dank! Ihr neues Gleis führt in einen bösen Abgrund.“ Dann wendet er sich an die anderen und sagt: „Tut mir Leid! Ihr müsst selbst wissen, was ihr tut. Aber ich gehe.“ Und fort ist er.

„Der ist doch sonst nicht so? Was hat er denn? Das ist nun heftig!“ höre ich nun von den anderen. Martina aber fasst mich am Arm und sagt: „Ich übernehme jetzt! Ok?“ Ich denke: Danke Martina! Besseres kann mir gerade nicht passieren.

Martina bittet jetzt, wieder Platz zu nehmen. Und sie erklärt: Solch ein Abgang tue ihr sehr Leid. Dabei sei das Eigentliche doch noch gar nicht auf den Tisch gekommen. Und das würden doch alle gern wissen wollen. Sie erntet nickende Zustimmung und volle Aufmerksamkeit.

Und sie beginnt: Das Wort „Gott“ geht im religiösen Bereich den Menschen leicht über die Lippen. Über Gott wird da viel gesprochen. Und ein paar Bitten werden ihm auch mal schnell hingeworfen. Doch ein direktes Gespräch mit Gott ist selten. Die wenigsten können Gott selbst hören. Dabei ist es Gottes großer Wunsch, seinen geliebten Geschöpfen, den Menschen, möglichst nahe zu sein. Denn dann kann er sie leichter dahin führen, wo es ihnen gut geht. Er möchte kein ferner Gott sein!

Was in der Regel fehlt, ist eine gute Hinführung zu Gott – bis wirklich nahe an ihn heran. Die Frage ist allerdings: Wie kommt man dahin? Eher nur in Ausnahmefällen allein. Wir beide – und Martina zeigt auf mich und sich – haben schon Gottes Nähe ziemlich hautnah erlebt. Und wir lernen noch tagtäglich dazu. Und nun meinen wir: Wenn auch andere sich danach sehnen, dann sollten wir ihnen helfen, das ebenfalls zu erleben.

Und weiter sagt sie: „Arno und ich haben zusammengesessen und wollten wissen, was wir hier heute tun sollen. Und das war das Ergebnis: Wir sollen euch anbieten, Gott hören und sehen zu können.“

Damit gibt Martina das Wort frei. Sofort sind Fragen da, wie denn das gehen soll. Und Martina erklärt: Man geht gemeinsam in die Stille, und jeder achtet innerlich auf mögliche Eingebungen von Gott. Da können dann überraschende Ideen und überzeugende Gedanken kommen. Oder man kann innerlich tatsächlich etwas hören – und das ist dann vielleicht Gottes Stimme. Oder man sieht etwas. Man kann womöglich sogar innerlich Jesus erblicken und mit ihm reden. Voraussetzung ist nur, dass man sich das ganz ernsthaft wünscht.

Die vier, die geblieben sind, besprechen ganz angeregt das Angebot untereinander. Aber es wird deutlich: Sie können sich kaum ein Bild davon machen, was sie erwartet. Deshalb bietet Martina eine ausgiebige Kostprobe an. Und die vier sind einverstanden.

Nun bittet Martina mich, wieder zu übernehmen. Und mir ist sofort klar: Jetzt ist die Sache mit dem klaren Willen dran. Aber wie angehen? Dann wird mir innerlich deutlich: Jetzt muss ein Ziel her, zu dem man Ja oder Nein sagen kann.

Ich erkläre entsprechend: „Für ein Ausprobieren ist es sinnvoll, ein klares Ziel zu haben. Daran lässt sich gut ermessen, was Probieren bringt. Und als solches Ziel schlage ich eine Entscheidung vor, die sich mit ja oder nein beantworten lässt. Bei dieser Entscheidung geht es darum, ob dem heutigen Treffen ein zweites Treffen folgen soll. Und zwar für weitere Schritte zur Annäherung an Gott.“

Doch bevor ich weitermachen kann, schiebt sich mir ein elementarer Gedanke ins Gehirn. Und ich sage: „Ein zweites Treffen macht nur dann Sinn, wenn Gott selbst es will. Es muss in Gottes Plan liegen.“

Daraus folgt für mich nun: „Bei einer ersten Annäherung an Gott versuchen wir heute also die Frage zu klären: Liegt ein zweites Treffen in Gottes Plan? – Ja oder Nein.“

Ich wiederhole die Frage. Dann haben alle verstanden. Und sie schauen mit Neugier dem Ergebnis entgegen.

Nun leite ich die Entspannung an, die Jo uns beigebracht hat. Dann folgen zehn Minuten Stille. Und in diese Stille hinein gebe ich immer wieder Impulse wie: „Kommt dir nun vielleicht eine Idee, eine Eingebung?“, „Hörst du nun vielleicht eine göttliche Stimme, die Ja oder Nein sagt?“, „Siehst du vielleicht Jesus zu dir kommen, und rät er dir zu oder ab?“

Als die zehn Minuten um sind, können alle ihre Erfahrung berichten. Allerdings hat niemand ein schlichtes Ja oder Nein erlebt. Vielmehr sind die inneren Erfahrungen vielfältig und breitgefächert. Knapp zusammengefasst ergab sich:

Die Pfarrerin hat innerlich ein deutliches „Macht weiter!“ gehört. Sie nimmt es als göttliche Bitte und Aufforderung und folgt ihr gern. Eine andere Frau erlebte eine Eingebung: Ein weiteres Treffen wird wie ein Same sein, der zu keimen beginnt und aus dem eine wunderbare Pflanze heranwächst.

Die dritte Frau sah innerlich Jesus: Er erklärte ihr, er würde sich sehr wünschen, dass sie wieder dabei ist. Sie sagte es ihm gern zu. Und den noch verbliebenen Mann beschäftigte seine Unzufriedenheit. Er haderte mit sich selbst und der Gemeinde. Und ob er bei einem weiteren Treffen dabei sein würde, dazu fand er nichts heraus. Aber jetzt, da er von den Erfahrungen der anderen hört, entschließt er sich zu einem klaren Ja.

Und auch Martina hat mitgemacht. Sie berichtet: Sie hat schon das nächste Mal gesehen. Und da waren elf Personen anwesend. Dann wechselte das innere Bild. Da sah sie nun die Kirche der Gemeinde von oben. Und aus der Kirche flossen kleine goldene Bäche in alle Himmelsrichtungen.

Alle Anwesenden sind nun also für ein weiteres Treffen. Damit ist jetzt fest davon auszugehen: Ein zweites Treffen liegt in Gottes Plan.

Zudem waren zwei verheißungsvolle Eingebungen dabei: Ein keimender Same. Und eine Kirche mit goldener Ausstrahlung. Ich deute es allen so: Da will noch einiges aufblühen und sich entfalten.

Damit übergebe ich der Pfarrerin das Weitere. Sie hat offenbar schon auf dieses Ergebnis gesetzt, denn sie hat sich einen Termin in der folgenden Woche freigehalten. Und sie wirbt für diesen Termin mit dem Hinweis: Weitere ernsthaft Interessierte aus der Gemeinde seien hochwillkommen. Die Pfarrerin vergisst auch nicht, um Gebet für den nächsten Termin zu bitten.

Beim Abschied bedankt sich die Pfarrerin bei uns. Zugleich entschuldigt sie sich für den Protestler. Mir kommt nun als Antwort in den Sinn: „Wo schwarze Schatten sind, da ist viel Licht.“ Die Pfarrerin schaut mich überrascht an. Dann lächelt sie entspannt: „Oh ja!“

Nun überlassen wir die Gemeindemitglieder sich selbst und ihren vermutlich regen Nachgesprächen.

37. Auswertung und Ausblick

„Wie war’s?“ möchte Jo wieder mal wissen. Martina beginnt mit dem Protestler. Er hat uns beiden mächtig Eindruck gemacht. Bis dahin war für mich undenkbar, mal so rabiat angegangen zu werden. Aber die Situation hat sich ja noch zum Guten gewendet.

Jo sieht es so: „Seid froh, dass der Protestler früh ging. Er hätte später die Atmosphäre vergiftet.“

Nun möchte Jo noch mehr wissen. Und er fragt uns nach Einzelheiten. Schließlich meint er: “Ich habe sehr darauf gesetzt, dass ihr ordentlich göttlichen Rückenwind kriegt. Und der hat tatsächlich kräftig geblasen!“

Jo ergänzt noch: „Ihr habt ein wenig Einheit in der Vielfalt erlebt: Vier kamen auf verschiedenen Wegen zu ihrer Entscheidung. Trotzdem war bei ihnen das Ergebnis am Ende gleich: Es soll ein neues Treffen geben. Solche Vielfalt der Wege macht etwas von Gottes Fülle sichtbar. Und zugleich zeigt sich seine Größe darin, dass er die Fülle auf ein Ziel hin bündeln kann.“

Einen Moment schweigt Jo, und dann fährt er anders fort: „Weißt du, Martina, bei dir ist mir etwas aufgefallen.“ Martina schaut Jo überrascht an.

Jo weiter: „Bei dir hat die Pfarrerin innerlich schon gewinkt, als ich noch gar nicht mit ihr gesprochen hatte. Dann hast du für das Treffen gestern sechs Teilnehmer vorhergesehen, und immerhin sind fünf Menschen aus der Gemeinde gekommen. Das war kaum daneben. Und bei dir war auch noch ein dunkler Mensch dabei – also der mit dem rigorosen Protest. Weißt du, Gott schenkt manchmal ein Vorauswissen. Und manchen Menschen besonders häufig. Vielleicht bist du so ein Mensch!“

Martina staunt. Und Jo fügt hinzu: „Bei solch einer Begabung möchte Gott, dass sie insbesondere anderen Menschen dient.“

Dann kommt Jo noch einmal zurück auf das Treffen. Und er meint: „Da hattet ihr übrigens eine leichte Gruppe. Das kann stimulieren und beflügeln.“

„Es gibt auch schwierigere Gruppen?“ möchte ich wissen. Jo: „Das sind Gruppen, bei denen es um persönliche Entfaltung geht. Da kommen dann Hemmnisse und Probleme auf den Tisch. Das Ziel ist da nicht gemeinsame Entscheidung, sondern persönliches Vorankommen.“

Solch eine Gruppe würde mich reizen. Aber da vertröstet mich Jo erst einmal. Und er begründet es so: „Bei Gruppen mit gemeinsamem Ziel stört es nicht sonderlich, wenn ein Mitglied das Ziel aus dem Auge verliert. Doch wo die Entfaltung einzelner Menschen im Mittelpunkt steht, da hat Gott für jeden einzelnen einen eigenen Plan. Und wenn dann auf dem Weg dahin ein Mensch in die Irre geht, kann es für ihn sehr frustrierend werden. Da ist mehr Wissen und Betreuung durch die Gruppenleitung nötig.“

Martina hakt ein: „Und was kann da passieren?“ Jo: „Kommt, darüber reden wir erst, wenn es akut ist. Aber das werdet ihr noch erleben.“

38. Prophetie und Wahrscheinlichkeit

„Arno!“, höre ich. „Arno!“ Ich sehe nichts, ich kann nur hören. Und mir wird klar: Das ist Gott. „Ich höre!“ antworte ich. Und Gott sagt: „Das Schwere wird leicht – ich hebe es an.“ Was für rätselhafte Worte! Oder sind sie verheißungsvoll?

Um mich herum ist es stockfinster. „Arno!“ höre ich noch einmal, aber jetzt ist es eine andere Stimme – es ist die Stimme von Jesus. Und er sagt: „Gib Gottes Worte an Jo weiter. Und er soll mit euch über Prophetie sprechen.“ Gut, das tue ich doch! Aber ist das alles?

Da fragt Jesus: „Möchtest du auch etwas für dich haben?“ Ich: „Ja gern!“ Da sagt Jesus „Komm!“, ergreift meine Hand, und zieht mich nach oben. Plötzlich sitze ich wieder auf einem Dachfirst – aber nun mit Jesus neben mir. Und ich reite dieses Mal nicht längs auf dem First, sondern sitze quer darauf und fühle mich gut und sicher.

Um uns herum ist es zwar Nacht, aber nicht finster. Und hier oben kann ich jetzt die Gestalt von Jesus deutlich erkennen. Er zeigt in die Ferne. Da sind viele Lichtpunkte zu sehen. Sie ballen sich hier und da zu kleinen Lichtnestern zusammen oder ketten sich zu längeren Lichtbändern aneinander.

Und Jesus sagt: „Es ist alles so dunkel. Es soll mehr Licht geben!“ Ich frage: „Und wie?“ „Vielleicht bist du daran beteiligt.“ Oh, das ist aber eine viel weitere Aussicht für mich, als ich sie früher mal auf dem Dachfirst hatte! Erst versuche ich nun, für mich selbst zu klären, was Jesus damit meinen könnte. Dann will ich ihn danach fragen. Aber da hat er sich schon davongemacht.

Als es dann Tag ist, bin ich wieder bei Jo. Und ich gebe Gottes Worte an ihn weiter. Jos Gesicht verzieht sich. Ihn überkommt und durchzuckt offenbar ein Schmerz. Und seine Augen werden verdächtig feucht. „Bitte wiederhol noch mal die Worte!“ sagt er. Und ich wiederhole: „Das Schwere wird leicht – ich hebe es an.“

Jo braucht Zeit, um sich zu fassen. Schließlich sagt er: „In meinem Leben hat es viel Schwere gegeben, die auf mir lastete – bis in die jüngste Zeit. Und nun diese Worte! Ich spüre, dass sie mir gelten. Und du darfst ihr Überbringer sein.“

Jo ist eine Weile innerlich weit weg. Schließlich kann ich auch noch an ihn weitergeben: Jesus bittet ihn, mit uns über Prophetie zu sprechen. Da ist Jo gleich wieder voll da! Allerdings meint er: Martina sollte unbedingt dabei sein. Doch kaum sagt er es, ist sie schon im Raum.

Jo geht nun gleich das Thema Prophetie an und meint: „Prophetien sollen die Zukunft zugänglich und planbar machen. Aber das ist ausgesprochen heikel. Im Leben ist so viel unabsehbar, dass bei solch einem Anspruch die Latte ziemlich hoch liegt. Immerhin zeigt sich manchmal im Nachhinein, dass eine Prophetie tatsächlich richtig gelegen hat.“

Martina nun: „Bei mir hast du gestern eine Begabung auf diesem Gebiet für möglich gehalten. Weil dreimal eingetreten ist, was ich gesehen habe.“

Jo: „Ja. Und du triffst vielleicht manchmal weiterhin etwas aus der Zukunft. Doch Sicherheit gibt es da nie. Und die ist auch nicht wichtig, wenn es etwa nur um die Personenzahl bei einem Treffen geht.“

Hoch riskant wird es jedoch nach Jos Meinung, wenn etwa das Leben eines Menschen von Voraussagen abhängt. Ärzte zum Beispiel helfen sich dann mit Eintrittswahrscheinlichkeiten. Sie fragen: Wie wahrscheinlich ist es, dass sich eine Krankheit in die eine oder in die andere Richtung entwickelt? Und dementsprechend entscheiden sie dann über einen Eingriff. Auch in anderen Berufsgruppen geht man so vor.

Da ist nun im Bereich der Prophetie die entsprechende Frage: Wie wahrscheinlich ist es, dass eine Voraussage tatsächlich eintrifft? In der Regel sollte man die Wahrscheinlichkeit ziemlich niedrig ansetzen. Doch es gibt auch Situationen, wo eine Prophetie ernster zu nehmen ist. Und zwar in zwei Fällen:

– Dann, wenn Voraussagen eines Menschen schon häufiger eingetroffen sind.

– Oder wenn mehrere prophetisch begabte Menschen Ähnliches voraussagen.

Aber selbst wenn diese Bedingungen erfüllt sind, meint Jo, ist kein absoluter Verlass auf eine Prophetie. Setzt man trotzdem darauf, begibt man sich immer auf ein schwankendes dünnes Brett.

Nach kurzem Überlegen ergänzt Jo noch: Eine Prophetie kann allerdings auch im Nachhinein einen Wert haben. Denn wenn sie tatsächlich eingetroffen ist, kann man hinterher höchst erstaunt und hocherfreut feststellen: Oh, Gott hat vorher etwas angekündigt, dessen Eintritt man hinterher tatsächlich erlebt hat. Und damit will Gott offenbar zeigen: Man kann ihm wirklich vertrauen.

Martina nun: „Ja, stimmt! Mir hat Gott auf diese Weise bestätigt: Die Treffen sind wirklich sein Wille. Und wir sind dabei voll mit ihm unterwegs.“

Aber Jo ist noch nicht zu Ende: „Es gibt noch einen anderen Typ von Vorausschau. Das sind eher allgemeine Aussagen von Gott zur Zukunft. Deren Besonderheit ist: Sie kündigen Gutes an. Aber sie sind überhaupt nicht festgelegt auf Ort und Zeit. Man kann solche Zusagen dann göttliche Versprechungen oder Verheißungen nennen.“

Jo denkt da wohl gerade an das, was ich ihm als nächtliche Erfahrung mitgebracht habe. Da hat er auch ein Versprechen von Gott erhalten, das zeitlich nicht festgelegt ist. Und Jo meint nun: „Derartige erfreuliche, aber unbestimmt gehaltene Ankündigungen dienen vor allem der Motivation. Sie lassen das Leben positiver aussehen. Sie machen zukunftsfroh. Sie bauen innerlich auf und stärken das Gottvertrauen.“

Und nun kommt Jo ein Einfall. Er überlegt kurz, geht dann an seinen Arbeitstisch und sucht dort ein wenig herum. Dann hält er ein Buch hoch und sagt: „Das hat Hannah geschrieben. Gott zeigt sich darin viel liebevoller, als er normalerweise gesehen wird. Und das Buch ist voll von kleineren und größeren Verheißungen von Gott.“ Er blättert und liest gleich noch ein bisschen darin.

Dann kommt er zum Eigentlichen: „Hannah arbeitet auch prophetisch für einzelne Menschen. Wenn ihr wollt, schau ich mal, ob sie uns besucht. Wollt ihr?“ Natürlich wollen wir. Solch eine Frau werden wir mit Neugier und Vergnügen begrüßen.

Jo will nun schauen, ob er schnell einen Termin mit ihr ausmachen kann.

39. Dimensionen von Prophetie

Schon am nächsten Tag überrascht uns Jo mit der frohen Botschaft: Hannah hat Zeit, mal kurz bei uns vorbeizuschauen. Und sie wird sogar gleich auftauchen.

Wir selbst sind gerade erst angekommen. Und Jo erkundigt sich zuerst noch bei uns: „Seid ihr denn schon aufnahmebereit für das Thema Prophetie?“ Aber selbstverständlich sind wir das!

Dann hält Jo noch eine kleine Einführungsrede, bevor Hannah eintrifft: „Es gibt eine ungeheure Nachfrage nach Vorauswissen in der Welt. Seriös ist es etwa, wenn Wissenschaftler damit beauftragt werden, Zukunftsentwicklungen abzuschätzen. Aber gar nicht so selten ist es, dass ihre Prognosen schon nach kurzer Zeit in den Papierkorb wandern.

Viele Menschen versuchen es aber auch mit Sternzeichen und Horoskopen. Sie wollen so an verheißungsvolle Impulse für ihren Alltag kommen. Und auch noch andere Verfahren sollen zu hilfreicher Vorausschau führen und als Handlungsanleitung dienen. Doch für mich sind sie alle äußerst fragwürdig. Für mich sind ihre Quellen undurchsichtig bis äußerst verdächtig. Darauf würde ich mich nie einlassen.“

„Hannah dagegen ist für dich vertrauenswürdig?“ fragt Martina. „Ja, unbedingt!“ „Und warum?“ Jo: „Hannah hat einen kurzen Draht zu Gott. Er hat ihr schon viel über seine unendliche Liebe zu den Menschen gesagt und gezeigt. Das belegt jede Seite ihres Buches. Und er sagt ihr auch häufig Zutreffendes zu realen einzelnen Menschen.“

Es klopft leicht an der Tür. Jo bittet Hannah hereinzukommen. Und da ist sie nun! Hannah freut sich, uns kennenzulernen. Und wir schauen ihr neugierig entgegen.

Zunächst gehen freundliche Worte hin und her. Dann kommt Jo zu Sache: „Hannah, du hast mir mal erzählt, wie deine Karriere – in Anführungsstrichen – begann. Auf einem sehr bekannten Pilgerweg beauftragte dich Gott: Du solltest da einer Frau ein paar bestimmte Worte zu sagen. Du fandest das verrückt und hast dich erst gesträubt. Doch schließlich hast du dich überwunden. Und dann trafen deine Worte bei der Frau voll ins Schwarze. Sie waren eine entscheidende HiIfe für sie. Inzwischen bist du sehr gefragt und arbeitest rundum als von Gott Beauftragte. Die beiden hier sind auch auf einem interessanten Weg.“ Damit zeigt Jo auf uns.

Hannah schaut uns an und meint lächelnd: „Ja, ihr habt einen bemerkenswerten Auftrag!“ Und ich frage mich sofort: Oh, was hat Jo ihr von uns erzählt?

Aber Jo erklärt uns: „Hannah weiß ganz schnell etwas zu Menschen, die sie kennenlernt. Oder über die man spricht. Sie sieht dann oft wesentliche Dinge, die sie eigentlich überhaupt nicht wissen kann. Das hat bereits viel mit Prophetie zu tun. Sie weiß wohl auch schon etwas über euch.“ Hannah lächelt vielsagend.

Martina möchte nun wissen: „Wenn du etwas weißt: Siehst du das dann in Gestalt innerer Bilder?“ Und Hannah: „Ja, häufiger sehe ich etwas innerlich. Aber mir wird auch oft etwas gesagt. Oder ich habe einfach ein inneres Wissen.“

Mich interessiert nun: „Das kommt doch dann für dich von Gott. Aber woher weißt du, dass es wirklich von Gott ist?“ Ich selbst frage mich ja gelegentlich, ob ich tatsächlich Gott höre.

Hannah darauf: „Das ist viel Erfahrungssache. Mit der Zeit wird man immer sicherer. Aber ich habe zusätzlich noch ein besonderes Gespür dafür, wenn sich Ungöttliches einmischen will.“

Martina nun: „Jo hat gesagt: Du arbeitest viel prophetisch. Du siehst, hörst oder weißt also, was auf Menschen zukommt. Triffst du da immer ins Schwarze?“

Hannah mit leisem Bedauern: „Leider nicht immer. Und dafür gibt es verschiedene Gründe. Denn einmal kommt es darauf an, wie Menschen mit einer Prophetie umgehen. Manche benehmen sich so daneben, dass Gott ihnen gar nicht geben kann, was er ihnen prophetisch versprochen hat.“ Das ist logisch.

Und Hannah kennt auch diese Situation: „Da will Gott zwar einem Menschen Mut machen. Aber gerade deshalb darf er ihm nicht alles aufdecken, was kommt. Denn der Mensch beißt sich sonst vielleicht an einer Krise fest, die er zunächst zu überstehen hat. Er würde dann das Gute überhören, das Gott ihm ankündigen möchte.“

Schließlich gesteht Hannah aber auch noch: „Gelegentlich liege ich auch mal ziemlich daneben. Dann frage ich mich: Warum? Oft ist das nicht klar. Doch letztlich hat das wohl immer den Sinn: Ich muss selbstkritisch und bescheiden bleiben. Und Gott trotzdem weiterhin vertrauen.“

Mir fällt nun ein: „Manchmal kommen doch harte Zeiten auf Menschen zu. Sagst du ihnen das auch?“

Hannah: „Das kommt schon vor. Dann muss ich jemandem zum Beispiel sagen: Wenn du dies oder jenes nicht änderst, dann wird es hart für dich! Oder ich muss jemanden auf etwas Unausweichliches vorbereiten. Dann sagt Gott allerdings auch immer etwas Tröstliches und Hilfreiches dazu.“ Das klingt gut, finde ich, und das ist auch ungemein wichtig.

Eine Gesprächspause tritt ein. Das Wesentliche scheint nun gefragt und gesagt zu sein. Damit kann Jo nun Hannah verabschieden. Ihr ist es recht. Und nach ein paar klärenden Worten zu einem noch ganz anderen Thema geht sie.

Danach hat Jo als Nachwort für uns: „Gestern habe ich mich sehr vorsichtig zu Prophetie im Allgemeinen geäußert. Hannah ist aber ein höchst lebendiges Beispiel dafür, dass Prophetie manchmal ganz gut funktioniert.“

40. Eingebungen und Kennzeichen dafür

Mit Martina treffe ich bei Jo ein. Und Martina sprudelt gleich los: „Ich habe gerade vier Frauen wiedergesehen. Das sind die, mit denen zusammen ich das erste Mal Arno begegnet bin!“

Martina staunt noch immer. Die vier Frauen traf sie in einer kleinen Dorfkirche. Und als Martina völlig unerwartet zu ihnen kam, waren auch die Frauen überrascht und begeistert. Da wurden nun eifrig Erlebnisse und Erfahrungen ausgetauscht. Die vier waren in der Zwischenzeit jeweils zu zweit unterwegs gewesen – auch in Begleitung von Jesus. Und nun taucht Martina plötzlich wieder bei ihnen auf? Alle fünf fragen sich jetzt: Ist das vielleicht ein Zeichen, dass anspruchsvollere Einsätze bevorstehen?

Martina wendet sich nun an Jo: „Hast du eine Idee, worauf das hinausläuft?“

Und Jo hat eine Idee: „Vielleicht passt da gerade einiges wunderbar zusammen! Die Pfarrerin hat angerufen. Denn sie fragte sich, ob beim nächsten Treffen genug Menschen aus der Gemeinde kommen würden. Und sie wollte wissen, ob wir vielleicht dazu einen Vorschlag hätten.“ Nun wendet sich Jo an Martina: „Vielleicht können ja ein paar von deinen Frauen mitkommen.“

Aber weiter möchte sich Jo nicht zum Treffen äußern. Vielmehr überträgt er uns gleich die volle Verantwortung dafür. Und das heißt: Wir sollen nun selbst irgendwie mit der Anfrage der Pfarrerin umgehen. Jo bleibt jetzt zwar noch im Raum, aber er begibt sich an seinen Schreibtisch und beschäftigt sich da.

Ich schaue Martina an und sie mich. Dann schlage ich vor, zum probaten Mittel der Stille zu greifen und zu schauen, was Gott uns eingibt.

Wir gehen wieder in uns. Erst habe ich Mühe, sinnlos kreisende Gedanken nachhaltig zu verscheuchen. Nach einer Weile kommen aber innerlich die Worte zu mir: „Ihr geht zu viert. Thema Prophetie.“ Sie sind knapp und klingen schon wie eine Anweisung.

Martina sieht in dieser Zeit elf Menschen an einem Tisch. Die sitzen still und mit geschlossenen Augen da und bekommen immer längere Ohren. Diese Ohren bleiben bei einigen zwar noch relativ kurz, aber bei anderen werden sie extrem lang.

Doch was schließen wir daraus? Ich meine zu Martinas Bild: “Wenn es nach den Zahlen geht, kommen wohl zwei von deinen Frauen mit uns beiden mit. Wir sind dann zu viert. Und wenn aus der Gemeinde sieben Menschen dabei sind, wären wir insgesamt zu elft.“ Martina kann das auch so sehen – wenn auch aller Vorsicht.

„Aber was ist das Thema?“, fragt Martina. „Bei dir scheint es ja Prophetie zu sein. Doch was bedeuten bei mir die immer länger werdenden Ohren?“ Da habe ich eine Eingebung: „Es geht da um den inneren Empfang. Und der ist von Person zu Person unterschiedlich. Ich denke: Jeder erhält etwas anderes – ganz nach persönlichem Bedarf.“

Aber damit sind wir nur einen Schritt weiter. Wir brauchen mehr. Und wir spekulieren zunächst mehr oder weniger herum. Schließlich einigen wir uns auf die Vermutung: Bei der Prophetie könnte es um den Bedarf der Gemeinde gehen. Und zugleich könnte ebenso der persönliche Bedarf der Teilnehmer zum Thema werden.

Die Frage ist dann allerdings: Können wir zwei so unterschiedliche Themen bei ein und demselben Treffen auf die Tagesordnung setzen? Wir denken: Allenfalls ausnahmsweise. Denn beide Themen haben das Potenzial, zu einer Art Dauerbrenner zu werden. Und das heißt: Es könnte beim nächsten Treffen um die Aufteilung in zwei Gruppen gehen. Und die würden danach längere Zeit getrennt voneinander weiter bestehen.

Jo hat sich inzwischen wieder zu uns gesetzt. Nun wollen wir seine Meinung hören. Er fragt erst einmal: „Ihr fühlt euch unsicher?“ Ja, das tun wir. Es geht ja nicht um Belanglosigkeiten. Jo nun: „Dann reden wir doch erst einmal über Unsicherheit! Hannah hat gestern auch gestanden, dass sie bei Prophetien nie absolut sicher ist.“ Ja, ein guter Einstieg!

Jo fragt nun: „Woran erkennt man also, dass Eingebungen von Gott sind?“ Bevor wir zu denken anfangen können, sagt Jo schon: „Ich nehme gleich mal als Beispiel, was Gott mir über Arno ausrichten ließ: Das Schwere wird leicht – ich hebe es an. Diese Worte sind bei mir unerwartet tief reingegangen. Damit habt ihr schon einen ersten wichtigen Punkt.“

Und Jo zählt dann weitere Kennzeichen für Eingebungen auf. Es geht nicht ganz schnell, aber schließlich hat er vier Kriterien beisammen. Danach können Eingebungen von Gott sein:

– Erstens: Worte, Ideen, Gedanken oder Bilder, die tief berühren.

– Zweitens: Ungewöhnlich klare Einsichten, die irgendwie leuchten.

– Drittens: Nachdrückliche Worte, die schon fast wie ein Befehl klingen.

– Viertens: Ideen und Worte, die ausgesprochen originell sind.

Und zusätzlich weist Jo noch darauf hin: Die Eingebungen müssen immer im Interesse Gottes liegen, und sie dürfen keinen wesentlichen Schaden anrichten. Das ist ein ganz großes Muss!

Während Jo diese Punkte aufzählt, tauchen in mir schon die Worte auf, die ich gehört habe: „Ihr geht zu viert. Thema Prophetie.“ Sie klangen sehr nachdrücklich. Sie wirkten wie eine unverrückbare Feststellung, der ich keinesfalls zu widersprechen habe. Und irgendein Schaden ist durch sie auch nicht zu erwarten. Also waren sie höchstwahrscheinlich eine Eingebung von Gott.

Jo ist aber noch nicht fertig: „Es gibt zwar häufig starke Hinweise darauf, dass Eingebungen von Gott sind. Aber letztlich gibt es nie Beweise dafür! Deshalb ist bei Eingebungen immer wieder Vertrauen gefragt. Und häufig auch Mut. Denn man riskiert ja, daneben zu liegen. Deshalb nie übermütig werden! Für den Fall der Fälle ist es grundsätzlich sinnvoll, vorher das Risiko und die mögliche Fallhöhe einzukalkulieren.“

Jo hält inne. Dann denkt er weiter: „Gott verlangt bei Eingebungen immer wieder einen kleinen oder größeren Vertrauensvorschuss. Ist er damit anspruchsvoll? Ja schon! Denn man kann mit einer vermeintlichen Eingebung ordentlich auf die Nase fallen. Oder auch richtig hinknallen. Das ist nicht zu leugnen. Ich erlebe das schon mal. Aber dann mutet Gott einem damit auch einen Lernprozess zu. Er ist da nicht bösartig, sondern letztlich immer durchaus liebevoll. Unser Weg ist einfach ab und an mit kleineren und manchmal auch mit großen Enttäuschungen gepflastert. Aber bei Enttäuschungen wird man von Täuschungen befreit. Und gerade so führt unser Weg letztlich immer näher heran an Gott.“

Enttäuschungen? Aber bitte nicht gerade jetzt! denke ich.

Jo geht sichtlich noch etwas im Kopf herum. Und schließlich kommt es heraus: „Gott gibt immer als erster einen Vertrauensvorschuss. Und zwar jedem Menschen, den er in diese Welt entlässt. Denn jedem gibt er die Möglichkeit, ihm näher zu kommen. Und er hofft und freut sich auf jede Annäherung. Doch damit geht Gott auch seinerseits Risiken ein: Denn jeder Mensch verweigert sich ihm ab und an. Und manch einer kehrt ihm sogar ziemlich aggressiv den Rücken. Und das heißt: Auch jeder Mensch enttäuscht Gott mal weniger, mal mehr.“

Jetzt fällt Jo wieder das Telefonat mit der Pfarrerin ein. Er fragt, wie wir es denn nun mit dem Risiko halten. Wir schauen uns an, und dann ist klar: Wir stehen zu unserem Konzept. Es ist mit einem gut kalkulierbaren Risiko verbunden. Notfalls können wir noch direkt beim Treffen mehr oder weniger elegant davon Abstand nehmen. Das Enttäuschungsrisiko sollte damit eigentlich vertretbar sein.

Jo sagt uns nun zu: Er wird unser Konzept in groben Umrissen an die Pfarrerin weitergeben. Und er wird ihr auch ankündigen, dass wir voraussichtlich die Zahl der Teilnehmer noch um zwei Frauen aufstocken können.

41. Gebet und Dringlichkeit

Martina und ich sind schon in Jos Arbeitszimmer. Aber Jo lässt sich noch nicht blicken. Wir spüren Unruhe in uns. Und Ungeduld. Wir möchten vorankommen!

Martina schlägt vor, wir sollten heftiger als sonst darum beten, dass es vorwärts geht. „Wie heftig?“ frage ich. Martina meint: „Ich glaube, wir dürfen auch ein wenig drängeln.“ „Wieso?“ frage ich. Martina: „Na, überleg doch mal, wie viel Zeit uns noch bleibt!“ Ich: „Ja ok, es wird knapper. Aber vielleicht schauen wir doch erst einmal innerlich, ob wir überhaupt drängeln dürfen.“ Martina ist sofort einverstanden.

Wir gehen in eine kurze Stille. Ich höre innerlich: „Ihr sollt drängeln!“ Ist das nun wirklich eine Eingebung von Gott? Ich bitte Gott, den Grund zu nennen, warum wir drängeln sollen. „Meine Zeit ist gekommen!“, höre ich nun. Aber ist das nur ein Wunsch von mir? „Es gibt Zeiten für Geduld, und es gibt Zeiten für Eile.“ Das klingt jetzt doch ziemlich nachdrücklich. Ok, dann ist nun wohl tatsächlich Zeit für Eile! Aber warum dann Gott bedrängen? „Es ist gerade meine göttliche Ungeduld, die in euch ist. Und wenn ihr mich bedrängt und bestürmt, zeigt ihr, dass ihr mit ganzem Willen auf meiner Seite steht.“

Jetzt muss ich einfach darauf vertrauen, dass Gott mit mir spricht! Aber da ist ja auch noch Martina. Mal sehen, was sie aus der Stille mitbringt.

Martina öffnet schließlich die Augen und schaut mich groß an: „Ich habe einen Mann gesehen, der Hilfe braucht. Und zwar schnell!“ Das ist wahrhaftig eilig. Ich beschreibe Martina mein Gespräch mit Gott. Und wir werden uns einig, jetzt sofort Gott zu bedrängen – und ja, ihn auch zu bestürmen. Sein Wille sei jetzt absolut unser Wille!

Wir bedrängen nun Gott gemeinsam. Wir wollen, dass es vorangeht! Wir wollen, dass so schnell wie möglich geschieht, was Gott im Auge hat. Wir wollen das mit aller Intensität! Und wir wollen auch, dass dem Mann geholfen wird.

Ich öffne dann meine Augen – und Martina ist weg! Einfach fort! Hat das mit unserem Gebet zu tun? Je mehr ich darüber nachdenke, desto sicherer bin ich: Ja, unser Gebet ist der Grund. Aber wo mag sie hin sein?

Jo kommt, und ich berichte ihm. Er ist höchst erstaunt, aber bleibt ruhig. Er arbeitet jetzt einfach ein bisschen. Und er schlägt mir vor, in aller Gelassenheit auf die Rückkehr von Martina warten. Na ja, er kann das. Ich aber nicht!

Nach etwa einer viertel Stunde ist Martina so plötzlich wieder so da, wie sie vorher verschwunden ist. Allerdings muss sie sich jetzt noch besinnen. Sie wirkt so, als wenn sie mal kurz in eine völlig fremdartige Welt eingetaucht ist und nicht fassen kann, was ihr da widerfuhr.

Schließlich kann sie berichten: Sie befand sich plötzlich auf einem Bootssteg. Um sie herum große und teure Jachten. Ihr war, als hätte es sie auf einen anderen Planeten verschlagen. Doch Jesus erschien ihr und nahm sie in aller Selbstverständlichkeit mit auf eine dieser Jachten. Inmitten von blinkendem Luxus lag da ein Mensch bewusstlos auf dem Boden. Es war genau der Mann, den sie innerlich gesehen hatte. Jesus forderte sie auf: „Hol Hilfe!“ Und Martina fand sofort auf dem Steg einen Menschen, der einen Notruf absetzte. Martina blieb dann so lange, bis der Mann erste Hilfe erhalten hatte und abtransportiert wurde.

Jo ist sehr überrascht. Und ich bin sogar richtig erschüttert. Was geschieht uns da? Und dann denke ich: Mehr Sicherheit gibt es doch gar nicht dafür, dass Gott tatsächlich mit uns geredet hat!

Dann hat Jo eine Eingebung und sagt: „Martina, voraussichtlich wirst du den Mann noch wiedersehen und besuchen.“ Martina guckt überrascht, aber man kann ihr ansehen: Das gefällt ihr durchaus. Und sie sagt erfreut: „Ja, warum nicht? Gern!“

Das Geschehen bringt Jo nun auf eine spezielle Frage: „Schon früher wollte ich das wissen, aber jetzt ist vielleicht ein guter Zeitpunkt dafür: Wie geht es euch eigentlich damit, dass ihr an- und ausgeknipst werdet? Also dass ihr nur zeitweise da seid? Und dabei werdet ihr auch noch mal nach hier und mal nach da versetzt.“

Martina fühlt sich persönlich gefragt: „Oh, das hat mich manchmal schon fast wütend gemacht! Man fühlt sich so ausgeliefert. Doch man gewöhnt sich daran. Und wenn dann so etwas passiert wie eben, dann ist das Abenteuer pur. Und einfach toll!“

Und ich? Ich erinnere mich: „Zunächst war viel Hilflosigkeit da. Nur wollte ich mir das nicht eingestehen. Inzwischen habe ich viel Vertrauen, dass dieses Hin und Her einen tiefen Sinn hat. Ich lasse es mir jetzt mit großem Einverständnis gefallen. Und ab und an gibt es ja auch Ausgleich: Dann dürfen wir uns selbst ein Ziel aussuchen.“

Jo guckt nun ganz zufrieden.

42. Besinnung, Umkehr und Heilung

Am nächsten Tag sind wir wieder bei Jo. Aber es ist anders als sonst: Martina hat gleich aufgeregt etwas zu berichten: Jo hat recht behalten! Denn sie hat den Mann, den sie gerettet hat, inzwischen tatsächlich wiedergesehen. Gerade vorhin.

Sie war plötzlich in sein Krankenzimmer versetzt, und sie tauchte da unerwartet vor seinen Augen auf. Verwirrt fragte sich der Mann halblaut: „Habe ich Wahnideen?“ Da legte ihm Martina die Hand auf den Arm. Und ihr gelingt es, ihm so die Zweifel an seiner eigenen Zurechnungsfähigkeit zu nehmen.

Sie sprechen dann miteinander. Mit der Zeit wird der Mann immer aufgeschlossener. Erst recht nachdem er von ihr erfahren hat: Sie ist die Frau, die ihn gerettet hat. Und Martina ihrerseits hört von ihm: Hätte er noch wesentlich länger da auf seiner Jacht gelegen, wäre das wohl echt schlimm ausgegangen.

Irgendwann fragt er: „Bin ich gerade mitten in einem Wunder?“ Martina bestätigt ihm das ganz schlicht. Und er fragt weiter: „Warum passiert mir das?“

Martina ist jetzt ganz auf Eingebung angewiesen. Und sie sagt ihm: „Gott hat etwas vor mit Ihnen.“ Und er fragt: „Gott?“ Der ist ihm unendlich fern. Und Martina riskiert nun, ihm zu sagen: Es ist Gott, der ihn auf seiner Jacht umgehauen hat. Damit er zur Besinnung kommt.

Der Mann ist irritiert. Anscheinend ist er es überhaupt nicht gewohnt, so etwas gesagt zu bekommen. Und das auch noch von einem fremden Menschen! Erst will er höchst unwirsch reagieren. Martina sieht es ihm an. Aber dann hält er sich doch zurück, offenbar weil diese Frau vor ihm etwas Besonderes zu sein scheint.

Martina wagt sich nun noch einen Schritt weiter vor. Denn sie hat eine zusätzliche Eingebung. Sie sagt dem Mann jetzt auf den Kopf zu: Er ist ein Mensch, der als Unternehmer nur hinter dem Geld her ist und nicht genug davon bekommen kann. Und der darüber seine Mitarbeiter und auch noch andere Menschen aus dem Auge verloren hat. Gott will, dass er zur Besinnung kommt. Dass er umkehrt.

Kaum hat sie das gesagt, wird sie weggenommen und verschwindet vor seinen Augen. Und Martina vermutet: „Jetzt liegt er da und grübelt, was für eine Erscheinung ich wohl war.“

Jo lächelt: „Lass ihn grübeln. Eine Umkehr um 180 Grad geht nicht mit Hauruck. Die braucht Zeit. Du wirst ihn noch mehrfach besuchen.“

Dann wechselt Jo das Thema: „Jesus und du, Martina, ihr habt dem Mann gemeinsam geholfen. Erst wurde er rechtzeitig gerettet, und nun kann er deshalb noch Heilung im Krankenhaus erfahren. Das bringt mich auf das Thema Heilung: Wenn ihr wollt, erzähle ich euch eine Geschichte, bei der Jesus in inneren Bildern heilt.“

Oh, so etwas ist uns neu. Da sind wir jetzt ganz Ohr!

Jo berichtet nun: Vor zwei Jahren traf er in einem Park eine Frau. Er hatte vorher schon mit ihr Kontakt gehabt und wusste, dass sie christlich orientiert ist. Im Park trug sie ständig eine Sonnenbrille. Die setzte sie nur kurz ab und bat darum, sie weiter tragen zu dürfen. Denn sie werde ständig von Migräne begleitet.

Auf christlicher Ebene hatten die beiden viel Gesprächsstoff. Dabei erfuhr Jo, dass die Frau gelegentlich ebenfalls Jesus in inneren Bildern erlebt. Nach einiger Zeit fragte er sie, ob er nicht vielleicht zusammen mit ihr die Migräne angehen sollte. Sie war sofort dafür. Und sie setzten sich auf eine ruhige Bank in einer Parkecke.

Und Jo weiter: „Ich ließ sie die Augen schließen. Dann fragte ich sie, wo und wie sie die Migräne innerlich sieht. Und sie beschrieb die Migräne so: Sie sitzt als zehn Zentimeter dicke Kugel über dem rechten Auge. Und sie ist da braun und hart.“

Jetzt bat Jo die Frau, sich innerlich nach Jesus umzuschauen. Sie sah ihn sofort, er war gleich für sie da. Nun sollte sie ihn fragen, welches weitere Vorgehen er vorschlägt. Und Jesus erklärte ihr erst einmal: Er hat schon lange gewartet, dass sie ihn um Befreiung von der Migräne bittet. Und dann sparte er sich weitere Worte und handelte sofort: Er nahm einfach die Kugel heraus. Und er füllte die leere Stelle mit Licht und Wärme auf.

Die Migräne war damit sofort verschwunden! Jo konnte es kaum fassen. Eine so blitzschnelle Heilung hatte er nicht erwartet und war perplex. Der Schmerz blieb danach längere Zeit ganz weg. Erst später tauchte er gelegentlich auf, verschwand dann aber auch wieder. Inzwischen hat Jo keinen Kontakt mehr zu der Frau und weiß nicht, wie es mit ihr weiterging.

Wir staunen. Heilung auf solche Weise? Und so schnell? Und bei Jo?

Jo ergänzt: „Jesus kann und will oft in inneren Bildern Menschen befreien. Dabei geht es aber eher selten um Befreiung von körperlichen Leiden. Viel wichtiger ist ihm meistens die Befreiung von Angst oder anderen seelischen Fesseln. Ich habe da schon Verblüffendes gesehen.“

Da frage ich nun vorsichtig: „Hättest du nicht auch bei Martina ….?“ Jo: „Bei ihr die Heilung mit Jesus angehen? Nein, ich hatte keinen inneren Impuls dafür: Jesus muss das erst einmal wollen.“ Und dann zu Martina: „Es ist es schon richtig, wie es bei dir gelaufen ist. Ich denke, da hat euer Gebet mitgeholfen.“

„Ich hätte ja Lust von dir zu lernen“ sage ich nun zu Jo. „Befreiung und Heilung durch Jesus mit inneren Bildern, das ist doch was.“ Aber Jo lächelt: „Zumindest vorerst ist das nicht eure Aufgabe!“

43. Risiken und Vorsicht

Martina hat bereits wieder den Unternehmer besucht. Er hat sich inzwischen erkundigt, wie die Frau aussah, die ihn gerettet hat. Und die Beschreibung ihrer Textilien stimmt genau mit der Kleidung überein, in der Martina nun wieder bei ihm erscheint. Da ist er sich jetzt absolut sicher, dass ihm Außerordentliches geschieht. Und er empfängt Martina mit großer Freude.

Sie sprechen nun über Gott. Und Martina berichtet ihm, was sie inzwischen über Gottes Geschenke weiß, aber auch über Gottes Ansprüche. Vor allem sagt sie ihm: Er würde mehr mit sich selbst im Reinen sein, wenn er sich ernsthaft um seine Mitarbeiter kümmern würde.

Der Mann beginnt nun tatsächlich zu überlegen, was er auf der Personalebene tun könnte. Und wie das aussehen müsste. Doch mittendrin wird Martina wieder abberufen.

Nun ist Martina zurück bei Jo mit der Frage: „Jo, was soll er tun im Hinblick auf Gott?“

Und Jo: „Ein kleiner, aber vor Gott durchaus wichtiger Schritt wäre es, wenn er seinen Mitarbeitern Vorrang vor seinem Geld geben würde. Und ein noch viel größerer Schritt wäre es, wenn er auch noch sein eigenes Leben unter Gottes Willen stellte.“

Martina: „Und was ist dafür nötig?“ Jo: „Erst einmal muss er Gott um Vergebung bitten. Und zwar für alles Unrecht und alle Verletzungen, die er anderen angetan hat. Auf die Weise macht er reinen Tisch. Voraussetzung dafür ist aber ein Mindestmaß an Schuldbewusstsein. Nur dann bekommt er Vergebung.“

Martina nun: „Er hat schon überlegt, was er mehr für seine Leute tun könnte. Ich denke, er ist einsichtig.“ Darauf Jo: „Das ist gut! Dann ist für ihn noch dran, sich in wichtigen Dingen von Gott leiten und führen zu lassen.“

„Und wenn er das nicht macht?“ will Martina wissen. „Das ist nicht so gut für ihn“, sagt Jo. „Denn Gott hat ihm eine wunderbare Errettung geschenkt, und das heißt: Gott hat wohl eine besondere Berufung für ihn. Aber wenn er die einfach verplempert, läuft er Gefahr, sein Leben ziemlich in den Sand zu setzen. Und seine Krankheit könnte zum Beispiel noch härter zuschlagen.“

„Das heißt,“ fragt Martina nun, „ich bin nun ihm gegenüber sehr in der Pflicht?“ Jo: „Unbedingt! Du musst ihn behutsam, aber zielstrebig dahin führen.“ Martina macht ein etwas besorgtes Gesicht. Jo sieht es und meint: „Du weißt doch: Gottes Hand ist mit dir.“

Jo möchte nun zu etwas anderem kommen: Ihm liegt unser nächstes Treffen am Herzen. Er hat die Pfarrerin informiert, und die findet gut, was wir machen wollen. Allerdings meint Jo, dass er uns dafür noch besser rüsten sollte.

Er sagt: „Ihr steht bei eurem Vorhaben unter dem Schutz Gottes. Und ihr kriegt wohl auch noch Verstärkung durch zwei Frauen. Die heben sicherlich die Atmosphäre mit auf ein intensiveres Niveau. Aber der Protestler vom letzten Mal ist sicher bei euch unvergessen. Und auch noch anderes kann passieren.“ Da werden wir aufmerksam: „Oh, was denn?“

Jo jetzt: „Ihr habt schon beim ersten Treffen erlebt, dass eine Frau innerlich Jesus sah. Ein ganz wichtiger Punkt dabei ist: Niemals dürft ihr Menschen in innere Bilder hineindrängen! Da würdet ihr ein hohes Risiko eingehen. Denn manche Menschen sind psychisch nicht stabil. Bei denen könnte man damit einigen Schaden anrichten.“

Martina: „Ok, das wäre schlimm! Ja, das müssen wir uns unbedingt merken. Und wo müssen wir noch aufpassen?“

Jo: „Das war jetzt die psychische Ebene. Und es gibt auch noch die spirituelle Ebene. Und da müsst ihr wissen: In inneren Bildern kann schon mal ein unwirksamer Jesus auftreten. Das ist zwar ziemlich selten, aber es kann passieren. Man erkennt diesen falschen Jesus daran, dass er nicht vertrauenswürdig wirkt oder dass er blass oder kalt erscheint. Und das bedeutet: Am besten vergewissert man sich zunächst immer, dass der im inneren Bild auftretende Jesus warm, liebevoll und vertrauenswürdig ist. Dann ist es der richtige und wahre Jesus.“

Darauf ich: „Und wenn es ein falscher Jesus ist?“ Jo: „Dann weist man die unechte und unwirksame Gestalt einfach aus den inneren Bildern hinaus. Man sagt zum Beispiel: Hau ab! Und dann bittet man den wahren Jesus herbei.“

Das bringt nun Jo überhaupt auf Eingebungen: „Ich habe euch schon gesagt, woran man Gottes Eingebungen erkennen kann. Aber daneben kann noch anderes auftreten oder schief gehen.“ Martina und ich gucken uns an. Das war bislang außerhalb unserer gedanklichen Reichweite. Und Martina fragt: „Was kann denn da noch schief gehen?“

Jo: „In der Stille kommen ja nicht nur göttliche Eingebungen. Daneben treiben sich meist noch andere Einfälle und Gedanken im Kopf herum. Und vieles davon ist völlig belanglos. Es ist einfach nur Füllmaterial um Gottes Geschenke herum. Doch auch ziemlich Heikles kann dabei sein.“ Und ich: „Heikles?“

Jo: „Heikel sind etwa persönliche Wünsche, die sich in den Vordergrund drängen und behaupten, sie kämen von Gott. Sie seien eine göttliche Eingebung. Denen kann man schon mal auf den Leim gehen. Auch Ärger oder Angstgedanken können auftauchen. Oder Rachegedanken. Solche Gedanken kann man zwar kaum für göttliche Eingebung halten. Aber sie können hervorragend die Konzentration stören, auf Abwege führen und von Erhebenderem abhalten.

Leider lässt sich unser Gehirn kaum stilllegen. Es giert nach Beschäftigung und unterhält gern ein Gedanken-Karussell. Aber manches, was dabei in uns kreist, ist eben nicht ganz harmlos.“

Dann findet Jo, nun sei es aber genug mit dem Thema Gefahren. Und er erklärt energisch: „Euer zweites Treffen wird auf jeden Fall ein Erfolg. Es kann gar nicht anders sein: Gott bringt jetzt euch und die Dinge auf Trab.“

Weiter voran

44. Zweites Treffen

Es ist so weit: Martina und ich stehen wieder vor der Tür, hinter der es zum Treffen geht. Noch sind wir zu zweit. Doch wir hoffen auf Verstärkung. Aber ob die wirklich kommt?

Und dann stehen plötzlich tatsächlich zwei Frauen neben uns. Martina begrüßt beide freudig. Sie stellt mich ihnen vor mit den Worten: „Das ist Arno. Erinnert ihr euch? Wir haben ihn schon mal getroffen, als wir zu fünft waren.“ Jetzt zeigen sich Spuren von Erinnerung in den Gesichtern der Frauen. Wir alle waren damals erst kurz vorher ins Leben getreten.

Und danach stellt mir Martina die beiden als Anna und Sarah vor. Und sie führt die beiden auch noch in die heutigen Themen ein. Währenddessen grüßen hinter uns eine Frau und ein Mann und begeben sich ins Haus.

Drinnen finden wir dann acht Personen einschließlich Pfarrerin vor. Zwei davon sind Männer. Mit uns vieren sind wir insgesamt zwölf.

Nach Begrüßung und angemessenem Vorwort durch die Pfarrerin geht es zur Sache. Dieses Mal fängt Martina an.

Martina bittet alle, sich zu erheben und die Arme zum Himmel zu strecken. Das darf man so verstehen, wie man möchte: Etwa als Recken und Strecken zu körperlicher Entspannung. Oder auch als Hinwendung zum Himmel. Dann schlägt Martina vor, lächelnd mit den Armen jemandem zuzuwinken – und das darf auch gern Gott sein. Vielleicht spürt man ja dabei irgendwie, meint sie, dass Gott zurücklächelt.

Danach wird Platz genommen für ein bis zwei Minuten Stille. Anschließend erinnert Martina an das erste Treffen: Da war die entscheidende Frage, ob es Gottes Plan ist, dem ersten Treffen ein weiteres Treffen folgen zu lassen. In gemeinsamer Stille wurde dann deutlich: Ja, das ist tatsächlich Gottes Plan. Und deshalb gibt es nun das zweite Treffen. Martina stellt auch kurz Anna und Sarah vor. Sie sind ja noch unbekannte Gesichter für alle anwesenden Gemeindemitglieder.

Dann berichtet Martina: Wir beide – sie und ich – haben schon Gott gefragt, wie er sich dieses Treffen vorstellt. Und wir haben ihn so verstanden, dass es heute um zwei Themen gehen soll: Einmal um Hilfe zu persönlicher Entfaltung. Und dann um Prophetie für die Gemeinde. Martina erläutert auch gleich, was wir darunter verstehen.

Ihr Vorschlag ist nun: In einer ersten Runde versuchen alle, sich für eins der beiden Themen zu entscheiden. Und zwar im Hören auf Gott. Gelingt das, geht es gleich weiter. Kommt es dagegen zu keiner klaren Entscheidung, muss Gottes Plan für das gegenwärtige Treffen neu ergründet werden. Dieser Vorschlag wird ohne Gegenrede akzeptiert.

Martina leitet nun die Entspannung so an, wie wir sie von Jo haben. Danach beginnen zehn Minuten Stille. Und Martina gibt gelegentlich einen Impuls hinein wie: „Kommt dir nun vielleicht ein klarer oder leuchtender Gedanke?“, „Sagt dir vielleicht eine göttliche Stimme etwas?“, „Kreisen deine Gedanken schon um ein Thema?“

Nach fünf Minuten bittet Martina, wieder in die Realität zurückzukommen. Und danach lässt sie allen noch etwas Zeit, das Erlebte ausklingen zu lassen und auch zu überdenken.

Nun fragt sie ab, wie viele der Anwesenden das Treffen für ihre persönliche Entfaltung nutzen möchten. Es sind fünf. Für Prophetie im Dienste der Gemeinde haben sich zwei entschieden. Anna und Sarah sind jeweils für beide Themen offen. Und nur eine Frau ist mit der Stille überhaupt nicht klargekommen. Sie sitzt mit leicht mürrischem Gesicht da.

Martina übergibt mir nun das Weitere. Für mich ist klar: Fast alle der Gemeindemitglieder haben sich für eins der beiden angebotenen Themen entschieden, und damit sind diese Themen tatsächlich dran.

Nur die zahlenmäßig höchst ungleiche Verteilung stört mich. Aber eine Frau ist bereit, sich zur Prophetiegruppe umzuentscheiden. Anna und Sarah bitte ich, sich zu trennen und jeweils einzeln zu einer Gruppe zu gehen. Und die unentschiedene Frau will nun immerhin mal das Entfaltungsangebot testen. Damit hat die Entfaltungsgruppe nun mit Anna sechs Mitglieder und die Prophetiegruppe mit Sarah vier.

Der Entfaltungsgruppe biete ich inhaltlich als Thema an: Etwas Altes loswerden – und dafür dann etwas Neues geschenkt bekommen. Das soll dem persönlichen Aufblühen dienen.

Dieser Vorgang soll in einem Bad erlebt werden. Man kann da zum Beispiel zunächst schmutzige Kleider ablegen und loswerden. Oder man kann sich Dreck vom Körper schrubben. Und danach erhält man etwas Neues geschenkt. Oder man fühlt sich überhaupt ganz als neuer Mensch.

Diesen Vorgang kann man in bildlicher Vorstellung vollziehen, und Jesus hilft vielleicht dabei. Oder das Vorher und Nachher fühlt man rein körperlich. Oder man kann sich auch zum Thema eine kleine nette Badegeschichte ausdenken.

Dann ist die Prophetiegruppe dran. Für die brauche ich zunächst ein Vorhaben der Gemeinde. Ich frage also die Pfarrerin. Die überlegt nur kurz, dann sagt sie: „Wir wollen etwas für Einsame tun. Da könnten wir schon Starthilfe gebrauchen.“ Gut, das ist doch was! Und ich bitte nun die vier der Prophetiegruppe, sich an einem Endes des Tisches zusammenzusetzen.

Als Aufgabe gebe ich ihnen: Nach dem Startschuss sollen sie sich einen einsamen Menschen vorstellen. Vielleicht sehen sie dann innerlich, wie er von jemandem Hilfe erhält. Oder vielleicht sagen sie sich „Oh, armer einsamer Mensch!“ und lassen sich dazu spontan weitere Worte kommen. Vielleicht zeigt ihnen auch Jesus, was für diesen Menschen zu tun ist.

Dann gebe ich den Startschuss für alle: Und sie gehen nun in zehn Minuten Stille. In diese Stille hinein gebe ich Impulse wie: „Du siehst, hörst oder fühlst etwas!“, „Jesus taucht auf!“, „Dir kommt etwas Neues!“, „Es geht voran!“, „Alles rundet sich jetzt zu einem guten Ende!“

Und was erlebten dann die Gruppenmitglieder? Zunächst ist die Entfaltungsgruppe dran. Da erzählt eine Frau eine kleine Geschichte, die ihr gekommen ist: In schmutziger Arbeitskleidung geht sie zu einem Swimmingpool. Jesus fragt sie dort, ob sie wirklich so schwimmen will. Ja, unbedingt! Und sie steigt hinein. Erst saugt sich die Kleidung voll Wasser und lässt sie fast untergehen. Dann fühlt sie sich aber immer leichter und trockener. Und auf der anderen Seite steigt sie schließlich knochentrocken und in Festkleidung wieder aus dem Swimmingpool heraus.

Eine weitere Frau sieht innerlich überall Schorf an sich. Damit steigt sie in honiggelbes Wasser. Von oben kommt auch noch wunderbar warmes Licht. Das tut ihr unendlich gut. Nun löst sich der Schorf überall und fällt ab. Und sie steigt beglückt mit reiner Haut aus dem Wasser.

Die Pfarrerin fühlt sich ölverschmiert und gestresst. Sie steigt in ein Wasser mit Lavendelduft und lässt sich davon tragen. Intuitiv weiß sie: Jesus ist dabei. Früher hat er Wasser in Wein verwandelt, ihr aber schenkt er nun eine kleine Wellness-Oase. Die Pfarrerin fühlt sich darin locker und leicht, und sie steigt erholt und beschwingt aus dem Wasser.

Die eine Frau in der Gruppe, die das Angebot immerhin mal testen wollte, hat oft Rückenschmerzen. Und am Anfang der Stille hatte sie das auch. Da stieg sie dann in inneren Bildern in ein dampfendes Thermalbad. Dort steht plötzlich Jesus am Rand und fragt, ob er etwas gegen die Schmerzen tun darf. Die Frau sagt erstaunt Ja! Und Jesus schüttet den Inhalt eines Medizinfläschchens ins Wasser. Die Frau bleibt bis zum Ende im Bad. Und nun nach der Stille sagt sie: Die Schmerzen seien immer noch fort.

Die fünfte Frau in der Gruppe ist Anna. Sie berichtet: Im Wasser sei ihr so leicht geworden, dass es sie einfach hinaushob und nach weit oben auf eine lichte Wolke trug.

Der eine Mann in der Gruppe hat sich allerdings nicht ins Wasser getraut. Er stand nur im Bademantel da, und das Wasser dampfte vor ihm und schien ihm viel zu heiß zu sein. Das belastet mich nun. Ich kann ihn nur trösten: Er soll nicht aufgeben, und vielleicht gelingt ihm dann beim nächsten Treffen umso Besseres.

Das Erlebte fasse ich nun für alle so zusammen: Fünf aus der Gruppe haben eine spürbare Veränderung erlebt. Diese Veränderung war vielleicht einfach ein wunderbarer Genuss. Doch es kann auch mehr passiert sein: Vielleicht ist Tieferliegendes in verschlüsselter Form hochgekommen. Und mit göttlichem Segen kann dann eine längerfristige Veränderung begonnen haben. Das wird sich in den kommenden Tagen oder Wochen zeigen.

Nun ist die Prophetiegruppe dran. Da hat eine Frau innerlich einen einsamen Mann gesehen. Ein Mensch schenkte ihm ein Schokoladenherz – und das Herz war nicht klein.

Ich ermuntere die Gruppe, das gleich zu interpretieren. Da wird das Herz zur Anregung, Einsame nicht nur mit guten freundlichen Worten zu bedenken: Stattdessen sollte vielleicht auch eine handfeste materielle Aufmerksamkeit die Worte begleiten.

Eine andere Frau hat es mit dem Satz „Oh, armer einsamer Mensch!“ versucht. Dazu kamen ihr erst nur völlig unsinnige Worte. Doch dann tauchten „Herz“ und „Liebe“ bei ihr auf. Aus der Gruppe kommt die Anregung dazu: Das könne man vielleicht als Aufruf sehen, überhaupt erst einmal das Herz für Einsame zu öffnen.

Der Mann in der Gruppe sah in einer Zeitung eine Annonce. Sie hatte die Überschrift „Gesucht“. Das kann nun ein Impuls sein, ehrenamtliche Besucher bis über die Grenzen der Gemeinde hinaus zu suchen. So schließlich eine Interpretation der Gruppe.

Und Sarah hat innerlich die Worte gehört: „Sie zittern.“ Sie hat selbst darüber nachgedacht, warum Einsame vielleicht zittern. Als Grund dafür kamen ihr dann Angst und emotionale Kälte, die solche Menschen umgeben. Es ist offenbar ein Aufruf, ihnen Mut zuzusprechen und ihnen Wärme zu schenken.

Die Pfarrerin hatte sich bewusst nicht der Prophetiegruppe zugeteilt: Dafür fühlte sie sich zu befangen. Jetzt aber ist sie dankbar für das, was diese Gruppe an Anregungen zu Tage gefördert hat. Sie nimmt es als göttlichen Impuls für die Gemeinde, sich nun ernsthaft auf Einsame einzulassen.

Damit sind wir am Ende unserer Arbeit. Ich gebe allen mit auf den Weg: Aus meiner Sicht war in beiden Gruppen Gott am Werk. Manchmal klar erkennbar, zumindest aber dezent im Hintergrund.

Die Pfarrerin ist nun sehr angetan von all dem, was im Laufe des Treffens zu Tage getreten ist. Sie ist jetzt sehr dafür, die Treffen fortzuführen. Dafür schlage ich vor, die Entfaltungs- und die Prophetiegruppe voneinander zu trennen und auf verschiedene Termine zu legen. Das könnte das Geschehen in jeder Gruppe intensiver und kraftvoller machen.

Dem folgt die Pfarrerin gern, obwohl sie das in terminliche Schwierigkeiten bringt. Und auch aus beiden Gruppen kommt Zustimmung. So können nun gleich zwei weitere Termine festgezurrt werden. Zum Abschluss gibt es noch ein großes Abschiednehmen – für uns auch von Anna und Sarah.

45. Vergebung und Beglaubigung

Und wie geht es inzwischen dem Unternehmer? Martina wurde mal wieder zu ihm versetzt. Dieses Mal trifft sie ihn auf seiner Jacht an. Da sitzt der Unternehmer in einem kleinen Salon, die Beine hochgelegt, und blickt aufs Wasser. Er ist höchst überrascht, als sie nun da erscheint. Martina sagt nur lächelnd: „Gott findet jeden.“

Der Mann ist aus dem Krankenhaus entlassen, muss sich aber noch schonen. Und es kommt heraus: Ihm geht durchaus nach, worüber sie beim letzten Mal miteinander gesprochen haben.

Zugleich treibt ihn im Moment eine Entscheidung um, die er zu treffen hat: Der Kaufvertrag für ein anderes Unternehmen ist unterschriftsreif. Und seine Frau drängt ihn zu sofortiger Unterschrift. Denn alles sieht nach einem glänzenden Geschäft aus.

Doch im Krankenhaus ist ein ungutes Gefühl in ihm aufgekommen. Nun sitzt er da mit den Unterlagen. Und er zeigt auf einen Stapel Papier, der auf dem Tisch liegt. Gegen das Geschäft hat er keine rationalen Gründe. Aber ein mulmiges Gefühl wird er nicht los.

Martina riskiert nun zu sagen: „Vielleicht will Gott den Vertrag nicht.“ Und der Mann: „Deshalb haut er mich um?“ Diese Worte klingen erst einmal nach Abwehr, aber etwas Nachdenklichkeit schwingt schon mit. Und Martina schlägt ihm nun vor, erst einmal mit Gott ins Reine zu kommen. Danach könne sich Weiteres ergeben. Und das ist dann vielleicht sogar überraschend.

Der Mann schaut lange aufs Wasser. Schließlich sagt er: Martina sei ihm nun schon wieder auf wundersame Weise erschienen. Da muss er davon ausgehen, dass ihre Worte wirklich Gewicht haben. Und er fragt: „Wie soll denn das mit Gott gehen?“

Martina erklärt ihm: Zunächst sei dran, Gott um Vergebung bitten. Einmal für die geringe Rücksichtnahme auf seine Mitarbeiter. Dann dafür, dass bei ihm das Geld bisher an erster Stelle stand. Und schließlich auch gleich noch für alle Situationen, in denen er andere Menschen verletzt hat.

Der Mann zuckt etwas zusammen und fragt: „Gilt das auch für meine Frau?“ Die beiden haben es anscheinend nicht leicht miteinander. Und Martina versichert ihm, durch Vergebung könnten auch sich bereits überschlagende Eheprobleme noch eine Wende zum Guten nehmen.

Da sagt der Mann – und Martina bleiben diese Worte besonders im Gedächtnis: „Als Unternehmer bin ich das Eingehen von Risiken gewohnt. Mal um Vergebung bitten, das ist minimaler Aufwand im Verhältnis zum möglichen Ertrag.“ Und er kündigt Martina an, dass er die Sache mit der Vergebung noch im Laufe des Tages in Angriff nehmen wird.

Martina bekommt nun ein höchst ungutes Gefühl. Sie spürt deutlich: Das muss unverzüglich und noch in ihrem Beisein passieren! Und sie widerspricht dem Mann: Nein, das muss gleich geschehen! Und sie begründet es damit, dass wichtige Unterschriften ja immer vor einem Notar geleistet werden müssten. Und sie sei nun bei ihm sozusagen die Notarin Gottes.

Der Mann schaut sie erst durchdringend an. Dann lacht er laut auf: „Notarin Gottes? So schnell habe ich nie einen Notartermin gekriegt! Ok, bringen wir es hinter uns!“

Martina sagt ihm dann vor, was Gott jetzt von dem Mann hören möchte. Und dann ist der kleine große Akt schnell vollbracht. Martina gratuliert und bestätigt, dass Gott dem Mann alles vergeben hat. Sie spürt es innerlich deutlich.

Danach fragt der Mann: „Und nun, Frau Notarin?“ Der Mann seinerseits scheint erst einmal nichts zu spüren. Da ist Martina danach, den Kaufvertrag auf dem Tisch anzusprechen. Und sie fragt: „Haben Sie nun vielleicht ein anderes Gefühl zum Kaufvertrag?“ Doch auch das hat der Mann nicht.

Martina ist ratlos. Der Mann braucht doch möglichst schnell eine handfeste Bestätigung von Gott! Eine Art offizielle Beglaubigung. Er sollte unbedingt wissen, dass für ihn vor Gott so etwas wie eine neue Zeit angebrochen ist.

Plötzlich stehen Anna und Sarah im Raum. Der Mann ist verblüfft. Und Martina ist es ebenso. Aber sie fasst sich schnell und stellt die beiden Frauen dem Mann als Gleichgesinnte und Gleichgesandte vor. Dann bittet sie, dass die beiden sich setzen dürfen. Sie hat eine Idee, wozu Anna und Sarah gekommen sein könnten.

Sie erklärt dem Mann: Gott will ihm nun vielleicht einen Tipp zum Kaufvertrag geben. Dazu seien die beiden vermutlich da. Dann erklärt sie Anna und Sarah, worum es geht. Und den Mann informiert sie, dass sie jetzt gemeinsam zu dritt etwas von Gott in Erfahrung bringen wollen. Und zwar zum Vertrag. Und dafür gehen sie nun in die Stille.

Nach angemessener Zeit fragt Martina die beiden anderen, ob sie etwas zum Kaufvertrag erhalten hätten. Und es zeigt sich: Anna sah innerlich die Schrift des Kaufvertrages glühend und gefährlich rot. Sarah hörte ihrerseits zum Vertrag: „Unreif! Unreif!“ Und Martina sah, wie ein Windstoß kam und den Vertrag durch das geschlossene Fenster weit über das Wasser hinauswirbelte. Da versank er spurlos.

Der Mann ist beeindruckt. Aber er wendet ein: Martina und die beiden anderen Frauen kannten doch sein Problem mit dem Vertrag. Und nun wurde dieses Problem vielleicht nur von ihrem Unterbewusstsein eindrucksvoll bebildert. Nach kurzem Überlegen beschließt er aber trotzdem, den Vertrag für eine Woche auf Eis zu legen. Und als sei nun damit alles gut, verschwinden Anna und Sarah gleich wieder.

Martina kommen jetzt die Worte von Jo in Sinn. Der meinte ja, der Mann solle sein ganzes Dasein unter den Willen Gottes stellen. Sie gibt dem Mann dieses Ansinnen so weiter: Vergebung ist nur ein erster Schritt. Wenn man aber das ganze eigene Leben unter Gottes Willen stellt, dann ist das eine entscheidende Wende. Sie sagt: „Und dann liegt das Lebensschiff voll auf Kurs und hart am Wind!“ Doch ausdrücklich fügt sie hinzu: Für den Kurswechsel braucht der Mann sie selbst nicht. Den kann er auch allein mit Gott unterm Sternenhimmel vollziehen.

Martina ist sich sicher: Zunächst muss der Mann davon überzeugt sein, dass sich solch eine Wende tatsächlich auszahlt. Vorher lässt er sich nicht darauf ein. Aber der Mann könnte beschleunigt zu dieser Überzeugung gelangen, wenn sich der Vertrag als grandioser Flop und das Aufschieben der Unterschrift als beträchtlicher Gewinn erweist.

Schließlich steht noch die Frage im Raum: Wie kann der Mann von sich aus Martina erreichen? Er fand es beim letzten Mal sonderbar, wie sie sang- und klanglos verschwand. Er möchte schon eine Möglichkeit haben, an sie heranzukommen.

Martina verweist ihn nun an Jo. Sie weiß inzwischen, wie der zu erreichen ist. Und dieses Mal verabschiedet sich Martina ausdrücklich von dem Mann, indem sie ihm gute Besserung in jeder Hinsicht wünscht.

Hinterher möchte ich von Martina Näheres zu dieser Begegnung erfahren. Aber sie vertröstet mich. Sie brauche erst einmal eine drastische Luftveränderung.

46. Nächstenliebe am Berg

Und dann finden wir uns auf einem Wanderweg in den Bergen wieder. Mit Schirmmütze, wetterfester Bekleidung und Bergstiefeln.

Der Himmel ist leicht bedeckt. Und die Augen haben viel und weit zu gucken: Zur einen Seite blicken wir tief hinein in ein flaches Land. Und da liegt auch ein kleiner See unter uns und schaut wie ein blaugraues Auge zu uns herauf. Und zur anderen Seite hin sind – hinter einer Berglehne – wilde Felszacken zu erkennen. Sie recken sich aus noch leicht schneebedeckten Hängen stramm empor.

Die Natur ist hier ziemlich karg. Oft besteht sie nur aus niedrigem Gebüsch. Und ganz selten stechen ein paar kleine Blüteninseln hervor.

Wir bleiben immer wieder mal stehen. Martina erzählt mir nun ausführlicher von ihrer Begegnung mit dem Unternehmer. Sie ist von dem Mann ganz angetan. Er wirkt flexibel, schnell entschlossen und dynamisch. Wenn nötig kann er aber auch rational genug sein, um Unausgegorenes auf Eis zu legen und abzuwarten. Sie hat das Gefühl, dass dem Mann eine größere Karriere bei Gott bevorstehen könnte.

Ich möchte wissen, in welcher Sparte der Mann unternehmerisch unterwegs ist. Martina meint, dass er mal kurz mit Fachbegriffen um sich warf, und die seien wohl dem Elektronikbereich zuzuordnen. Aber Weiteres blieb ihr schleierhaft.

Unsere Wanderung bringt uns dann langsam höher. Und die Felszacken zeigen immer deutlicher ihre wahre Größe. Um uns herum sind auch noch Mitwanderer unterwegs. Eine Seilbahnstation liegt nicht allzu weit entfernt. Und nach Ankunft einer Gondel ergießt sich von da aus immer wieder ein neuer Schub Menschen in die Natur.

Plötzlich taucht Jesus neben uns auf und geht mit uns mit. Er erkundigt sich nach unserem Befinden. Wir lassen uns nun beglückt über das Panorama um uns herum aus. Ebenso begeistert uns die besondere Ausstaffierung der Landschaft mit fremdartigen Blumen und Büschen. Und als Jesus nach den vergangenen Tagen fragt, sind wir uns einig: Auch da gibt es absolut nichts zu beklagen. Wir haben nur Anlass zur Freude. Die bisherigen Treffen sind ein wunderbarer Anfang. Und wir sehen erwartungsfroh den nächsten Tagen und Wochen entgegen.

Da fragt Jesus: „Darf denn auch mal ein Problem dabei sein?“ Wir beide denken: Ja, warum nicht? Darauf Jesus: „Auch schon sofort?“ Da stutzen wir doch. Hier oben bewegen wir uns gerade so schön auf irdischen Höhen. Und seelisch befinden wir uns auf ähnlichem Höhenflug. Droht uns nun etwa ein Stück Abstieg? Na gut, wenn es denn sein muss. Jesus können und dürfen wir nichts abschlagen. Also sind wir bereit.

Jesus führt uns nun mitten in die Büsche. Und auch noch direkt auf einen Abgrund zu. Mir wird mulmig. Will er unser Vertrauen prüfen? Aber dicht vor der Abbruchkante kommt ein Bündel Mensch in Sicht: Es kauert auf dem Boden. Da haben wir unser Problem! Da hockt es. Und Jesus verschwindet. Mich erfasst ein Schub von Erbarmen.

Wir schauen uns an. Martina gibt sich einen Ruck, geht hin und kauert sich neben das Bündel. Es ist ein junger Mensch mit kurzem Haar. Und es ist nicht klar, ist dieser Mensch nun Junge oder Mädchen.

Martina hockt eine Weile still daneben. Schließlich stellt sie leise eine Frage – ich kann sie nicht verstehen. Nach einiger Zeit bekommt sie leise Antwort. Und dann stürzen diesem undefinierbaren jungen Menschen die Tränen aus den Augen. Und Martina legt ihren Arm um ihn.

Ich ziehe mich zurück und finde einen guten Platz für mich. Zwischen den beiden geht es weiter leise hin und her. Lange Zeit. Dann steht Martina auf, kommt zu mir und sagt: „Du wirst gebraucht. Das ist ein Junge, gefangen in einem Mädchenkörper. Komm, setz dich bei ihm auf die andere Seite. Noch sieht er die Lösung im Absprung.“ Und sie deutet zum Abgrund.

Wir nehmen den Jungen in die Mitte. Und da kommt heraus: Er nennt sich Chris und lebt bei seiner Mutter. Die hat ihn schon immer als Mädchen gekleidet. Und sie will nicht akzeptieren, dass sich ihr Kind als Junge fühlt. Sie selbst hat sich als Politikerin hart in der Männerwelt durchgesetzt. Und sie wünscht sich, dass Chris in ihre Fußstapfen tritt. Aber dass er nun stattdessen gleich ganz in die Männerwelt hinüberwechseln will, das ist für sie offenbar so etwas wie Fahnenflucht.

Da sitzen wir nun mit diesem jungen unglücklichen Menschen. Aber was können wir für ihn tun?

Martina schlägt vor, Jo mit einzubeziehen. Eine gute Idee! Wir fragen unseren Schützling, ob er ein Handy bei sich hat und uns auch Fahrgeld leihen kann. Dann rufen wir Jo an, schildern ihm die Situation und fragen ihn, ob wir unseren Findling mitbringen können. Jo ist einverstanden. Und Chris schließlich auch.

Wir machen uns zu dritt auf den Weg. Erst Seilbahn. Dann Bus. Dann Bahn. Und schließlich noch Taxi. Das bezahlt Jo, und die für uns ausgelegten Fahrtkosten erstattet er auch gleich unserem unglücklichen jungen Menschen. Immerhin: Dessen Gesicht hat sich unterwegs ein wenig aufgehellt.

Dann sitzen wir zu viert bei Jo. Wir berichten erst einmal. Und Jo meint, er muss auf jeden Fall die Mutter informieren. Er ruft sie an. Und die Mutter fällt aus allen Wolken. Sie wird erst einmal ausfällig. Jo bleibt ganz ruhig und fragt sie: „Wäre Ihnen denn lieber, wenn Sie, statt mich jetzt am Telefon zu haben, zwei Polizisten vor der Tür stehen hätten? Und die informieren Sie über den Tod ihres Kindes?“

Die Mutter möchte nun, dass Jo ihr Kind nach Hause schickt. Sie will nicht begreifen, wie kritisch die Situation ist. Aber Jo besteht darauf, dass die Mutter Chris persönlich abholt. Das allerdings wird dauern, denn die Mutter hat noch Termine.

Jo sagt nun zu Martina und mir: „Das Beste, was wir jetzt tun können, ist beten.“ Und wir tun es laut. Wir bitten, dass die Mutter weich wird und die Not ihres Kindes wahrnimmt und akzeptiert. Und wir bitten ebenso darum, dass Chris den ihm von Gott zugedachten Weg findet. Chris sitzt dabei, ist berührt und staunt.

Dann sagt Jo zu Chris: „Martina und Arno haben dich gefunden, weil Jesus sie zu dir geführt hat. Sie können ihn manchmal sehen. Wenn du magst, kannst du ihn wahrscheinlich auch sehen.“ Und er erklärt Chris, wie der Weg dahin ist. Chris ist neugierig und lässt sich darauf ein.

Jo fängt mit Entspannung an und bittet dann Chris, sich eine Wiese vorzustellen. Und Chris sieht eine Wiese, die von hohen Baumstämmen eng umstanden ist. Er fühlt sich da wie in einem Gatter. Nun soll Chris sich umschauen, ob eine Gestalt zu ihm kommt, die Jesus ist. Erst ist alles nur leblos ringsum, dann regt sich aber etwas zwischen den Stämmen. Und schließlich tritt eine Gestalt aus dem Wald. Sie trägt ein langes weißes Gewand und kommt zu Chris.

Jo fragt Chris: „Ist die Gestalt angenehm? Ist sie vertrauenswürdig? Hat sie Wärme?“ Chris meint: „Ich denke schon.“ Und Jo schlägt Chris vor, diese Gestalt – also tatsächlich Jesus – zu fragen, wie es mit ihm weitergeht. Und Jesus sagt ihm: „Geh mit deiner Mutter mit. Sie wird anders sein. Und ich begleite dich dahin, wo es dir gut gehen wird.“

Nach dem Ausstieg aus den inneren Bildern fragt Chris: „Bedeuten die Worte nun: Ich darf ein Junge werden?“ Jo ist vorsichtig: „Du wirst bekommen, was gut für dich ist.“

Es dauert dann lange, bis die Mutter eintrifft. Zum Glück kommt sie nicht voller Vorwürfe. Vielmehr scheint sie ein Stück in sich gegangen zu sein. Und bald möchte sie auch wissen, wie wir denn überhaupt an Chris gekommen sind.

Wir erzählen, wo wir Chris fanden. Er saß da nur fünf Meter von der Kante der Steilwand entfernt, die hunderte von Metern abfällt. Die Mutter wird nun ziemlich einsilbig. Jetzt geht ihr die Geschichte doch noch unter die Haut.

Jo sagt ihr: Es gibt Beratungsstellen. Da ist Chris gut aufgehoben. Vorausgesetzt, sie selbst ist bereit, jedes Beratungsergebnis zu akzeptieren. Und zu Chris gewandt sagt Jo: „Dir geht es besser, wenn du mit erfahrenen Leute redest. Es gibt viel zu bedenken. Eine Geschlechtsumwandlung ist ein gewaltiger Schritt. Und denk dran, Jesus ist immer mit dir.“

Dann verlassen uns Mutter und Kind. „Wie wird es mit ihnen weitergehen?“ frage ich. Jo lächelt und sagt: „Gut!“

47. Gottesdienst vor Panorama

Um mich herum ein Wald mit starken, eindrucksvollen, schnurgerade zum Himmel aufsteigenden Stämmen. Eine Waldkathedrale mit dunkelgrünem Dach. Ein Vogel versucht sich darin mit ein paar zarten Tönen. Und nimmt man sie in sich auf, kann das hier andächtiger machen als etwa rauschende Orgeltöne.

Ich schaue mich um: Warum bin ich eigentlich hier? Nichts zieht meine Aufmerksamkeit auf sich. Also bleibt mir nur, dem Weg ein Stück weiter zu folgen, auf dem ich ausgesetzt bin. Immerhin scheint es vorn lichter zu werden.

Und dann ein unerwartet weiter Ausblick: Ich schaue auf ein hügeliges Panorama mit Weiden und Wäldern. Doch vor allem zieht ein Wagen meinen Blick auf sich, der davor auf einer Sandfläche abgestellt ist. Ist das mein Ziel?

Der Wagen parkt so, dass von da aus der Blick frei über die Landschaft gleiten kann. Und aus dem Wagen dringen dezent Orgeltöne und Gesang an mein Ohr. Das klingt nach Kirchenlied! Jetzt erkenne ich auch im Wagen einen Mann: Er lauscht hier offenbar einem Gottesdienst.

In mir höre ich: „Geh hin, steig ein!“ Gut, warum nicht? Ich klopfe also ans Fenster. Der Mann lässt die Scheibe herunter, und ich frage: „Darf ich mithören?“ Großes Erstaunen im Auto. Aber der Mann räumt sofort den Beifahrersitz frei und bietet ihn mir mit einladender Geste an. Und ich steige ein. Gerade jetzt fängt die Predigt an. Wir beide lauschen nun erst einmal still. Es sind auch ein paar richtig kluge Sätze dabei.

Nach der Predigt stellt der Mann das Radio leise. Dann sagt er: „Ich hatte heute den starken Impuls, mal wieder an diesen Platz fahren. Jetzt ahne ich warum.“ Und wir versuchen nun herauszufinden, was hier zwei Menschen zueinander geführt haben könnte.

Der Mann lebt seinen Glauben in großer Freiheit. So sieht er sich selbst. Bisher konnte ihm keine Gemeinde seine tiefere Sehnsucht erfüllen. Da fehlte immer noch etliches. Und er meint: „Wir sind viele!“ Denn er kennt noch mehr Menschen, die derart ungebunden unterwegs sind mit hungriger Seele.

Aber heute Morgen war ihm Gott nahe, als er den Wink für den Platz hier erhielt. Da ist er sich jetzt sicher. Und ich erfahre: Er hat Wochen hinter sich, in denen Gott zu schweigen schien. Nur winzige göttliche Krümel fielen gelegentlich für ihn ab. Und da hat nun unser Zusammentreffen für ihn eine umso größere Wucht.

Ich selbst kenne das nicht: Mit Sehnsucht auf Gott zu warten. Und das auch noch lange. Da fehlt mir etwas. Deshalb berührt mich jetzt besonders, was Gott manchen Menschen zumutet. Und dann stehen sie auch noch solche Zeiten klaglos und vielleicht zutiefst hingegeben durch. Könnte ich das?

Umso mehr bin ich jetzt gefragt. Ich habe diesem Mann irgendwie weiterzuhelfen – soweit ich vermag. Dafür fallen mir nur die beiden Gruppen ein, die auf den Weg gebracht sind. Findet er vielleicht da etwas von dem, was er sucht?

Ich beschreibe also dem Mann, was wir ihm bieten können. Und da meint er: Noch deutlicher könnte ihm Gott gar nicht auf die Füße treten, als er es gerade tut. Und ja, er will dabei sein! Ich gebe ihm Zeit und Ort. Und er kann sich für die eine oder die andere Gruppe entscheiden. Oder sogar für beide. Er möchte sich nur bitte bei der Pfarrerin vorher anmelden.

Zum Schluss entscheiden wir uns für das „Du“: Er heißt Tobias. Und ich bin ziemlich sicher, ich werde ihn bald wiedersehen.

48. Prophetiegruppe eins

Heute beginnt die neue Prophetiegruppe. Das haben wir im Kopf, als wir bei Jo eintreffen.

Doch Jo überrascht uns mit einer aufregenden Nachricht. Der Unternehmer hat angerufen, zu dem Martina Kontakt hat. Und er lässt ihr mitteilen: Die Firma, die er kaufen wollte, steht plötzlich vor gewaltigen Schadenersatzforderungen. Und die scheinen auch berechtigt zu sein. Damit wäre ein Kauf ein überdimensionales Verlustgeschäft. Der Unternehmer ist gerade noch glimpflich davongekommen, weil er den Kaufvertrag nicht unterzeichnet hat.

Im Übrigen hat er noch die Bitte: Martina möge sich doch bald wieder bei ihm sehen lassen.

Eine wunderbare Botschaft! Der Unternehmer scheint Martina außerordentlich dankbar zu sein für ihren Beitrag zu seiner Entscheidung. Aber vor allem: Vielleicht ist er jetzt auch überzeugt, dass es sich lohnt, Gott an Bord zu holen. Und auf dieser Ebene möchte er nun vielleicht weiterkommen.

Martina fühlt sich jetzt beflügelt und meint: „Mit solch einer Botschaft im Rücken haben wir jetzt richtig Aufwind für die Gruppe!“

Bald darauf stehen wir wieder vor dem Haus, in dem sich schon schon einiges anschieben ließ. Sarah trifft mit uns ein. Und auch Tobias kommt – mit ihm habe ich noch gar nicht gerechnet. Doch nun stößt er schon zu uns.

Drinnen treffen wir auf die Pfarrerin und die drei Gemeindemitglieder, die bereits beim letzten Mal dabei waren. Damit sind wir insgesamt zu acht. Das ist eine vielversprechende Größe.

Als Erstes ist wieder eine Lockerungsübung dran. Ich schlage dieses Mal vor, zunächst eine Runde zu klatschen. Und zu schauen, welch gemeinsamer Rhythmus sich dabei einstellt.

Danach erkläre ich das weitere Vorgehen. Eine erste Stille soll die Gruppe arbeitsfähig machen. Dafür ist es gut, zunächst den Zustand der Gruppe zu erspüren, dann für ihre Arbeitsfähigkeit zu beten und so die Gemeinschaft zu stärken. Zugleich ist dabei aber auch zu klären: Halten wir am bisherigen Ziel der Gruppe fest – also an der Hilfe für Einsame? Und ist das weiterhin Gottes Plan?

Nach der Entspannungsübung tritt Stille ein. Als Leitfragen gebe ich ab und an kurz in das Schweigen hinein: „Wie ist das Gemeinschaftsgefühl?“, „Wie steht es mit einem Gebet für die Gemeinschaft und für die Arbeitsfähigkeit?“, „Ist das Thema weiterhin Hilfe für Einsame?“

Als dann die Zeit um ist, kommen die Rückmeldungen: Am Anfang empfanden einige sich selbst als unklar oder die Gruppe als ziemlich verschwommen. Eine Frau erlebte sogar Teile der Gruppe als merkwürdig dunkel. Und zwei konnten vorherige Tagesereignisse nicht gleich hinter sich lassen.

Dann aber änderte sich offenbar einiges durch die Gebete. Gegen Ende der Stille kam hier und da Zuversicht auf oder auch freudige Erwartung. In einem inneren Bild, das dabei erlebt wurde, fiel göttliches Licht auf die Gruppe. Und in einem weiteren Bild war die Gruppe wie ein Pfeil auf ein lichtes Ziel ausgerichtet. In einem Fall kam auch Jesus und segnete alle. Und eine Frau hörte: „Ich habe meine Freude an euch!“

Zugleich wurde nie das Ziel der Hilfe für Einsame in Frage gestellt. Diese Hilfe ist also offenbar wirklich Gottes Plan für die Gruppe. Und die Frage ist nun: Wie kann die Hilfe aussehen?

Jetzt übernimmt Martina den zweiten und zentralen Teil. Sie fasst zunächst das Ergebnis der vorherigen Sitzung so zusammen: Einsame leiden oft unter Angst und emotionaler Kälte. Deshalb müssen sich Herzen für sie öffnen. Solch offene Herzen können auch über die Grenzen der Gemeinde hinaus gesucht werden. Und wenn es dann ernst wird, geht es nicht nur um gute Worte für Einsame, sondern auch um handfeste Gaben für sie.

„Auf diese Ergebnisse können wir aufbauen“, sagt Martina schließlich. „Und jetzt sollte Weiteres erkennbar werden. Also: Wie sieht die Hilfe praktisch aus, die zu den Einsamen kommen kann oder soll?“

Dafür ist nun eine zweite Stille nötig. Zuvor erklärt Martina: „Ich werde wieder in die Stille hinein Impulse geben. Bei denen sage ich, was Gott tut. Manche von euch haben aber vielleicht einen besonderen Draht zu Jesus. Und sie erleben Jesus intensiver. Die dürfen gern bei meinen Impulsen an die Stelle von Gott immer Jesus setzen.“

Dann ist es so weit: Insgesamt sieben Leute gehen in die Stille. Die Pfarrerin und ich sind dabei. Und Martina unterstützt den inneren Suchprozess mit: „Gott schenkt dir eine Eingebung“, „Gott lässt dich etwas sehen oder hören oder fühlen“, „Gott gibt dir einen guten Gedanken“, „Gott zeigt dir etwas Besonderes“, „Gott führt das, was in dir schon begonnen hat, noch zu einem guten Ende.“

Nach zehn Minuten bittet Martina wieder alle in die Realität zurück. Und dann wird es spannend: Was hat sich in den zehn Minuten bei den Einzelnen ereignet?

Eine Frau fängt an: Sie hat innerlich eine Hand gesehen, die auf etwas herumtippte.

Bei einer anderen Frau war das Deutlichste eine Stimme, die fragte: „Hörst du mich?“

Ein Mann sah einen Zeitungsartikel vor sich, in dem über eine ganz neue Art von Seniorenarbeit berichtet wurde.

Die Pfarrerin erblickte innerlich einen Mann, der eine zentrale Rolle zu spielen schien. Er gab Anweisungen und hatte irgendetwas mit Organisation zu tun.

Sarah wurde von Jesus zu einer alten Frau im Bett geführt. Sie hatte eine Art Tabletcomputer in der Hand, auf den sie angeregt schaute.

Tobias allerdings war ganz woanders: Er sah eine Kirche von innen, in der eine Art Gottesdienst stattfand. Da wogte einiges hin und her in Form von Musik und Sprache. Es hatte etwas Berauschendes für ihn.

Und ich? Ich sah in göttlichem Licht eine Reihe von alten Menschen heiter über Pulte gebeugt.

Martina ist nun etwas ratlos. Das Klarste und Verständlichste an dem Erlebten ist ein Tabletcomputer. Dazu passt die Hand, die auf etwas herumtippt. Und die heiter über Pulte gebeugten alten Menschen betrachten vielleicht etwas Witziges auf einem Gerät. Aber das andere?

Was sagt die Gruppe dazu? Jemand meint: Wenn ein Tablet mit größerer Schrift versehen und einfach zu bedienen ist, dann kann das älteren Leuten ihr Dasein erleichtern. Und eine Frau ergänzt: Mit Gichtfingern lässt ein Tablet leichter handhaben als ein vergleichsweise eher mickriges Smartphone.

Und sonst? Die restlichen Erfahrungen sind vorerst ein unübersichtliches Puzzle. Und die Gruppe ergeht sich bald in Spekulationen über mögliche Hilfen, die eigentlich nichts mehr mit dem Erlebten zu tun haben.

Schließlich spricht die Pfarrerin das Gottesdiensterlebnis von Tobias an. Es lag zwar weitab vom Thema der Gruppe. Aber die Pfarrerin horchte bei ihm auf. Denn sie sucht schon länger nach einer neuen Gottesdienstform. Nun macht sie den Vorschlag: Die Gottesdienstgestaltung könnte doch auch mal ein Thema der Prophetiegruppe werden. Ja, das ist eine passable Anregung!

Am Ende entlässt Martina alle mit der Bitte, die nicht verstandenen Erfahrungen in sich nachwirken zu lassen. Vielleicht kommt so noch mehr Licht in das Dunkel.

49. Gerät für Einsame

Wir sind nun wieder bei Jo. Uns ist sehr danach, mit ihm die Ergebnisse der Prophetiegruppe zu deuten und noch Unverstandenes zu entschlüsseln.

Jo nimmt sich gleich das erste Ergebnis vor: Den Tabletcomputer. Ihm fällt dazu ein: „Die meisten Einsamen sind ältere Menschen. Solch ein Gerät lässt sich wegen seiner Größe leichter wiederfinden als ein Smartphone.“ Noch ein gutes Argument für ein Tablet!

Dann ist das etwas mysteriöse „Hörst du mich?“ dran, das eine Frau in der Gruppe vernommen hat. Martina findet erst einmal zwei Möglichkeiten: Entweder ein Mensch fragt das. Weil er gehört werden möchte. Oder Gott fragt das.

Nach etwas Nachdenken folgt für Jo daraus: „Wenn ein Tablet wie ein Smartphone benutzt wird, kann man damit anderen Menschen zuhören. Das ist klar. Aber jetzt kommt es: Man kann ebenso damit auf Gott hören.“

Was ist denn das für eine Idee von Jo? Die erscheint mir doch als ziemlich absurd. Da frage ich höchst erstaunt nach: „Wie soll denn ein Mensch mit einem Tablet Gott hören? Könnte ich da etwa hören: Hallo Arno, hier spricht Gott?“

Jo lächelt, als wenn er mehr weiß. Und er erklärt: „Man kann auch geschriebene Nachrichten aufs Handy bekommen. Auf diese Weise kann Gott tatsächlich eine Stimme erhalten.“ Ich schaue Jo nur noch fragend an. Aber er unverdrossen weiter: „Manche Menschen bitten Gott bei einem Problem, durch die Bibel zu ihnen zu sprechen. Dann schlagen sie das Buch auf. Und wenn nun ihr Blick auf einen Vers fällt, dann erleben sie manchmal: Der Vers fängt an zu leuchten. Und in ihnen selbst kommt etwas in Bewegung. Sie haben dann das Gefühl: Gott spricht direkt zu ihnen.“

Martina: „Was meinst du mit leuchten?“ Und Jo: „Da wirkt dann Gottes Geist- und Liebeskraft. Der Vers erhält eine besondere Aura, er gewinnt eine merkwürdige Intensität. Und häufiger scheint der Vers genau das Problem zu treffen, das die Menschen gerade umtreibt.“

Da habe ich aber doch die Frage: „Spielt denn Gott bei solcher Suche wirklich mit?“ Und Jo: „Lieber Arno, Gott spricht in verrücktester Weise zu Menschen. Du hast da noch nicht viel Erfahrung. Aber ich versichere dir: Wenn einem Menschen ein Problem wirklich unter den Nägeln brennt, ist Gott sich nicht zu schade dafür, ihm auch auf die scheinbar unmöglichste Weise eine Antwort zukommen zu lassen.“

Bin ich überzeugt? Eigentlich nicht. Jo sieht es. Und er sagt uns beiden: „Kommt mal an den Bildschirm. Wir probieren das gleich aus!“ Da bin ich nun aber gespannt! Jo ruft im Internet eine Seite auf. Und da steht nun ganz groß der Satz: „Ich prüfe gerade deine Reife und Weisheit.“ Und ich denke: Ja und?

Jo holt erst einmal kurz aus und informiert uns: Diese Seite ruft per Losverfahren Sätze auf, die Gott einem Menschen sagen könnte. Bei jedem Aufruf steht also ein anderer Satz da. Und Jo dann weiter: „Arno, du fragst dich gerade: Spricht Gott wirklich durch scheinbare Zufälle zu Menschen? Und bitte schön: Vielleicht ist genau dieser Satz die raffinierte Antwort Gottes auf deine Frage. Kann das sein?“

Ich überlege. Ich frage mich ja gerade: Traue ich es Gott zu, scheinbar Zufälliges für eine Antwort zu benutzen. Und nun kommt dieser Satz: „Ich prüfe gerade deine Reife und Weisheit.“ Wenn das wirklich Gottes Kommentar zu meiner Situation sein sollte, sagt Gott mir damit um eine Ecke herum: Es wäre unreif von mir, ihm weniger zuzutrauen. Denn ich würde damit seine Größe beschneiden und ihn klein machen. Oh, das sitzt. Auweia, der Satz trifft perfekt! Ja, Gott ist wirklich groß!

Ich gebe nun gegenüber Jo zu: Ja, der Satz ist eine perfekte göttliche Antwort! Und Jo lächelt beglückt. Nun klickt er auf derselben Seite noch etwas an. Und jetzt erscheint der Satz. „Ich bin nicht darauf aus, von Menschen geehrt zu werden (Jh 5,41).“ Es ist ein Satz von Jesus aus der Bibel, wie Jo sagt. Und er ist wieder ausgelost. Ich weiß, sonst mutet Jo uns beiden die Bibel gar nicht erst zu. Aber nun fragt er doch: „Kannst du auch damit etwas anfangen?“

Ich überlege wieder. Da kommt mir in den Sinn: Ganz am Anfang hatte mir Jo über Jesus gesagt: „Er ist ein Großer im Himmel, der sich extra für dich klein macht.“ Und nun fällt es mir wie Schuppen von den Augen: Jesus war immer wie selbstverständlich bei uns. Oder um uns herum. Er hat nie was von sich hergemacht. Er war nie auf Lob oder Dank aus. Und nun kommt mir auch noch der verrückte Gedanke: Er wollte nicht mal Trinkgeld.

Diese seine Haltung bewegt mich jetzt. Sie berührt mich tief. Und innerlich sage ich Jesus: „Ja, du bist ein ganz Großer. Ja, ein Gewaltiger! Ich sage dir wenigstens jetzt mal aus allertiefstem Herzen allergrößten Dank!“

Jo sieht, dass ich gerührt bin. Er wartet ab, bis ich mich wieder gefasst habe und ihm erklären kann: Ja, der Satz „Ich bin nicht darauf aus, von Menschen geehrt zu werden“ hat etwas in mir aufgedeckt. Er hat mich erschüttert.

Und Jo meint nun: „Siehst du, so erlebt es ein Mensch, wenn ein Vers der Bibel für ihn zu leuchten anfängt.“

Die Internetseite bringt mich aber noch auf ein anderes Thema. Denn unten auf der Seite habe ich Jos Namen entdeckt. Was hat er mit dieser Seite zu tun? Jo lächelt und meint: „Vor Jahren habe ich die Seite fast allein aufgebaut. Damals hat sie Menschen einiges gegeben. Inzwischen ist sie in die Jahre gekommen und in Vergessenheit geraten. Selbst bei mir. Eigentlich hatte ich sie völlig abgeschrieben. Aber vorhin musste ich plötzlich an sie denken!“

Und nun weist mich Jo auf drei Worte hin: Oben über der Seite steht „Tipps von Gott“. Und er erklärt: „Damals habe ich die Sätze Tipps genannt. Weil sie – wie jeder Tipp – ein Stück hilfreich sein können. Nämlich dann, wenn sie einen neuen und besseren Blick eröffnen. Und Gott kann sie benutzen, wenn er will, um damit Menschen unter die Arme greifen.“

Jo kommt jetzt schließlich noch einmal auf das Tablet zurück: „Darauf könnte Gott Einsamen solche Tipps geben. Jeden Morgen finden sie dann dort den ganz persönlichen Tipp des Tages vor. Am besten wären dabei natürlich richtig schön aufbauende Sätze von Gott wie: Du liegst mir am Herzen. Oder: Ich bin heute mit all meiner Liebe um dich.“

Wir staunen, wohin uns das Thema Tablet geführt hat. Und es wäre wunderbar, wenn tatsächlich Einsame auf solche Weise von Gott angesprochen und aufgerichtet werden könnten.

Jetzt erinnert sich Martina: „Wir hatten doch schon mal im Auge: Mit dem Tablet kann man auch Menschen hören. Ließe sich das ebenfalls damit machen?“

Und Jo: „Keine Frage, das Tablet kann auch eine Brücke zu Verwandten und Freunden sein. Doch viele Alte sind gerade deshalb einsam, weil Verwandte und Freunde sich aus dem Leben davongemacht haben. Oder weil der Draht abgerissen ist. Oder weil die Verbindung sogar absichtlich gekappt wurde.“

„Da wäre es doch eigentlich gut, wenn Einsame mit anderen Einsamen Verbindung aufnehmen würden“, meine ich nun. „Die sind ja miteinander in derselben Situation.“ Doch Jo gibt zu bedenken: „Vermutlich sind Einsame oft gerade deshalb einsam, weil sie nicht kontaktfreudig oder kontaktfähig sind. Sie sind zum Beispiel ziemlich ungelenk oder sogar verbiestert.“

Martina: „Dann muss man ihnen eben die Kontaktaufnahme erleichtern.“ Jo: „Darauf dürfte es hinauslaufen. Aber stell dir einen miesepetrigen Alten vor, der nur herumjammert und an allem herumnörgelt. Wer möchte zu dem irgendeine Art von Beziehung haben?“

Schweigen. Denken. Innere Fahndung nach einer guten Idee.

Dann Martina – die vorformulierten Sätze von Gott stehen bei ihr Pate: „Der Alte kriegt vorgekaute Sätze. Und mit denen kann er Kontakt aufnehmen. Und wenn das dann ziemlich nette und freundliche Sätze sind, kann doch nichts schief gehen.“

Ich: „Oh, das hat etwas! Doch das geht nur schriftlich.“ Aber Jo findet das gerade gut: „Vielen Menschen fällt ein schriftliches Hallo leichter. Mündlich tun sie sich viel schwerer.“

Und Martina ergänzt: „Der miesepetrige Alte wird so in eine freundliche Unterhaltung hinein gezwungen. Und wer weiß: Das färbt vielleicht auch noch auf ihn selbst ab.“ Ich halte dagegen: „Aber wenn der Alte solche Kontakte nur ziemlich daneben findet und nicht mitmacht?“ Doch da kommt mir gleich selbst eine Idee: „Er könnte ja vielleicht zunächst anderen auf dem Tablet bei freundlicher Unterhaltung zusehen. Und vielleicht kriegt er dann selbst Lust darauf.“

Jo findet, jetzt haben wir erst einmal Grundsätzliches klar: Mit einem Tablet kann man von Gott angesprochen werden. Zugleich kann man damit auch zu anderen Kontakt aufnehmen und sich mit ihnen unterhalten. Am besten mit vorformulierten Sätzen. Und er fragt nun: „Haben wir noch etwas?“

Martina erinnert sich jetzt: Die Pfarrerin sah doch einen Mann, der irgendetwas mit Organisation zu tun hatte. In ihr beginnt nun etwas zu keimen. Und dann hat sie einen exzellenten Gedanken: „Ich denke, für mich ist wieder mein Unternehmer dran. Der hat doch mit Elektronik zu tun. Und der kann uns vielleicht helfen.“

Jetzt beenden wir erst einmal unsere Sitzung. Und wir gehen davon aus, dass Martina demnächst wieder etwas Neues von ihrem Unternehmer mitbringen wird.

50. Programm für alle

Der Unternehmer ist völlig überrascht, als Martina nun auch in seinem Chefzimmer auftaucht. Er lässt seine Arbeit sofort liegen mit den Worten: „Wenn Sie auftauchen, wird es inspirierend!“ Und er bedankt sich erst einmal: Zuerst hat ihn Martina vor ernstestem Gesundheitsschaden bewahrt. Und dann auch noch vor massivem geschäftlichem Schaden. Da sei er jetzt in ihrer Schuld.

Martina wehrt ab: Nein, nicht ihr, sondern Gott sei er etwas schuldig. Und vielleicht könne er sogar etwas für Gott tun. Sie berichtet ihm nun von der Idee eines Tablets für Einsame. Der Mann horcht auf und möchte Genaueres wissen.

Martina erklärt ihm die beiden grundsätzlichen Möglichkeiten des Tablets: Es soll Einsame mit anderen Einsamen verbinden. Und man soll darauf Tipps von Gott erhalten können.

Tipps von Gott? Den Mann fesselt erst einmal diese Idee. Er ist zwar sehr skeptisch. Aber weil es Martina ist, die ihm die Idee vorstellt, will er sich zumindest theoretisch damit befassen. Martina allerdings ist das ein bisschen wenig. Sie hat noch die Internetadresse von Jos Seite im Kopf und denkt: Nein, der Mann soll jetzt selbst eine praktische Erfahrung machen!

Sie bittet ihn, Jos Seite mit den Tipps von Gott aufzurufen. Sie hat sich die Seite gemerkt. Darauf könnte er jetzt einen passgenauen Tipp für sich selbst bekommen. Der Mann lässt sich neugierig darauf ein. Martina betet wärenddessen innerlich heftig: Gott soll jetzt bitte einen Satz auf die Seite schicken, der den Mann sofort in seinen Bann schlägt. Und was geschieht? Auf der Seite erscheint der Satz: „Ich schenke dir heute ein paar gute Gedanken, die deine Augen leuchten lassen.“

Martina haut das geradezu um. Das ist für sie das Beste, was jetzt geschehen konnte! Und der Mann fragt durchaus berührt: „Wussten Sie schon, dass das auf dieser Seite steht? Oder haben Sie die Seite irgendwie manipuliert?“ Martina versucht nun, so überzeugend wie möglich zu versichern, das sei nicht der Fall. Und den Beweis dafür würde sie noch antreten.

Aber vorher soll er noch eine Stelle auf genau dieser Seite anklicken, die sich Martina auch gemerkt hat. Und nun erscheint der Satz: „Gott, der Herr, ist Sonne und Schild (Ps 84,12).“ Den Mann berührt das ebenfalls. Denn Martinas Anwesenheit erinnert ihn gerade unübersehbar daran: Durch sie hat er zweimal himmlischen Schutz erhalten. Der Mann ist nun mehr als nachdenklich. Es braucht wohl nur noch einen letzten kleinen Tick, und er ist überzeugt.

Deshalb bittet Martina jetzt den Mann, die Seite erneut aufrufen. Nun steht ein anderer Satz da, mit dem der Mann aber überhaupt nichts anfangen kann. Er klickt die Seite noch dreimal neu an und erhält immer wieder Sätze, die an ihm vorbei ins Leere gehen. Jetzt ist er zunächst einmal davon überzeugt, dass tatsächlich per Losverfahen die Auswahl gesteuert wird, so wie Martina ihm versichert hat. Und noch viel entscheidender: Jetzt wird für ihn gut denkbar, dass Gott selbst mit den Tipps zu tun hat. Er könnte tatsächlich die ersten beiden Tipps aus den Tiefen des Systems extra für ihn auf die Seite gehoben haben.

Der Mann ist beeindruckt. Und er hat jetzt Lust, die Idee für das Tablet mit Martina weiterzudenken.

Martina geht bisher davon aus: Auf dem geplanten Tablet erscheinen die Tipps von allein, sobald das Tablet eingeschaltet wird. Und dann man kann sich im Laufe des Tages noch weitere per Abruf gönnen.

Doch der Mann denkt weiter. Und er hat gleich eine blendende Idee: Die Tipps können doch auch selbständig zwischendurch erscheinen. Sie machen mit einem kleinen Ton unüberhörbar auf sich aufmerksam.

Und dann geht er noch einen entscheidenden Schritt weiter: Selbst wenn ein Tablet ausgeschaltet ist, könnte ein gerade von Gott eingehender neuer Tipp das Gerät zum Leben erwecken. Und es würde mit einem Klingelzeichen auf den Eingang aufmerksam machen.

Martina begreift schlagartig: Gott könnte so einen Tipp genau dann auf ein Tablet schicken, wenn der Mensch ihn braucht. Und sie ist perplex, wie der Mann nun der Ursprungsidee zu mehr Durchschlagskraft verhilft. Dabei ist klar: Es braucht dann nur noch ein zweites Losverfahren, mit dem Gott die Erscheinungszeit der Tipps nach seinem Dafürhalten steuern kann.

Und das ist noch nicht alles! Der Mann springt gedanklich noch ein Stück vorwärts und landet nun bei einem kleinen Programm für Smartphones. Das wäre dann etwas für alle Menschen. Solch ein kleines Programm, erklärt ihr der Unternehmer, wird inzwischen allgemein App genannt.

Mit dem Programm könnte man auf dem Smartphone – wie beim Tablet – jederzeit Gottes Tipps abrufen. Und ebenso würde das Smartphone von sich aus melden: Anruf von Gott! Der Mensch kann dann sofort Gottes Tipp in Empfang nehmen.

Martina ist nun einerseits hingerissen: Das sind jetzt drei tolle Ideen von dem Mann! Doch andererseits geht ihr alles zu schnell und zu hopplahopp. Sie hat das Gefühl: Gott wird gerade technisch voll verplant. Dabei steht und fällt doch alles mit seinen Tipps! Auf die kommt es zuallererst an.

Sie erinnert sich nun an eine Bemerkung von Jo, die er nebenbei machte: Die Sätze, die er für die Internetseite bereitgestellt hat, müssten nachgebessert und erweitert werden. Und sie sollten vielleicht auch noch genauer auf Zielgruppen abgestimmt werden. Gott hätte dann noch mehr Chancen, den Menschen aufbauende und treffsichere Tipps zu geben.

Und da kommt Martina nun ihrerseits eine Idee: Sie schlägt vor, ein „prophetisches Team“ mit der Überarbeitung der Tipps zu beauftragen. Denn Martina hat das starke Gefühl, dass die Tipps von Gott selbst abgesegnet werden sollten. Dafür braucht es aber ein paar Menschen mit einem guten Näschen für Gottes Willen.

Und sie erklärt dem Mann: Gott allein weiß, mit welchen Worten er Menschen am besten erreicht. Und deshalb müssten da ein paar „Gottversteher“ ran. Damit so auch das Einverständnis des obersten Chefs gesichert wird. Und der Mann – selbst Chef – versteht lächelt und kann Martina recht gut folgen.

Ihn reizt es nun ungemein, das kleine Programm beziehungsweise die App mit hilfreichen Tipps auf die Beine zu stellen. Er hat auch die Leute, die das technisch perfekt erledigen können. Und Gott soll dabei wirklich Vorrang haben. Und wenn Martina nun Nachbesserung, Ergänzung und Abstimmung an allererste Stelle stellt, dann kann er gut warten, bis diese Ergebnisse verfügbar sind.

Allerdings bittet er: Martina möge doch bald für ein „prophetisches Team“ zu sorgen. Und das darf dann gern genauso hervorragende Arbeit leisten, wie es mit Sicherheit sein eigenes technisches Team tun wird. Er sagt es mit einem Augenzwinkern.

Martina nimmt es lächelnd zur Kenntnis. Dann aber fällt ihr wieder der gemeinsame Ausgangspunkt ein. Und sie fragt: „Was ist nun mit den Einsamen?“ Ach ja, merkt der Mann, da war ja noch das Tablet. Und Martina hatte dafür angedacht, dass es soll Einsame mit anderen Einsamen verbindet.

Martina erklärt ihm nun: Die Funktion würde voraussichtlich erleichtert, wenn man dafür vorgefertigte Sätze und Texte bereitstellen würde. Vielleicht könnte das Tablet überhaupt nur damit funktionieren. Und Martina zählt dem Mann die Argumente auf, die sie mit Jo dafür gefunden hat und die das nahelegen.

Kontaktaufnahme und Kontaktpflege mit vorformulierten Sätzen? Das ist nicht ohne! Und da muss einiges stimmen, damit es wirklich funktioniert. Der Mann sieht das gleich. Aber die Idee ist für ihn nicht chancenlos. Und er überlegt: „Sind solche Texte nicht auch etwas für das Team? Da muss ebenfalls eine gut getroffene Auswahl von Sätzen verfügbar sein.“ Oh, denkt Martina, das ist tatsächlich nicht verkehrt! Und sie sagt dem Mann zu, die Zusammenstellung solcher Sätze auch in den Aufgabenkatalog des Teams aufzunehmen.

Dann rückt Martina noch mit einem Anliegen heraus, das sie schon im Kopf mitgebracht hat: Ob er wohl eine gewisse Stückzahl der Tablets einer Kirchengemeinde zur Verfügung stellen könnte? Und das möglichst als Spende?

Da wacht jetzt der Geschäftsmann im Unternehmer auf. Und er kalkuliert Aufwand und Ertrag. Am Ende kommt für ihn heraus: Solche Tablets müssten sowieso erst einmal in der Praxis getestet werden. Und ja, dafür könnte er eine angemessene Zahl kostenlos zur Verfügung stellen.

Martina ist nun richtig glücklich über alles, was erreicht ist. Zugleich ist sie höchst erstaunt über die Offenheit des Mannes für Gott.

Am Ende sagt der Mann auch noch: „Wie war das doch mit ein paar guten Gedanken, die Augen leuchten lassen? Ja, meine Augen leuchten jetzt!“ Und Martina kann nicht anders, als ihm zuzustimmen mit: „Meine auch!“

51. Entfaltungsgruppe

Jo ist angetan von dem Geschehen bei dem Unternehmer. Ich auch. Und erst recht Martina.

Die Idee des Unternehmers findet Jo hervorragend. Wenn solch ein kleines Programm jedem Menschen zugänglich ist, kann Gott mit seinen Tipps alle Menschen erreichen. Und das zu jeder Tageszeit. Bis in den Arbeitsalltag hinein könnte er einen Rat geben, bei Bedarf trösten und notfalls auch zur Besinnung rufen.

Und Jo gefällt auch der Vorschlag von Martina ausnehmend gut, ein prophetisches Team auf die Beine zu stellen. Seine Internetseite hat er ja mal vor Jahren fast ganz allein gestaltet. Schon damals hätte er gern bei der Erstellung der Tipps ein mehrköpfiges Team zur Seite gehabt. Und jetzt will er gleich Hannah fragen, ob sie für solch eine Aufgabe zur Verfügung steht.

Danach ist die Zeit für die neue Entfaltungsgruppe gekommen.

Vor dem Haus, in dem wir uns jetzt immer treffen, stoßen wir dieses Mal auf Anna. Sie wird nun an der neuen Gruppe teilnehmen. Und drinnen im Haus finden wir fünf Gemeindemitglieder vor. Die Pfarrerin kommt auch noch gleich hinterher.

Nach der allseitigen Begrüßung kündigt Martina eine erste Stille an. Das eigene Befinden soll dabei Thema sein. Und zwar im Sinne von: Wie fühle ich mich hier? Was brauche ich jetzt? Zugleich geht es auch noch um das Befinden der Gruppe: Was braucht die? Und Martina weist darauf hin: Wenn sich alle dabei gut mit Gott verbinden, kommen sie nachher gemeinsam besser voran.

Dann geht es los. Nach der Entspannungsübung tritt Stille ein. Und Martina wirft leise kleine Hilfen in die Gruppe hinein wie: „Wie ist mein Gefühl?“, „Was brauche ich heute von Gott?“, „Was erbitte ich jetzt von ihm?“, „Wie fühlt sich die Gruppe an?“, „Was braucht sie?“, „Für wen hier möchte ich beten?“, „Was möchte ich für die Gruppe erbitten?“

Danach zeigt sich im Austausch: Der persönliche Bedarf ist klarer und deutlich spürbarer geworden. Und Energie und Intensität sind in der Gruppe gestiegen.

Nun übernehme ich den zentralen Teil. Ich erläutere die Aufgabe so: Es geht jetzt um Entwicklung – und zwar gewissermaßen wortwörtlich. Denn Entwicklung kann man sich wie das Auswickeln aus Windeln vorstellen. Das bringt Aufatmen und Bewegungsfreiheit mit sich. Und daraus ergibt sich dann Wachstum und die Entfaltung der persönlichen Möglichkeiten.

Wie aber kann das in der kommenden Stille erlebt werden? Ich habe mehrere Vorschläge dafür: Man kann etwa innerlich zu spüren versuchen, wo der Körper zusammengepresst ist. Vielleicht durch Binden oder Bandagen. Und dann bittet man Gott, dort das Einengende zu beseitigen und dem Körper Weite zu schenken.

Oder man kann innerlich sehen, wo man gefesselt, angebunden oder angekettet ist. Dann bittet man Jesus, die Fesselung zu beseitigen. Und man schaut ihm dabei zu.

Oder man kann innerlich das Seufzen, Jammern und Stöhnen des eigenen Körpers hören, weil er unter heftiger Spannung oder unter Zwang steht. Und man bittet Jesus oder Gott, dem Körper zu gebieten, ab sofort frei zu sein. Man hört dann diesen Befehl, und das Seufzen des Körpers schlägt um in Wohllaut und Wohlgefühl.

Schließlich kann man sich auch noch eine kleine eindrückliche Geschichte einfallen lassen, wie Jesus körperliche oder seelische Einschränkungen auflöst. Eine Geschichte, die man möglichst lebendig sich selbst erzählt.

Damit ist genug der Vorrede. Und es geht in die Stille. Nur hin und wieder gebe ich noch einen Impuls, der anregen und stimulieren kann.

Was geschieht dann? Acht sind in die Stille hineingangen. Sechs kommen ziemlich zufrieden wieder heraus. Bei ihnen wurden etwa Binden oder Fesseln beseitigt. Zum Teil kam ihnen Jesus dabei zu Hilfe. Ihr Körpergefühl hat sich gelockert, entspannt und gelöst. Ihre Seele schwingt nun freier. Und vielleicht hat dabei auch hier oder da etwas Neues begonnen, das längerfristig anhält und verändert.

Allerdings hatten zwei Frauen mit der Aufgabe Schwierigkeiten. Den beiden gelang keine besondere Befreiung. Die eine kann damit leben, sagt sie. Immerhin hat sie beim früheren Termin schon eine beglückende Erfahrung gemacht.

Doch die andere fühlt sich eher noch mehr belastet als vor der Stille. In ihren inneren Bildern gelang ihr einfach keine Befreiung. Ich bin ziemlich irritiert und auf solch ein Ergebnis nicht vorbereitet. Innerlich stoße ich einen Hilfeschrei aus. Das Ergebnis darf auf keinen Fall so stehenbleiben! Jetzt muss ich mich dieser Frau ganz zuwenden.

Die Frau und die übrigen Anwesenden sind damit einverstanden. Und wie ein Mensch in inneren Bildern zu führen ist, dafür nehme ich mir jetzt Jo als Beispiel.

Erst einmal frage ich, wie es der Frau in der Stille ergangen ist. Sie hatte ein inneres Bild, und darin hing ein Strick von oben herunter und umschlang sie. Sie fühlte sich gefangen. Und trotz aller Bemühung konnte sie den Strick nicht lösen. Ist sie denn auf die Idee gekommen ist, Jesus zu Hilfe zu rufen? frage ich. Nein, die beklemmende Situation beschäftigte sie so, dass sie nicht daran dachte.

Sie ergänzt noch: Den Strick hielt ganz oben eine männliche Hand. Das konnte sie sehen. Und jetzt, wo sie darüber spricht, fallen ihr plötzlich schlimme Situationen ein: Da wurde sie von Männern als Spielball benutzt. Und gerade erst neulich überging ein Zahnarzt einfach ihren Willen und brachte sie mit einem Trick dazu, eine unnötige und teure Spezialbehandlung zu akzeptieren.

Ich ahne zudem, was Männer darüber hinaus noch der Frau angetan haben können und worüber sie lieber schweigt. Mir wird mulmig zumute. Vielleicht sollte jetzt Martina übernehmen, denke ich. Ich schaue zu ihr hin. Aber Martina legt ihre Hände zusammen und signalisiert mir, sie wird das Weitere intensiv mit Gebet begleiten.

Da bitte ich die Frau, ihr inneres Bild noch einmal zurückzuholen. Das geht. Und sie berichtet: Nun ist die Situation im Bild noch schlimmer: Jetzt ist der Strick noch dicker und straffer gespannt. Und er ist zudem schwarz. Ich frage die Frau, ob sie diesen dicken Strick irgendwie lösen, durchschneiden oder in anderer Weise loswerden kann. Sie müht sich, aber es ist für sie einfach unmöglich. Da brauchen wir jetzt aber wirklich ganz dringend Jesus! Ich bitte die Frau, ihn innerlich herbeizurufen. Und Jesus kommt tatsächlich gleich zu ihr.

Nun soll sie Jesus bitten, sie von diesem Strick zu erlösen. Und Jesus fackelt nicht lange: Mit einem kräftigen schnellen Schnitt durchtrennt er den Strick. Und die Frau kann den Rest selbst erledigen: Sie streift die nun losen Teile des Stricks einfach ab.

Alle Anwesenden atmen mit ihr auf. Nachträglich wird besonders deutlich, welche Spannung vorher im Raum stand. Doch nun herrscht eine gelöste Atmosphäre gepaart mit tiefer Ergriffenheit!

Martina spürt: Jetzt ist unbedingt noch einmal Stille dran. Und sie erklärt: In einer Abschlussstille können sich nun alle darauf besinnen, was sie heute besonders bewegt hat. Und was sie vom heutigen Treffen mit nach Hause nehmen möchten.

Und dann fügt sie hinzu: Es kann auch geschehen, dass Gott ihnen noch einen kleinen Auftrag für die nächste Zeit erteilt. Mit dem sie können ihre persönliche Entfaltung vielleicht selbst ein wenig weiter vorantreiben.

Nach der Stille ist schließlich noch die Frage zu klären: Gibt es einen weiteren Termin für die Gruppe? Eine deutliche Mehrheit ist dafür. Und wir einigen uns auf einen Termin in genau vierzehn Tagen.

Danach geht es an den Abschied. Mir fällt dabei auf: Bisher hatte die so eindrucksvoll befreite Frau ein eher maskenhaftes, unbewegliches Gesicht. So kannte ich sie. Doch jetzt sieht sie deutlich lebendiger aus. Und ich wünsche ihr von Herzen, dass es so bleibt.

Schließlich packt Martina noch die Gelegenheit beim Schopf, die Pfarrerin über das Allerneueste zu informieren: Sie berichtet der Frau vom Gespräch mit dem Unternehmer. Und vor allem kann sie der Pfarrerin in Aussicht stellen, eventuell kostenlose Tablets für einsame Menschen zu erhalten. Die Pfarrerin ist fast sprachlos: Was für ein großer Schritt nach vorn! Was für eine Perspektive!

52. Erlösung vom Bösen

Am nächsten Tag möchte Jo erst einmal etwas loswerden: Der Unternehmer hat wieder angerufen. Er hat mit seinen Mitarbeitern geprüft und hält Tablet und App für gut machbar. Jetzt sei es an uns, die Fertigtexte dafür zu erarbeiten. Oh! Schön! Toll!

Und dann sind wir dran. Wir legen gleich los und berichten Jo ausführlich alles, was in der Gruppe geschehen ist. Und er beglückwünscht uns dazu.

Und dann hat er – wie erhofft – schon noch einiges dazu zu sagen. Insbesondere zur Frau mit dem Strick. Dabei ist ihm erst einmal ganz wichtig: Nur Menschen wie wir konnten ihr Problem so angehen, wie wir es getan haben. Denn eine enge Beziehung zu Jesus ist dafür unabdingbar. Und Gott hat das Problem überhaupt nur hochkochen lassen, weil wir da waren und die Macht hatten, es mit Jesus zusammen zu lösen.

Jo warnt uns davor, solch ein Vorgehen womöglich ganz naiv normalen Menschen schmackhaft zu machen. Er weist nachdrücklich darauf hin: „Wer keine enge Beziehung zu Jesus hat, der kann mit solch einem Heilungsansatz viel Unheil anrichten!“

Und dann liegt Jo das Thema Erlösung am Herzen. Denn die Frau wurde ja von diesem fatalen Strick erlöst und damit von seelischem Leid befreit. Jo nimmt das zum Anlass, sich nun allgemeiner über Erlösung auszulassen.

In manchen christlichen Bereichen, so meint Jo, steht eine bestimmte Form von Erlösung im Mittelpunkt: Nämlich die Erlösung von Sünde. Sie gilt dort praktisch als höchstes Gut. Aber dabei verrutscht manchen Leuten die Wahrnehmung. Denn bei ihnen wird Erlösung zum Besitzstand. Und als stolze Erlösungsbesitzer ruhen sie sich darauf aus wie auf einem Sitzkissen. Das geht aber total am Sinn der Erlösung von Sünde vorbei.

Martina will nun wissen: „Aber was ist denn der Sinn der Erlösung, Jo?“ Und Jo: „Jede Vergebung und Befreiung soll – von Gott her gesehen – den Menschen liebesfähiger machen. Er soll sich danach liebevoller anderen zuwenden und sich mehr für sie einsetzen können. Und je mehr wahre Erlösung ein Mensch erfahren hat, desto weniger dreht er sich um sich selbst und um seinen Erlösungsbesitz.“

Für Jo kommt noch dazu: Wenn Erlösung zum höchsten Gut wird, verrutschen auch noch andere Werte. Denn damit Erlösung etwas ganz Tolles sein kann, muss der Zustand des Unerlöstseins dann unbedingt etwas ganz Schlimmes sein.

Und wie kriegen die guten Leute es hin, dass Unerlöstsein als schlimm wahrgenommen wird? Jo meint: In ihren Kreisen erklärt man jeden Verstoß gegen Gottes Willen zu einer Art Majestätsbeleidigung. Und man unterstellt zusätzlich, dass Gott mit höchstem Unwillen und sogar mit Zorn darauf reagieren kann. Gottes Faust schwebt damit drohend über jedem Sünder. Und seine Faust schlägt auch immer wieder mal zu. Nur die Erlösung von Sünde rückt einen Menschen aus dieser Gefahrenzone.

Und Jo: „Solche Sicht führt aber unendlich weit weg von Gott! Denn wer Gottes Liebe wirklich kennt, der weiß, dass Gott jeden Menschen liebt. Unabänderlich. Kein Vergehen zerreißt dieses Band göttlicher Liebe.“

Jo führt uns nun das Verhalten einer guten Mutter vor Augen: Sie ist allein um das Wohlergehen ihres kleinen Kindes besorgt. Und das auch dann, wenn sie ihm etwas verbietet – wie etwa auf die Herdplatte zu fassen, die ja heiß sein könnte. Tut das Kind es dennoch und schreit laut auf, wird eine gute Mutter nicht etwa ärgerlich oder zornig. Eine gute Mutter fühlt erst einmal mit und versucht zu trösten. Erst danach wird sie traurig und erinnert das Kind nachdrücklich daran, dass es gegen ihr Verbot verstoßen hat. Sie muss ja ihren Sprössling weiter vor Unvorsichtigkeiten und damit vor sich selbst schützen.

„Und so ist Gott auch!“ sagt Jo jetzt nachdrücklich. Gott handelt wie solch eine Mutter, wenn er ein bestimmtes Verhalten verlangt und wenn er Verstöße dagegen anprangert. Ihm geht es dabei nicht um sein eigenes Befinden, sondern nur um das Wohlergehen des Menschen. Er will, dass ein Mensch in glücklichem Einklang mit sich selbst und mit seiner wahren Bestimmung lebt. Und wenn der Mensch dagegen verstößt und sich selbst oder andere schädigt, dann fühlt Gott Schmerz und Trauer. Und er versucht mit dem geringstmöglichen Druck und Schmerz den Menschen auf einen besseren Weg zu leiten. Bei ganz Widerspenstigen kann Gott dabei allerdings auch ziemlich robust und nachdrücklich werden.

Jo macht Pause. Er denkt nach, in sich versunken. Und ich hoffe, dass nun noch ein guter Nachschlag kommt.

Und dann wird Jo noch einmal deutlich: „Das Wort Sünde ist übrigens viel zu harmlos. Es geht um das Böse! Und das ist viel mehr. Im Vaterunser heißt es deshalb auch nicht: Erlöse uns von der Sünde, sondern erlöse uns vom Bösen. Warum? Es geht um Tieferes. Denn hinter Sünde steckt letztendlich immer das Böse. Und wer sich ernsthafter Vergehen schuldig macht, der geht dabei dem Bösen auf den Leim.

Wer mehrfach dem Bösen Tür und Tor öffnet, der verstrickt sich sogar ins Böse. So wie einer, der erst einmal mit einer Lüge anfängt und sich danach immer tiefer in ein Lügennetz verheddert. Wer sich in ähnlicher Weise in kleinere oder größere Untaten verstrickt hat, hat damit in sich selbst ein immer größeres Einfallstor für das Böse geöffnet. Und das Böse nutzt das aus und klammert sich dann in ihm fest. Es wird zu einer bösen Struktur. Und der Mensch braucht dann nicht Erlösung von einzelnen Missetaten, sondern von seiner tiefen Verstrickung ins Böse.“

Martina will nun unbedingt wissen: „Aber wie wird ein Mensch solche Verstrickung wieder los?“ Und Jo: „In leichten Fällen kann Vergebung durch Gott reichen. Die Vergebung schließt das mögliche Einfallstor, das sich mit Sünde und Schuld öffnet. In schwereren Fällen muss ein Mensch sein ganzes Leben ganz bewusst Jesus und Gott unterstellen. Und wenn es noch schlimmer ist, muss ein richtig guter Seelsorger ran oder sogar ein kleines Team – so wie ihr eins zum Beispiel seid.“

Jo möchte das aber nicht weiter vertiefen. Er will zurück zum Ausgangspunkt, also der Frau mit dem Strick. Denn ihre Geschichte zeigt sehr deutlich: Das Böse hat zwei Seiten, mit denen man umzugehen hat. Die eine Seite ist das Böse in uns selbst, das uns dazu bringt, andere zu schädigen. Und die andere Seite ist das Böse in anderen Menschen, das diese Menschen antreibt, uns zu schädigen.

Und Jo: „Die Frau ist von Männern offenbar seelisch und körperlich missbraucht worden. Diese Männer waren erst einmal selbst dem Bösen verfallen. Und dann haben sie der Frau immer wieder Böses zugefügt. Das hat zu einem dauerhaften seelischen Schaden bei der Frau geführt. Und zugleich haben die Männer ihr eigenes Böses auch noch so weit auf die Frau übertragen, dass es sich in ihr festgesetzt hat – also in einem unschuldigen Menschen. Das ist mehr als tragisch!

Der schwarze Strick symbolisiert das Böse in der Frau, das auf sie übertragen wurde: Dieses Böse engte sie ein und schnürte sie zusammen. Es verhinderte die Entfaltung der Frau. Wer weiß, sonst hätte sie vielleicht andere Menschen mit einem freien und fröhlichen Verhalten beschenken können.“

Und Jo erzählt uns nun noch: Aus eigener schwerer und schlimmer Erfahrung weiß er, dass Jesus grundsätzlich eine besondere Macht über das Böse hat, das sich in einen Menschen verkrallt hat. Denn mit ihm hat er selbst eine wahrhaft erlösende und befreiende Erfahrung gemacht.

Ansonsten sieht er die Dinge so: Die Macht über das Böse hatte Jesus schon vor seinem Tod. Damals bereits hat er so manchem Menschen böse und schwere Fesseln abgenommen. Nach seinem Tod war er aber nicht mehr auf seinen kleinen Wirkungskreis in Judäa beschränkt. Vielmehr kann er seitdem aus einer himmlischen Stellung heraus weltweit Menschen Erlösung vom Bösen verschaffen.

Und schließlich sagt Jo noch: „Jesus teilt seine Macht über das Böse auch gelegentlich mit uns. Ohne euch, Arno und Martina, wäre jedenfalls die Frau nicht von ihrem Strick losgekommen. Jesus hat zwar den entscheidenden Schnitt getan – aber ohne euer Beisein hätte es nicht so weit kommen können.“

53. Begegnung mit Liebe

Stadt muss einfach mal wieder sein! Wir brauchen etwas Freiheit von unseren Aufgaben. Und so bummeln nun Martina und ich durch eine äußerst lebendige Einkaufsstraße.

Ganz vieles hascht hier nach unseren Blicken und bettelt um Aufmerksamkeit: Die Auslagen, die Werbebotschaften, die Preise. Wir gucken hierhin und dahin, gehen mal nach rechts und mal nach links. Und eine leicht zurückhaltende Sonne legt auch noch eine zarte Note von Heiterkeit über alles.

Viele Menschen wirken angespannt. Sie sind wohl noch auf der Suche. Andere haben es schon eilig, ihre Erwerbungen heim zu schaffen. Aber manche wirken auch locker und sind zum Beispiel kreativ darin, Plätze zum Sitzen und Ausruhen zu finden. Aber niemand bummelt so gemächlich dahin wie wir.

Martina bleibt gelegentlich stehen und nimmt Auslagen genauer in Augenschein. Und ich als ihr Begleiter halte dann auch inne und interessiere mich – schon ein wenig zwangsläufig – für das, was gerade Martina anzieht.

Die ausgestellte und manchmal geradezu überwältigende Vielfalt schlägt uns eine ganze Weile in ihren Bann. Aber irgendwann beginnt sie, erdrückend zu wirken. Denn wir selbst haben ja keinerlei Bedarf. Wir als spezielle Sorte Mensch brauchen keine Textilien, keine Schuhe, keine Bücher, keine Lebensmittel. Für uns ist immer gesorgt.

Mir fällt unser kleines Programm ein, das inzwischen auf den Weg gebracht ist. Ich frage Martina: „Wenn wir jetzt ein Smartphone hätten, es würde klingeln und die App zeigt an: Gott hat uns einen Tipp geschickt. Welchen Tipp würde es ausspucken?“ Martina lauscht kurz in sich hinein und meint: „Freut euch!“

Nun reagieren wir beide völlig unterschiedlich. Ich denke: Oh, sollen wir uns freuen, weil es uns besser geht als den Menschen um uns herum? Ja, vermutlich! Martina dagegen fragt sich: Schöpfen wir im Moment das Maß an Freude aus, das uns möglich ist?

Und kaum haben wir unsere unterschiedlichen Reaktionen gegenseitig zur Kenntnis genommen, bekommt Martina einen verschmitzten Gesichtsdruck. Irgendwie ahne ich, was sie vorhaben könnte. Und schon fällt sie, mit den Armen schwingend, in einen heiter tänzelnden Hüpfschritt. Und so bewegt sie sich auf die nächsten Menschen zu. Oh, soll ich sie mir nun enteilen lassen? Das aber würde heißen: Ich trotte lahm hinter ihr her. Nein, lieber entscheide ich blitzartig: Ich schließe mich an! Und so tänzeln und hüpfen wir nun zu zweit eine ganze Strecke durch die Menschen hindurch.

Wo wir hinkommen, beginnen die Menschen zu lächeln. Einige halten inne. Nur ganz wenige schütteln irritiert oder verständnislos den Kopf. Jedenfalls ziehen wir eine ziemlich breite Schleppe von Lächeln hinter uns her.

Etwas außer Atem suchen wir uns schließlich einen Tisch in einem Straßencafé. Ich denke: Haben wir eigentlich Geld? Ich suche in meinen Taschen. Und tatsächlich findet sich da ein Schein – wie auch immer er dahin gekommen ist.

Ich empfehle Martina ein Eis, das ich schon einmal gekostet habe und das mir behagte. Mir selbst bestelle ich eine andere und hoffentlich ebenso leckere Variante zum Ausprobieren. Und dann schauen wir den Menschen zu, wie sie essen, trinken und sich miteinander beschäftigen.

„Ob hier wohl jemand an Gott denkt?“ frage ich irgendwann Martina. Sie kann es sich nicht vorstellen. Und ich: „Tun wir es denn?“ Martina: „Nur wenn sich das Smartphone mit der App melden würde.“ „Und was würde uns Gott sagen, wenn er uns jetzt anklingelte?“

Da gehen wir mal wieder für einen guten Moment in uns. Martina hört eher etwas als ich. Ich frage: „Und?“ Sie zögert und ist auffällig still. Schließlich sagt sie leise: „Er hat zärtlich gesagt: Ich liebe dich!“ Ihre Augen werden feucht. Und dann hält es sie nicht: Sie springt auf, dreht sich immerzu um sich selbst und ruft leise, aber doch so deutlich, dass einige es hören können: „Er liebt mich! Er liebt mich! Er liebt mich!“

Ist mir das peinlich? Nein. Denn alle denken jetzt, ich sei es, der sie so glücklich macht. Da fällt doch ein besonderer Glanz auf mich, wenn sich eine Frau so von mir geliebt fühlt. Soll sie sich ruhig weiterdrehen! Jede weitere Umdrehungen steigert meinen Glorienschein.

Aber zugleich ich bin neidisch. Ich möchte auch etwas so Schönes von Gott hören! Ich lausche also angestrengt in mich hinein. Und dann lässt Gott mich nicht hängen. Ich höre: „Für mich bist du ein toller Hengst!“

Ist Gott verrückt? Ich ein toller Hengst? Erst finde ich das bodenlos lächerlich. Doch Gott weiß, wie ein zutiefst männliches Bedürfnis mit göttlichem Humor zu bedienen ist. Und als ich das begreife, steigt doch noch ein übermütiges Lachen in mir auf. Und da Martina sich weiter dreht, passt es gut, wenn ich dazu auch noch immer lauter lache. Ja, ich schütte mich aus vor Lachen!

Jetzt sind wirklich alle Blicke auf uns gerichtet. Und etwas in mir animiert mich, die Faust zu erheben und laut zu rufen: „Gott ist gut!“ Der Hengst wiehert sozusagen auch noch. Nun ist die Szene endgültig filmreif.

Martina stoppt abrupt ihre Drehung, schaut mich an, setzt sich zu mir und fragt ziemlich entgeistert: „Was hat Gott dir denn gesagt?!“ So kennt sie mich nicht. Ich sage es ihr. Und nun fängt auch sie an zu lachen. Wir lachen nun gemeinsam Tränen.

Schließlich frage ich: „Aufbrechen?“ Martina nickt. Ich winke der Bedienung und zahle. Aber nun dürfen wir die Leute nicht enttäuschen: Wir sind sind ihnen einen angemessenen Abgang schuldig! Also verlassen wir eng umschlungen den Ort. Und wir genießen selbst diese neue Nähe und zudem einen so stolzen Abgang. Hundert Meter weiter lösen wir uns wieder von einander und schütten uns noch einmal aus vor Lachen.

Martina meint nun: „In die App dürfte der Satz aber nicht: Für mich bist du ein toller Hengst!“ Ich: „Wegen weiblicher Nutzer?“ Martina: „Ja, wegen der Nutzerinnen.“ Und ich: „Na gut. Aber immerhin bist du für mich eine tolle Hengstin!“

54. Berufung und Enthaltsamkeit

Dieses Mal finden wir Jo draußen in der Natur auf einer Bank. Er sitzt in der frühen Sonne und scheint sie ein wenig zu genießen. Und uns begrüßt er leicht zurückhaltend mit: „Na ihr – auch Morgensonne tanken?“

Wir setzen uns zu ihm. Hinter uns ein lichter Waldrand mit Laubbäumen und Tannen. Vor uns eine sich sanft absenkende Wiese mit lockerem Grün. Und da, wo die Wiese im Tal ankommt, weiden ein paar braunweiße Kühe. Dort unten huschen auch gelegentlich Autos auf einer Straße hin und her. Und darüber schließen in der Ferne ein paar niedrige bewaldete Bergrücken das Panorama zum Himmel hin ab.

Wir erzählen Jo von unserem Stadtbesuch voller Übermut. Aber er freut sich eher wenig mit uns. Er ist ziemlich wortkarg.

Und dann verstummt Jo ganz. Er sitzt irgendwie betrübt da. Und es sieht so aus, als wenn Unangenehmes in ihm hochkommt. Und schließlich rückt er damit heraus: Er hatte eine ausgesprochen schlechte Nacht. Ihm ist viel im Kopf herumgegangen.

Am Abend hat Jo einen Filmbericht über spezielle christliche Gemeinschaften gesehen. Die bieten armen jungen Frauen ein Leben in ihrer Gemeinschaft an. Das sieht erst nach einem guten, gottgefälligen und materiell gesicherten Leben aus.

Doch nach einiger Zeit machen sich manchmal leitende Männer an diese jungen Frauen heran. Sie bedrängen sie und suggerieren ihnen etwa: Es sei religiöses Gebot und auch Wohltat für die Frauen, ihnen sexuell zur Verfügung zu stehen. Und das, obwohl sexuelle Enthaltsamkeit formell Pflicht ist. Die Frauen wagen es aber nicht, das männliche Ansinnen auszuschlagen. Sie würden sonst die materielle und soziale Sicherheit der Gemeinschaft verlieren.

Wird nun eine Frau dabei schwanger, wird versucht, sie mit seelischem Druck zur Abtreibung zu bringen. Obwohl offiziell Abtreibung als Mord gilt. Lässt sich die Frau tatsächlich darauf ein, hält man hinterher einen geheimen Gottesdienst ab, in dem Gott um Vergebung gebeten wird. Damit, meint man, sei für Gott alles ausgebügelt. Widersetzt sich aber eine Frau der Abtreibung, dann wird sie schwanger auf die Straße gesetzt und ohne alle Mittel ihrem Schicksal überlassen. Zu ihren Familien können solche Frauen nicht zurück. Da würden sie nur verachtet und verstoßen.

Jo ist mitgenommen von dem Bericht. Wir spüren es. Und er kommentiert: „Da geben sich christliche Kreise nach außen einen beeindruckend frommen Anstrich. Aber in ihnen nistet das Böse in menschenverachtender Form. Diese systematische Scheinheiligkeit und Doppelbödigkeit ist Gott ein Graus. Besonders wenn auch noch für andere rigorose Unbarmherzigkeit und seelische Zerstörung hinzukommt.“

Jo schweigt wieder. Und wir können nur mit ihm betroffen sein. Von solchen Verhältnissen hatten wir bisher nicht den blassesten Schimmer. Martina fragt nun: „Und Gott lässt das zu?“ Jo: „Ja, das lässt er zu. Aber warum, das ist eins seiner großen Geheimnisse. Dem kann man sich nur äußerst vorsichtig nähern.“

Jo verzichtet aber heute auf solch eine Annäherung. Er greift dafür lieber das Thema sexuelle Enthaltsamkeit auf.

Und er meint dazu: Enthaltsamkeit hat sich zu allen Zeiten bewährt, um Gott näher zu kommen. Oder um ihm in besonderem Maße zur Verfügung zu stehen.

Allerdings: Man muss möglichst von Gott selbst dazu berufen sein. Vielleicht nur für kurze Zeit. Oder auch lebenslang. Und dabei ist dann Enthaltsamkeit immer freiwillig. Jedenfalls hat kein Mensch das Recht, einem anderen mit Verweis auf Gott von außen her sexuelle Entsagung aufzudrücken. Es sollte immer eine freiwillige persönliche Abmachung mit Gott sein.

Und umgekehrt ist es genauso daneben, Menschen unter Verweis auf Gott zum sexuellen Akt zu zwingen – direkt oder indirekt. Das gilt für die besagten Gemeinschaften. Aber das gilt auch für jede Ehe. Früher konnte der Beischlaf sogar unter dem verharmlosenden Begriff der ehelichen Pflicht erzwungen werden. Und diese Pflicht war nicht nur gesellschaftlich, sondern ebenso religiös verankert.

Nun macht Jo völlig unerwartet einen Sprung und kommt direkt zu uns: „Anfangs habe ich gedacht, ihr würdet ein verliebtes Paar werden. Das allerdings hätte dann bedeutet: Ihr dreht euch vor allem um euch selbst. Doch so wie ihr jetzt Abstand voneinander haltet, seid ihr frei für anderes. Ihr macht es genau richtig.“

Martina gibt sich daraufhin einen kleinen Ruck und erlaubt sich, neugierig zu sein. Sie fragt Jo: „Und wie hältst du es damit?“ Jo lächelt: „Ich bin schon einmal verheiratet gewesen. Und das reicht noch für eine Weile.“

Das Thema behagt Jo aber offenbar nicht. Er springt erneut zu etwas anderem. Und er gibt preis: „Eine schlechte Nacht hatte ich übrigens nicht nur wegen des Filmberichtes. Die hatte ich auch, weil ich zusätzlich noch angegriffen wurde. Da ging es um das Buch. Ein paar Leute wissen, dass ich daran schreibe, und ihr Angriff hat mich ziemlich getroffen. Er hat bei mir sogar Zweifel gesät. Zweifel am Sinn und Erfolg des Buches. Es steckte einfach Böses dahinter.“

Wir schrecken hoch. Martina fragt: „Aber die Zweifel sind wieder weg?“ „Ja, sie sind ausgeräumt. Es geht nicht mehr an eure Existenz.“

Jo weiter: „Aber das war vielleicht nur ein Vorgeschmack auf das, was zu erwarten ist. Wenn das Buch rauskommt, könnte es mehr Angriffe geben. Euch allerdings trifft es dann nicht mehr.“

Nun druckst Martina herum. Schließlich kommt heraus, was sie drückt: „Wenn das Buch fertig ist, dann sind wir doch weg vom Fenster. Oder?“ Jo: „Aber ihr lebt doch im Buch und in den Köpfen der Leserinnen und Leser fort.“ Das allerdings stellt Martina überhaupt nicht zufrieden: „Könnten wir nicht auch real weiterleben? So als ganz normale Menschen?“

Jo ist überrascht und zugleich überfragt. Er überlegt. Dann erkundigt er sich: „Ihr habt doch jetzt ein gutes und ziemlich abgehobenes Leben. Damit ist euch unendlich viel erspart. Oder wollt ihr tief in ein Leben eintauchen, in dem ihr von vielen schmutzigen und schmerzhaften Dingen umgeben seid? Gerade habe ich euch davon erzählt. Und viel mühsamer Alltagskram kommt noch dazu.“

Aber Martina gibt nicht so schnell auf: „Sind denn keine Freuden dabei?“ Jo lacht: „Du hast mich erwischt! Ja, es können gelegentlich auch wundervolle Freuden dabei sein! Allerdings: Im Moment braucht Gott euch schon so, wie ihr gerade seid. Und ich bitte euch von Herzen, euer gegenwärtiges Leben noch weiter als gottgewollt anzunehmen.“

Ich selbst würde mich jetzt mit Jos Auskunft zufrieden geben. Doch Martina bleibt dran: „Aber vor dem Ende des Buches können wir noch einmal darüber reden?“ Jo: „Sicherlich! Aber das ist dann nicht meine, sondern ganz allein Gottes Sache.“

55. Himmlisches Ziel und irdische Mühen

Zu meiner Überraschung finde ich mich bei unserer Kapelle wieder – die, in der ich schon einmal mit Martina war. Noch immer ist der Fernblick fast unübertrefflich. Und noch immer hat der Ort etwas Erhebendes. Nur der Himmel ist jetzt deutlich trüber.

Aber was soll ich hier? Ich setze mich auf die Bank neben der Kapelle. Doch ich brauche nicht lange zu warten, und schon sitzt Jesus neben mir. Erst einmal schaut er mich lächelnd und prüfend von der Seite her an. Dann sagt er: „Martinas letztes Thema war gestern doch: Was kommt für euch danach?“

Und dann fragt Jesus: „Bist du unternehmungslustig? Soll ich dir mehr zeigen?“ Ich spüre in mich hinein und sage: „Ja, einverstanden!“

Und ehe ich mich versehe, fühle ich mich nun innerlich angehoben. Und dann geht es im Flug mit Jesus über den Horizont hinaus und noch ein gutes Stück um die Erde herum. Schließlich sehe ich einen großen Raum vor mir, in dem dichtgedrängt Näherinnen sitzen – Nähmaschine an Nähmaschine. Vielleicht sind es fünfzig oder hundert Frauen mit Kopftuch. Der Raum wird von künstlichem Licht erhellt und ist zugleich vom Lärm laut ratternder und surrender Maschinen erfüllt.

„Warum zeigst du mir das?“ frage ich Jesus. „Ich liebe diese Frauen. Sie nähen hier an einem Zwölfstundentag um ihr Leben. Ich bin bei jeder einzelnen von ihnen.“ Ich frage: „Und was tust du für sie? Ihr Leben ist karg und kümmerlich.“ Eine heikle Frage. Und Jesus: „ Die Hände sind mir hier ziemlich gebunden. Aber am Ende wartet auf die von ihnen, die es wollen, eine lichtvolle Existenz.“

Und schon sind wir wieder zurück bei der Kapelle. Hier kommt mir die extrem leidgepüfte Bäuerin in den Sinn. Sie hat ja mal die Kapelle errichtet. Und sie hatte wohl ebenfalls zu ihrer Zeit ein recht karges Leben. Zumindest bedeutete die bäuerliche Existenz damals harte Arbeit von morgens bis abends. Und dazu passt: Die Frau ist schließlich am Waschtrog zusammengebrochen – so jedenfalls der Bericht über sie in der Kapelle. Und damit endete ihr Leben.

„Wo ist sie jetzt nach ihrem harten Leben?“ frage ich Jesus. Er strahlt mich an: „Da, wo sie glückselig ist.“ Er freut sich, dass sie mit dem Geschenk einer unbegreiflich anderen Existenz bedacht ist. Mit einer Existenz, die zutiefst eingehüllt ist von ewiger göttlicher Liebe.

„Kann jeder Mensch solche Existenz erreichen?“ möchte ich nun wissen. Jesus lacht: „Ja schon! Alle auf der Erde. Aber kein Mensch bekommt so etwas Herausragendes einfach nachgeworfen. Jeder muss etwas dafür tun. Und diejenigen kommen weiter, die mit vollem Einsatz dabei sind. Andere dagegen trödeln nur herum. Aber im Prinzip ist für jeden Menschen eine Existenz in ewiger göttlicher Liebe erreichbar.“

„Auch für die Bösen?“ Jesus dazu: „Es gibt die, die sich in vollem Bewusstsein – und gegen bessere innere Impulse – immer wieder auf die Seite des Bösen schlagen. Für sie ist irgendwann die Umkehr nicht mehr möglich. Sie sind dann außerstande, überhaupt noch eine andere und glücklichere Existenz zu wollen. Jede Art von Liebe ist solchen Gestalten schließlich ein Gräuel.“

Das muss ich erst einmal in mir nachklingen lassen. Eine schauerliche Perspektive! Aber wie ist das mit dem Rumtrödeln? Auch wenn man sich nicht beeilt, hat man letztlich doch eine gute Perspektive? „Stimmt!“ sagt Jesus.

Doch er hat ein Aber dazu: „Trödeln kann ja ganz erholsam sein. Aber wenn man dabei eine gute Gelegenheit nach der anderen ausschlägt und verpasst, ist das irgendwann nicht mehr aufzuholen.“

Ich frage: „Ist das vielleicht so: Wenn man den steilen und schwierigen Weg nimmt, ist man schnell auf dem Gipfel des Berges? Und wenn man voll Behaglichkeit einer gut asphaltierten und nur sanft ansteigenden Straße folgt, kommt man nicht so weit?“

„Ja, so kann man das sehen“, bestätigt mir Jesus. „Wer sich wirklich anstrengt, gelangt bis ganz oben. Wer dagegen bequem geht oder gar bummelt, kommt zwar noch aus dem Wald heraus und bis über die Baumgrenze. Und auch da gibt es schon eine beachtliche Aussicht. Aber die viel besseren Plätze darüber – die mit der grandiosen Rundumsicht – die bleiben anderen vorbehalten.“

Hinter mir höre ich nun Stimmen. Ich drehe mich um: Ein Paar steht am Wegweiser und versucht lautstark, sich auf eine Richtung zu einigen. Schließlich nehmen sie gemeinsam den Weg bergab. Wie mag es wohl auf ihrem Lebensweg sein: Steigen sie da gemeinsam bergan, oder werfen sie sich eher gegenseitig Knüppel zwischen die Beine? Die Antwort liegt eigentlich auf der Hand.

Und wie sieht es bei mir aus? Fast täglich finde ich mich an einem anderen Ort und an einer anderen Aufgabe wieder. Ich bekomme das einfach so vorgesetzt. Aber insgesamt führt das – so mein Gefühl – schon einigermaßen bergan. Und damit bin ich absolut einverstanden. Mein eigener Teil daran ist die Aufgabe, mit dem göttlichen Plan, der dem zugrundeliegt, wirklich Schritt zu halten und mich nicht auszuklinken.

Jesus sitzt noch da. Er hat mich denken lassen. Dann fragt er: „Möchtest du wie Martina am Ende in das reale Leben eintauchen? Und dir damit einen guten Platz oben auf dem Berg sichern?“ Oh, auf die Frage bin ich nicht vorbereitet. Und im Moment habe ich keine Antwort darauf.

56. Prophetiegruppe zwei

Am nächsten Tag trifft sich wieder die Prophetiegruppe. Die Pfarrerin ist allerdings von anderen Angelegenheiten in Anspruch genommen. Und ein Mann ist auch nicht wiedergekommen. Aber die übrigen bisherigen Teilnehmer – auch Tobias und Sarah – sind wieder dabei. Wir sind jetzt zu sechst.

Zunächst berichte ich, was sich schon für Einsame tut. Die waren ja das Thema beim letzten Treffen. Für diese Menschen steht jetzt ein hilfreiches kostenloses Tablet in Aussicht. Und das heißt: Die Hilfe für Einsame ist bereits auf einem hervorragenden Weg.

Dabei erkläre ich kurz die geplanten Funktionen des Tablet: Damit sollen Einsame mit Einsamen Kontakt auf nehmen können. Und damit soll man auch Tipps von Gott erhalten können. Dafür soll eine „Gottes-App“ entwickelt werden. So bezeichne ich die App einfach. Und diese App soll sogar für alle Menschen zugänglich sein. Da kommt nun lebhaftes Interesse auf mit vielen wissbegierigen Nachfragen. Und bis die gerade geweckte Neugier wieder abklingt, braucht es einige Zeit.

Schließlich kann ich fragen: „Da die Hilfe für Einsame schon auf dem Weg ist: Sollen wir uns da vielleicht heute mal dem Thema eines neuen Gottesdienstes zuwenden?“ Beim letzten Treffen hatte ja Tobias ein fast überschwängliches inneres Gottesdiensterlebnis. Und die Pfarrerin schlug daraufhin vor, sich vielleicht auch um eine neue Gestalt von Gottesdiensten zu kümmern.

Sofort kommt ein zustimmendes Echo aus der Gruppe: „Das ist eine gute Idee!“, „Ich wünsche mir das auch!“ oder ganz schlicht „Oh ja!“

Ich schlage also dieses Thema für heute vor. Und damit steht die Frage im Raum: Wie könnte denn ein neuer Gottesdienst aussehen? Wie könnte er sich anhören und anfühlen?

Sofort sind erste Reaktionen da: „Viel Musik muss dabei sein!“, „Keine lange Predigt!“, „Mehr Gemeinschaft!“ Mich freut das eifrige Mitdenken. Doch zunächst müssen wir noch ein kleines Stück zurücktreten. Denn wir sind schon beim zweiten Schritt. Der erste ist, Gott zu fragen: Sollen wir heute dieses Thema wirklich angehen? Ist das sein Plan?

Alle sind einverstanden, diese Frage zum Inhalt einer ersten Stille zu machen. Zugleich geht es auch wieder darum: Mit Gebet das Gemeinschaftsgefühl und die Arbeitsfähigkeit zu stärken. Die zweite und entscheidende Stille danach soll ja möglichst fruchtbar werden.

Ich leite die erste Stille an und gebe anregende Impulse hinein. Und das Ergebnis ist wie erhofft: Fünf Teilnehmer gehen in die Stille hinein. Und vier sehen es am Ende als heutige Aufgabe der Gruppe an, sich für eine neue Gottesdienstform gute göttliche Eingebungen schenken zu lassen.

Martina übernimmt nun die Leitung der zweiten Stille. Jetzt wird es ernst. Und jetzt sind praktische Ideen und Konzepte gefragt. Das Ziel sind gut umsetzbare Anstöße. Und Martina gibt kleine gedankliche Impulse mit: „Gott zeigt dir etwas“, „Gott lässt dich etwas sehen, hören oder fühlen“, „Gott gibt dir eine Idee.“

Dann sind zehn Minuten um. Und nun wird es spannend. Martina fragt: „Wie ist es euch ergangen? Was bringt ihr aus der Stille mit?“ Und sie fügt hinzu: „Probiert mal, euer inneres Erlebnis knapp zusammenzufassen und auf den Punkt zu bringen.“

Eine Frau aus der Gemeinde macht den Anfang: Sie hat innerlich die Pfarrerin und einen Mann gehört. Die haben ab und an kurze Sätze in eine Kirche hineingerufen. Und es kam mal ein hohes und mal ein tiefes Echo zurück. Das hörte sich interessant und zugleich erfolgreich an.

Eine andere Frau aus der Gemeinde beschäftigte eine Idee: Irgendwie müsste man im Gottesdienst mehr von anderen Gottesdienstbesuchern erfahren. Und zwar mehr, als nur die Stimme der Sitznachbarn.

Tobias hörte auch dieses Mal wieder Musik: Nur jetzt fing sie traurig an und steigerte sich mit der Zeit zu freudigstem Jubel.

Sarah sah Jesus: Er ging durch die Kirchenreihen. Er hatte gute Worte für die Menschen, drückte ihnen etwas in die Hand und segnete sie.

Und ich? Ich erlebte warmes göttliches Licht über der Gemeinde. Und ein großes göttliches Lächeln.

Am Ende lässt sich dem Erlebten aber leider kaum Konkretes für neue Gottesdienste abgewinnen. Martina kann nur ganz roh daraus ableiten: Es sollte kurze interessante Wortbeiträge geben. Ebenso Musik mit deutlicher Dynamik. Sowie irgendwie mehr Kontakt unter den Teilnehmern. Aber immerhin waren Jesus und Gott engagiert dabei.

Auch für mich ist fast alles vage geblieben. Ich frage die anderen: Wie viel gibt ihnen denn das, was auf den Tisch gekommen ist? Aber auch für sie war wenig Greifbares dabei.

Nun kommt es noch zu einem lebhaften Austausch zwischen Tobias und den beiden Frauen aus der Gemeinde. Enttäuschungen und Wünsche kommen hoch und gehen hin und her. Immerhin erlebten die drei schon gelegentlich mal beglückende gottesdienstliche Höhepunkte. Aber die führen hier kaum weiter.

Da drängt sich schließlich die Frage auf: Bringt es eigentlich wesentlich mehr, wenn wir ein weiteres Mal tagen? Auch wenn es alle enttäuscht: Wir ringen uns nun dazu durch, die Gruppe einzustellen. Zumindest vorübergehend. Das Ergebnis ist einfach zu mager.

Aber eins können wir immerhin noch zum Schluss: Wir können einladen! Und zwar zum Team, das sich um die Gottes-App kümmern will. Wer sich dazu berufen fühlt, ist hochwillkommen. Und dabei kann man auch die Tipps genauer kennenlernen, die mal in Welt gehen sollen. Zudem steht da auch nur leicht Handhabbares auf der Tagesordnung: Es wird ausschließlich um bestmögliche Worte und Sätze gerungen werden, die Gott bedürftigen Menschen auf den Weg geben kann.

57. Musikerin mit Perspektive

Auf einem geräumigen Bahnsteig finde ich mich wieder. Jesus steht neben mir. Ich frage ihn: „Und was gibt es hier für mich?“ Er meint: „Lass dich überraschen. Warte hier!“ Und damit ist er schon wieder fort. Jesus ist aber heute sehr kurz angebunden!

Ich habe einigen Abstand vom Gleis. Vor mir stehen Leute teils mit Gepäck und teils ohne herum. Es ist offensichtlich: Sie erwarten in allernächster Zeit einen Zug. Und ich harre nun mit ihnen der Dinge, die da kommen sollen. Die Leute wissen allerdings, worauf sie warten. Ich dagegen weiß es nicht.

Gemeinsames Warten geschieht in merkwürdiger Atmosphäre. Man ist mit vielen Menschen vereint. Aber nicht etwa zu gemeinsamem Tun, sondern zu gemeinsamem Nichtstun. Man steht zusammen, hält aber sorgfältig Abstand voneinander. Man ist sich gegenseitig fremd und will es bleiben. Und auf gelegentliche Annäherung reagiert man ziemlich kühl.

Während des Wartens drängt sich mir ein heißer Gedanke auf, der nicht wieder weichen will: Mit dem nächsten Zug, so denkt es in mir, kommt vermutlich eine angenehme Überraschung auf mich zu! Und die Frage ist nur: Wird die Überraschung dann männlich oder weiblich sein? Jung oder alt? Eher kurzweilig oder langweilig?

Die Einfahrt des Zuges wird ausgerufen. Es kommt Bewegung in die bisher eingefrorene Szene. Die Leute gehen in Startstellung für die Sitzplatzsuche im Zug. Und in mir selbst steigt die Spannung: Wird sich der Zug für mich vielleicht als eine Art Wundertüte erweisen?

Dann ist es so weit: Der Zug hält, seine Türen öffnen sich, und Menschen platzen heraus. Einige hetzen sofort zu den nächsten Treppen. Nur wenige schauen sich suchend um. Und bevor ich selbst fündig werde, hat mich schon eine Frau entdeckt. Als ich auf sie aufmerksam werde, kommt sie bereits zielstrebig auf mich zu.

Ich habe die Frau noch nie gesehen. Aber sie begrüßt sie mich ganz fröhlich mit: „Hallo, da bin ich!“ Irritiert trete ich einen Schritt zurück. Ich erwidere: „Ich kenne Sie aber nicht.“ Ihre Antwort: „Das können Sie auch nicht.“ Und dann erzählt sie mir, wie und warum sie hierher gekommen ist.

Ihr ist Jesus im Traum erschienen. Und er hat ihr gesagt, dass sie mit einem bestimmten Zug genau bis hier zur Station fahren soll. Und dann hat die Frau mich im Traum auch noch als Person gesehen. Ich berichte ihr daraufhin, dass mich Jesus hier platziert hat. Und nun stehen wir beide äußert verwundert voreinander.

Mir ist neu, dass ein Mensch einen so deutlichen Jesustraum haben kann. Und dass sich danach dieser Mensch vertrauensvoll in einen angewiesenen Zug setzt und ins Blaue hinein einer Begegnung entgegenfährt, die ihm verheißen ist.

Schnell sind wir uns einig, dass für uns jetzt die Cafeteria im Bahnhof der richtige Ort ist. Da wollen wir dem Sinn und Ziel unseres Zusammentreffens auf den Grund gehen.

Und dort erfahre ich: Die Frau wird häufig als Sängerin oder Flötistin gebucht. Auch von Kirchengemeinden. Und ich berichte meinerseits, dass ich auch gerade für eine Kirchengemeinde tätig bin. Da könnte sich ja nun irgendetwas überschneiden und gut zueinander passen.

Allerdings spielte Musik bisher keinerlei Rolle in den beiden Gruppen, die Martina und ich geleitet haben. Was ist dann das Verbindende? Da fällt mir plötzlich Tobias ein: Er hat doch innerlich spannende Musik in einem Gottesdienst erlebt – gerade jetzt erst in der letzten Prophetiegruppe.

Das könnte es doch sein! Ich lerne gerade eine Frau kennen, die vielleicht zu einer neuen Gottesdienstform beitragen kann. Sofort gebe ich diesen Gedanken an mein Gegenüber weiter. Und die Frau horcht sichtbar auf. Fast wirkt sie schon aufgeregt. Neue Formen geistern ihr bereits länger im Kopf herum!

Doch die Prophetiegruppe ist vorerst eingestellt. Aber das muss ja nicht das letzte Wort sein, vielleicht ergibt sich anderes. Im Moment kann ich damit der Frau nur das Versprechen geben: Ich werde sofort an sie denken, wenn sich irgendwo musikalischer Bedarf auftut. Aber das genügt ihr schon. Für sie hat sich die Fahrt damit bereits gelohnt.

Zum Schluss fragt sie mich nach meinem Namen. Als ich nur „Arno“ sage, einigen wir uns schnell auf das gegenseitige Du. Und ich erfahre: Sie heißt Lea. Sie gibt mir ihre Karte, und ich ihr Jos Telefonnummer samt kleiner Erklärung. Und damit verabschieden wir uns herzlich voneinander.

Kurz danach tauche ich bei Jo auf. Ich berichte ihm von diesem Treffen und den neuen Perspektiven. Und er freut sich zutiefst. Die Richtung gefällt ihm ungemein! Auch wenn die Prophetiegruppe eingestellt ist, wird es auf der Gottesdienstebene schon noch irgendwie weitergehen.

Er selbst hat inzwischen darüber nachgedacht, wie der Unternehmer bei Tablet und App Unterstützung bekommt. Er hat deshalb schon mit Hannah gesprochen. Und die ist bereit, bei einem prophetischen Team mitzumachen. Sie will gern an Tipps mitarbeiten, die bedürftigen Menschen auf die Sprünge helfen sollen.

Jo geht davon aus, dass auch wir uns an dem Team beteiligen werden. Und die Pfarrerin hat bereits ebenfalls zugesagt. Zumindest hat sie schon übermorgen eine Stunde Zeit, um wenigstens am Anfang dabei zu sein. Jo rechnet nun fest damit, dass damit auch gleich der Startschuss für das prophetische Team fällt.

Und dieses Mal will Jo sogar selber teilnehmen. Seiner Seite im Internet sind tausend Tipps unterlegt, aus denen Gott auswählen kann. Und diese Tipps will Jo mitbringen.

58. Team für Tipps

Am übernächsten Tag bin ich früh in dem Gemeinderaum, wo das neue Arbeitsfeld angegangen werden soll. Nach mir treffen die zwei Frauen aus der Gemeinde ein, die zuletzt auch in der Prophetiegruppe waren. Sie sind wirklich engagiert! Und ebenso kommen Jo, Martina, Hannah und Tobias. Es ist überraschend gelungen, auf die Schnelle viele Teilnehmer zu mobilisieren.

Wir warten nur noch auf die Pfarrerin. In der Zwischenzeit kommen wir mit Jo noch einmal auf die Ergebnisse der Prophetiegruppe zu sprechen. Mit ihnen lässt sich ja leider auf der praktischen Ebene wenig anfangen. Und da stimmt uns nun das vorläufige Ende der Gruppe nicht sonderlich traurig.

Da hat Jo spontan eine Idee: Vielleicht ist es ja besser, mal mit weniger Leuten, aber intensiver das Thema anzugehen. Wir könnten uns doch zu viert zusammensetzen: Die Pfarrerin, Jo, Martina und ich. Ich bin nun gleich dafür. Und Martina stimmt auch zu und meint: „Einfach mal ausprobieren!“

Schließlich trifft die Pfarrerin ein. Nun sind wir zu acht. Und Jo zeigt sich gut vorbereitet: Er hat die zu überprüfenden Tipps ausgedruckt mitgebracht. Und mögliche Änderungen und Ergänzungen können sofort auf einem Laptop festgehalten werden. Dann kann es ja losgehen!

Die Pfarrerin übergibt die Leitung an Jo. Jo freut sich über das rege Kommen und dankt sehr dafür. Dann äußert er sich zuerst grundsätzlich zum Vorhaben.

Jo beginnt mit der allgemeinen Situation: Der Raum, den die Technik inzwischen im täglichen Leben einnimmt, wird immer größer. Die ersten Kinder wachsen mit Robotern als Spielgefährten heran. Und die geistige Welt der Menschen ist von Medien durchtränkt, die ständig um neue Aufmerksamkeit buhlen.

„Wo kommt Gott da noch vor?“ fragt Jo. Und er meint: Gott ist noch bei Veranstaltungen zu finden, zu denen man sich extra hinbegeben muss: Bei Gottesdiensten etwa. Oder man muss in den Medien gezielt nach Gott suchen. Aber sonst? Dabei möchte Gott gern in dieser Welt präsenter sein – so sieht es Jo jedenfalls.

Und Jo weiter: Mit einer App, die Menschen mitten am Tag an Gott erinnert, kann wenigstens ein bisschen Aufmerksamkeit auf Gott gelenkt werden. Gott wünscht sich das unbedingt! Und das perfekte Gerät dafür ist das Smartphone, das fast jeder Mensch bei sich trägt. Darüber kann nun auch jeder einen Satz erhalten, den Gott schickt. Und heute ist nun das Ziel, beeindruckende Sätze zu finden, die Gott dabei zu einer unüberhörbaren Stimme verhelfen.

Als Jo fertig ist, kommen Nachfragen zu Einzelheiten der Gottes-App. Und Jo muss – unter Mithilfe von uns – einiges zu ihrer Funktionsweise und zum Losverfahren sagen. Auch die Produktion der App kommt zur Sprache. Und schließlich ist Jo bei dem Unternehmer, der nun die Sätze für die App braucht und ihre praxistaugliche Aufbereitung durch das Team hier erwartet.

Damit ist Jo nun bei den Tipps, die er mitgebracht hat. Und er verteilt jetzt viel Papier: Es sind die tausend Sätze, die er mal fast allein für das Internet entwickelt und da ausprobiert hat. Er schlägt nun für die gemeinsame Arbeit vor, sich jeden Satz vorzunehmen und dabei innerlich zu horchen: Will Gott diesen Satz als Tipp in der neuen App haben? Und was dann von Gott her keinen Sinn macht, wird ausgesiebt. Was Gott dagegen genehmigt, wird festgehalten. Und was Gott noch zusätzlich eingibt, wird hinzugefügt.

Nun wird unter allgemeinem Geraschel in den Papieren geblättert und gelesen. Einzelne Sätze rufen spontanes Nicken hervor. Bei anderen dagegen kraust sich eher die Stirn. Und hier und da bespricht man schon einen Satz mit Nebenleuten. Dabei kommt zunehmend die Lust auf, sich an die Arbeit zu machen.

Jo nun: „Ich habe auch noch ein paar Leitlinien.“ Und er meint, die Sätze sollten im Prinzip folgende Inhalte dem Empfänger übermitteln:

Wer Gott ist und wie er sich verhält.

Was Gott für den Empfänger tut, was er schenkt oder verspricht.

Was Gott vom Empfänger verlangt oder sich wünscht.

Was Gott dem Empfänger zu bedenken gibt.

Damit ist Jo am Ende. Alles Weitere überträgt er nun Martina und mir. Er sei als Urheber der vorgelegten Sätze und Tipps befangen und möchte nicht über sie befinden. Er verabschiedet sich, und die Pfarrerin schließt sich ihm an.

Zunächst gehen wir nun – wie schon gewohnt – in die Stille. Wir möchten von Gottes Geist angeregt und gelenkt werden.

Dann geht es an die Arbeit. Dabei nehmen wir als Richtlinie: Wenn mindestens vier von uns sechsen einen Tipp als gottgefällig und gottgewollt ansehen, wird er genehmigt. Und falls sich bei der Arbeit spontan ein ganz neuer Tipp einstellt und der Mehrheit gefällt, wird er gleich mit festgehalten.

Nach gut drei Stunden lässt die Konzentration nach, und wir beenden höchst zufrieden und in ganz aufgeräumter Stimmung die Veranstaltung. Es wirkt offenbar innerlich erhebend, sich mit göttlichen Tipps zu befassen.

Zudem haben wir es geschafft, schon über etwa 120 Sätze abzustimmen. Und zusätzlich haben sich auch gleich noch ein paar neue Tipps eingestellt.

59. Quicklebendige zukünftige Gottesfeier

Wir sind wieder bei Jo in der gewohnten Atmosphäre. Und wir bringen ihm die gute Nachricht mit: Die Bearbeitung der Tipps geht mit großen Schritten voran. Wir sind richtig froh und mit ganzem Herzen dabei.

Jo seinerseits hat schon die Pfarrerin auf ein kleines Extratreffen zu viert angesprochen. So wie wir es angedacht haben, damit das Thema Gottesdienst neuen Schub erhält. Die Pfarrerin war sehr aufgeschlossen. Bereits in vier Tagen will sie Zeit dafür haben. Und sie bat Jo, doch möglichst schon kreativ vorzudenken.

Jo schlägt nun vor, gleich damit anzufangen. Dann kann sich bis zu dem Termin mit der Pfarrerin noch einiges setzen. Er fragt zwar erst einmal, ob wir dazu Lust haben. Aber eigentlich müsste er wissen: Die haben wir! Und wir sind auch wirklich gleich mit Eifer dabei, damit es zügig vorangeht. Ein berauschender neuer Gottesdienst ist ein absolut großartiges und hinreißendes Ziel.

Als Einstieg fragt uns Jo: „Wie war denn damals der Fernsehgottesdienst? Ihr wart doch dabei. Fehlte euch etwas?“ Ich erinnere mich noch gut: Die Pfarrerin predigte furios. Was sie von sich gab, war ein Ohrenschmaus. Und sie überzeugte auch als Person. Man spürte einfach ihre Begeisterung und Gottesnähe.

Und trotzdem: Mir fehlten Impulse hin zu eigener Gottesnähe. Also zu meiner ganz persönlichen Verdrahtung mit Gott im Gottesdienst. Damals musste ich das hinterher allein angehen – zum Glück mit Erfolg. Und für Jo fasse ich diese Erfahrung nun so zusammen: „Der Gottesdienst war für mich ein Fest – aber auch Enttäuschung zugleich.“

Jo dazu: „Du suchst Gottesnähe – ja, ich weiß. Und Gott spricht auch direkt zu dir. Du brauchst dafür wirklich keine Pfarrerin als Mittelsfrau. Und auch viele andere Menschen können Gott direkt erleben: Sie können seine Gegenwart körperlich spüren. Oder sie können seine Hand darin erkennen, dass ihnen ein aufbauender Gedanke, eine hilfreiche Idee oder eine wunderbare Eingebung kommt.“

Jo überlegt einen Moment und meint dann: „Das Entscheidende ist dann aber immer dabei: Die Menschen müssen zugleich besondere Freude, Ermutigung, Stärkung, Tröstung, Befreiung erleben – richtig?“ Jo trifft es.

Martina wirft nun ein: „Das muss man aber den Leuten schon vorher nahebringen, dass Gott sie im Gottesdienst berühren kann. Und dass er ihnen da direkt begegnen möchte. Da müssen erst einmal Wünsche und Erwartungen geweckt werden.“ Sie hat recht.

Und ich denke gleich praktisch weiter: „Dafür müssen die Menschen auch ihre Alltagsprobleme mitbringen. Da drückt sie doch der Schuh! Wenn Gott ihnen diesen Schuh weitet oder gleich zwei Nummern größer verpasst, dann brauchen sie danach nicht mehr lahm herumzuschleichen, sondern können durch ihren Alltag hüpfen.“

Da lacht Jo: „Du hüpfst aber auch gerade – nein, stürmst mit Riesenschritten voran!“ Denn Jo möchte erst noch ein paar Takte zu herkömmlichen Gottesdiensten loswerden.

Und wie sieht Jo herkömmliche Gottesdienste?

Bevor Jo etwas sagt, steht er erst einmal auf. Es ist, als halte es ihn nicht auf seinem Platz. Er geht ans Fenster und schaut hinaus. Fasst sich mit der Hand ans Kinn. Denkt. Dann dreht er sich um und spricht von dort aus:

„Meist sind Gottesdienste eine moralische Veranstaltung: In der Predigt wird gottgefälliger Lebenswandel angemahnt. Oder sie sind eine Lehrveranstaltung: Man bekommt theologisches Wissen eingetrichtert, ein bisschen heruntergebrochen auf Alltagserfahrungen und Alltagsprobleme.“

Jo hält inne, dann geht er zu Jesus über: „Damals hat Jesus zwar auch schon so gepredigt. Aber: Die Heilungen von Jesus unterstrichen, dass ihm direkt göttliche Vollmacht gegeben war. In ihm begegnete man unmittelbar Gott. Deshalb hatte Jesus eine umwerfende Ausstrahlung. Seine Liebeskraft brach geradezu die Herzen auf. Seine Gegenwart krempelte bei vielen Denken und Fühlen um. Sie gab ihren Wünschen und ihrem Willen eine ganz neue Richtung.“

Und nun kehrt Jo wieder zu den heutigen Gottesdiensten zurück: Seiner Meinung nach sind sie weithin darauf ausgerichtet, als Wellness-Oasen genutzt zu werden. Sie funktionieren dabei zugleich ein bisschen nach dem Prinzip: Wasch mir den Pelz – besonders in der Predigt –, aber mach mich nicht allzu nass.

Doch Gottesdienste sollten nicht nur moralisch oder intellektuell anregend sein. Und sie sollten auch nicht vorrangig auf Wohlgefühl zielen. Nein, sie sollten direkte Begegnung mit Gott sein! Und dann dürfen sie auch aufregen und provozieren, meint Jo. Und wären Gottesdienste in diesem Sinne fordernder und lebendiger, wären sie auch für viele Menschen auch attraktiver. Menschen lieben es durchaus, mal von den Sitzen gerissen zu werden.

Aber was reißt denn von den Sitzen?

Wir gucken Jo gespannt an: Was könnte es sein? Jo schaut uns lächelnd und provokant an. Dann sagt er: „Gottes Gegenwart reißt uns von den Sitzen. Wenn wir seine Gegenwart spüren, ist das einfach innerlich erhebend! Und vielleicht ist es sogar auch mal äußerlich hochreißend!“

Wir darauf: Und wie ist hinzukriegen, dass es so kommt? Jo: „Das ist nun aber eine allzu menschliche Frage. Zuallererst ist eine andere Frage dran!“

Jo macht einen kleine Kunstpause. Und dann: „Die vorrangige Frage ist: Was wünscht sich Gott? Welche Bedingungen stellt er selbst erst einmal an Gottesdienste?“ Oh, ein entscheidender Perspektivwechsel!

Jo setzt sich nun wieder zu uns. Und Martina versucht eine Antwort darauf, was Gott sich wünscht: „Gott möchte sicherlich im Gottesdienst offene Herzen sehen.“ Dem stimmt Jo gern zu. Doch dann erweitert er die Perspektive und meint: „Ein Gottesdienst muss erst einmal für Gott selbst attraktiv und provokativ sein. Also Gott selbst muss ihn äußerst anziehend finden. Und Gott muss sich von ihm geradezu herausgefordert fühlen. Das heißt: Der Gottesdienst muss ihn ungemein reizen, den Menschen seine ganze Liebe zu zeigen und zu offenbaren.“

Und Jo nun: „Überlegt mal bitte, was Gott in einen Gottesdienst locken kann. Im Bewusstsein vieler Menschen befindet sich Gott so weitab im Jenseits, dass er für sie eigentlich schon im Abseits ist. Und was kann Gott nun aus dieser Ferne so weit heranlocken, dass ihn die Menschen unausweichlich im Diesseits erleben?“

Was also kann Gott so provozieren?

Wir kommen darauf: Menschen in Not ziehen Gott mit großer Sicherheit an – wenn sie direkt im Gottesdienst Hilfe von ihm erwarten. Ebenso Menschen, die dringend ein wirklich lebenswertes Lebensziel suchen und es unbedingt gezeigt bekommen möchten. Oder Menschen, die absolut bereit sind, sich ganz dem Willen Gottes unterzuordnen in ihren nächsten Lebensschritten. Vor allem aber ist eine Haltung tiefer Demut eine hervorragende Voraussetzung. „Denn solche Demut“, erlaubt sich Jo verschmitzt lächelnd zu bemerken, „zieht Gott etwa so an wie ein kleiner Honigtopf den großen Bären.“

Aus dieser Perspektive einen Gottesdienst zu betrachten, ist für uns wie eine kleine Erleuchtung.

Und das heißt dann ja wohl auch: Gottesdienste langweilen Gott, in denen die Menschen nur ein bisschen fromm überpudert werden möchten. Da begibt er sich gar nicht erst hin, sondern lässt seine menschlichen Stellvertreter ein paar Segenstropfen verspritzen.

So viel nun erst einmal zu Gottes Perspektive.

Und wie sieht es auf Seiten der Menschen aus?

Was kann da so attraktiv und provokativ wirken, dass es sie ihrerseits in einen Gottesdienst lockt? Wir tragen ein paar Gesichtspunkte zusammen. Und dabei kommen wir auf drei Gruppen von Menschen mit unterschiedlichen Anliegen:

Eine erste Gruppe hat dringende Bedürfnisse und drängende Wünsche. Die können sie in einen Gottesdienst treiben. Und zwar dann, wenn die Menschen erwarten dürfen, dass ihnen dort deutliche Erleichterung oder vielleicht sogar Erfüllung winkt.

Eine andere Gruppe von Menschen weiß gar nicht, was sie eigentlich braucht oder was sie sich wünschen sollte. Bei diesen Menschen zeigt nur ein allgemeines oder auch tieferes Unbehagen an, dass bei ihnen etwas aus dem Ruder läuft. Und dass eine Kurskorrektur mehr oder minder dringend nötig ist. Und wenn dann ein Gottesdienst da weiterzuhelfen verspricht, ist ein Teil von ihnen wohl gern dabei.

Eine dritte Gruppe sucht bewusst und gezielt das Erlebnis der Nähe Gottes. Und das ist erheblich mehr, als übliche Events bieten können. Diese Menschen möchten dem normalen Dasein zeitweise entkommen, daraus emporgehoben werden und Gottes gewaltiger und überirdischer Liebe begegnen. Sie suchen das manchmal geradezu umwerfende Glück solcher Begegnung.

Als wir bis hierher gekommen sind, meint Jo: „So, damit haben wir nun gefunden, was man so gemeinhin Zielgruppen nennt. Und jetzt kann es direkt zur Sache gehen: Wie kann ein neuer Gottesdienst denn aussehen? Und womit fangen wir dabei an?“ Ich schlage vor: „Wir beginnen mit seinem Beginn!“

Und Jo hat nun Spezielles zum Beginn:

„Bei wichtigen Gebäuden und Veranstaltungen gibt es meist Vorräume und Empfangshallen. Da kann man sich seelisch vorbereiten auf das, was kommt. So etwas sollte es auch beim Gottesdienst geben – also im übertragenen Sinn.“

Und dann lacht Jo: „Zu Empfangshallen fällt mir ein: In einer Stadt haben sie im Mittelalter vor ihren Dom eine kleine Empfangshalle gebaut. Ein Prachtstück! Diese Halle haben sie Paradies genannt. Und durch dieses Paradies ging es dann in den Dom. Der Clou daran ist: Die Straße, die direkt auf das Paradies zuführt, haben sie zugleich Fegefeuer getauft. So heißt die Straße noch heute. Denn nach den Vorstellungen von damals konnte man nur durch ein schmerzhaft reinigendes Feuer in Gottes paradiesische Herrlichkeit gelangen.“

Wir staunen. Aber was sagt uns das nun für unseren Gottesdienst? Jo meint: „Alles aus der Außenwelt, das belastet, sollte möglichst außen vor bleiben. Insbesondere lästige Gedanken und hinderliche Gefühle.“

Konkret heißt das dann: Am Anfang eines neuen Gottesdienstes sollte eine besondere Besinnungszeit stehen. Und in der sollte möglichst viel Störendes beseitigt werden und von den Teilnehmern abfallen.

Für diese Besinnungszeit können wir nun – das bietet sich einfach an – auf unsere Erfahrungen in den Gruppen zurückgreifen. Dort gehen wir ja auch immer zuerst in eine Stille zwecks Besinnung. Und diese Stille hilft tatsächlich, sich zu sortieren und etwas tiefer bei sich selbst und auch bei Gott anzukommen.

Ist solche Stille nun aber wirklich eine gute Idee für einen Gottesdienst? Jo meint: Im Prinzip ja. Allerdings werden bei totaler Stille viele Leute unruhig. Besser ist da erst einmal eine Einleitung mit einem schlichtes Lied. Das kann ergreifen und zu innerer Sammlung hinführen. Und Jo schlägt vor, dann die weitere Zeit nach dem Eingangslied mit meist leisen und andächtigen, aber hin und wieder auch anregenden Tönen zu unterlegen.

In dieser Zeit ist nun Raum, gezielter in sich hineinzuspüren mit Fragen wie: Wo stehe ich? Was brauche ich gerade von Gott? Ohne Anleitung geht da allerdings wohl wenig. Die Menschen wollen und müssen zunächst ein wenig an die Hand genommen werden. Darauf hat Martina ja bereits hingewiesen.

Und solche Besinnung braucht Zeit! Denn das innere Befinden und die aktuellen Wünsche zu erspüren, das geht nicht hopplahopp. Es sollen sich ja auch Gedanken, Gefühle, Wünsche und Bedürfnisse regen können, die bisher verdeckelt waren.

Wenn sich dabei dann ein Anliegen unausweichlich bemerkbar macht, kann man es gleich Gott vortragen. Das ist ein elementarer Punkt! Denn so baut sich eine Erwartungshaltung auf. Sie fördert die Aufmerksamkeit während des weiteren Gottesdienstes. Und sie lässt bewusst oder unbewusst Ausschau halten: Wird das persönliche Anliegen nun in irgendeiner Weise von Gott wahrgenommen? Geht Gott darauf ein? Und geht es damit voran?

„Das ist doch schon mal ein respektabler Anfang!“ meint Jo nun ganz zufrieden. Aber wie geht es weiter? Jo jedenfalls möchte erst einmal den Gottesdienst umbenennen: Nämlich in Gottesfeier – zumindest für uns jetzt. Und das gefällt uns. Denn ein Dienst ist etwas Ernsthaftes mit einer gewissen Schwere. Eine Feier dagegen hat eher etwas Beschwingtes, Fröhliches und Leichtes. Bei einer Gottesfeier feiert man den gewaltigen und grandiosen Gott! Und am Ende dieser Feier sollte man möglichst freudig und innerlich erfüllt nach Hause gehen – so wie es auch sonst nach gelungener Feier geschieht.

Doch wie kann eine Gottesfeier organisatorisch und inhaltlich aussehen?

Wir kommen dahin: Beim ersten Teil der Feier sollte Gottes Wesen und Tun im Mittelpunkt stehen. Gottes grandiose Großzügkeit wird dann etwa in höchsten Tönen gelobt und gewürdigt. Und auch seine Geschenke werden aufgezählt, mit denen er immer wieder liebevoll Menschen bedenkt. Bei einem normalen Fest, bei dem ein Mensch gefeiert wird, steht dieser Mensch anfangs ähnlich im Mittelpunkt.

Unbedingt bemerkenswert ist daran: Preist man zunächst Gottes Großzügigkeit und seine Geschenke, weckt das untergründige Erwartung. Man hält es nun gut für möglich, dass sich Gott auch während der Feier spendabel und liebevoll verhält. Und das öffnet die Seele für neue Geschenke von ihm, die er womöglich im zweiten Teil der Feier verteilt. Jo weist ausdrücklich darauf hin.

Und damit sind wir bei diesem zweiten Teil der Feier. Jo fragt uns: „Und was geschieht nun?“ Für uns ist ganz klar: Jetzt rücken die Anliegen der Menschen in den Vordergrund! Und ich formuliere es so: „Die Menschen haben schon länger gewartet. Jetzt sind sie dran!“

Jo lächelt: „Langsam! Bei einer normalen Feier werden dem gefeierten Menschen erst einmal Urkunden oder Medaillen überreicht. Oder ein Hochzeitspaar erhält jetzt Gastgeschenke.“ Hm, das gefällt uns jetzt aber gar nicht! Wo bleiben dann die Wünsche der Menschen, die ihnen in der Besinnungszeit am Anfang bewusst geworden sind?

Doch Jo löst unser Dilemma ganz schnell auf und erklärt: Gott ist anders als Menschen! Denn er möchte nur ganz spezielle Geschenke. Und die nimmt er dann äußerst gern an. Zum Beispiel möchte er, dass Menschen ihn mit ihrer Not beschenken. Oder mit ihrer Hilflosigkeit. Oder mit ihren Ängsten. Oder mit sonstigen Wünschen und Bedürfnissen. Das ist nun eine wahrlich überraschende Sicht von Jo!

Und Jo geht noch weiter: Dabei ist Gott manchmal sogar überaus anspruchsvoll und fast schon besitzergreifend: Denn von einigen Menschen möchte er sogar ein Stück ihres Lebens geschenkt bekommen! Und das heißt: Sie sollen sich bereit erklären, ziemlich weitgehend seinen Vorstellungen von ihrer Lebensgestaltung zu folgen.

Ich kann es mir nicht verkneifen, nun mit eher gespielter Empörung zu sagen: „Eine Art Selbstverschenkung im Rahmen einer Feier?“ Jo kontert: „Die, die es zu solch einer Feier zieht, wissen in der Regel, was für Geschenke Gott Freude machen. Und manche bringen da auch gern Großartiges mit – also ein Stück ihrer Existenz. Sie wollen es unbedingt Gott weihen. Sie sind sozusagen absolut in Spendierlaune Gott gegenüber.“ Wir schmunzeln. Aber uns ist das ja nicht unbekannt: Wir selbst haben unsere Existenz ja auch schon ganz Gott unterstellt. Und das letztendlich richtig gern.

Doch es muss noch mehr geben. Und tatsächlich kommt jetzt etwas Elementares für Jo: Die Gegengabe! Denn hat man Gastgeschenke etwa bei einem Geburtstag oder einer Hochzeit mitgebracht, erwirbt man oft das Recht auf ein Gegengeschenk von dem gefeierten Menschen. Und das heißt dann etwa: Man wird an eine üppige Tafel gebeten. Oder man erhält etwas anderes äußerst Erfreuliches. Und Gott hält es meist ebenso, meint Jo, und erweist sich dabei nicht als knauserig.

Wer also Gott mit seinen dringenden Anliegen oder gar mit seiner Existenz beschenkt, erhält auch eine gute Gegengabe. Und die ist genau auf seine Person zugeschnitten. Das heißt: Wer Gott seine Not und Lebenslast übergibt, bekommt davon etwas abgenommen. Wer Gott mit speziellen Wünschen und Bedürfnissen beschenkt, erhält zumindest ein wenig Erfüllung. Und wer Gott ein Stück seiner gegenwärtigen oder kommenden Existenz weiht, tauscht bisheriges Leben gegen ein kostbareres und sinnvolleres Stück Zukunft ein.

Und Jo: „Das kann nun in Feierlaune bringen. Das kann gewaltig die Stimmung heben!“ Denn jetzt hält etwa innerer Frieden Einzug. Freude macht sich breit. Begeisterung greift um sich. Erfüllung beseelt. Und vielleicht wird sogar geradezu umwerfendes Glück erlebt.

Wenn es optimal läuft, kann dieser Teil der Gottesfeier – also der zweite Teil – zu einem geradezu berauschenden Erleben und Fest geraten.

„Und was kommt danach – also beim dritten Teil?“ fragt nun Jo. Martina schlägt vor: „Dank!“ Und Jo schließt sich ihr an: Ja, den Teil sollte Dank füllen. Bei einem menschlichen Fest bedankt man sich am Ende auch beim Gastgeber. Und das sollte hier gleichfalls so sein.

Allerdings sollte der Dank bei einer Gottesfeier, finden wir dann, schon aus einer etwas ausgiebigeren Würdigung und Anerkennung der göttlichen Schenkung bestehen. Das heißt etwa: Jeder teilnehmende Mensch sollte sich auf das besinnen, was er erhalten hat. Er sollte es möglichst noch einmal sehr bewusst Revue passieren lassen. Denn das festigt nach innen die Erinnerung an ein vielleicht überschwängliches Erlebnis. Und das festigt zugleich auch nach oben das Band zu Gott und das Vertrauen zu ihm.

Damit haben wir nun den Inhalt und Ablauf einer möglichen Gottesfeier skizziert.

Und wie sieht dann die weitere Ausgestaltung aus?

Jo schweigt erst einmal – hat er keine Idee? Ich schaue Martina an, und die grübelt offenbar gerade. Ich stehe auf, mache ein paar Schritte und hoffe, dass körperliche Bewegung mein Denken in Bewegung bringt. Und ich rufe fast schon aus drei Metern Entfernung: „Irgendwie muss die Übergabe der Geschenke doch eingeleitet und organisiert werden!“

Martina meint nun: „Da war was in der Prophetiegruppe!“ Und schon denkt sie stumm weiter.

Dann aber kommt von ihr fast triumphierend: „Sätze! Impulssätze!“

Martina ist fündig geworden. Sie erinnert sich: Da war doch eine Frau in einer Gruppe. Und die hörte innerlich, wie die Pfarrerin und ein Mann ab und an kurze Sätze in eine Kirche hineinriefen. Und ein eindrucksvolles Echo kam zurück.

„Solche Rufe können doch ausgesprochen belebend wirken“, meint jetzt Martina. „Sie können vielleicht sogar provokativ etwas anstoßen und in Bewegung bringen. Sie können zum Beispiel Nöte oder Wünsche in Erinnerung gerufen. Und die werden dann Gott als Geschenk überreicht.“ Oh, wir haben anscheinend eine Lösung! Und ich kann nun wieder an meinen Platz gehen und mich setzen.

Es ist wirklich eine glänzende Idee! Und wir kommen schnell überein: Ja, kurze Impulssätze sind hervorragend. Die werden bei einer Gottesfeier in Abständen in den Raum hinein geflüstert, gesprochen oder gerufen. Und in Ausnahmefällen können sie auch mal geschrien werden – wenn irgendwelche fatalen Sicherheiten unbedingt zu erschüttern sind. Sie sind wie Ansagen und Aufrufe. Und sie sollen auch genauso wirken.

Wie aber können solche Impulssätze dann aussehen und sich anhören?

Jetzt ist Jo wieder ganz dabei und denkt mit. Und er geht systematisch vor. Er fragt: „Wie könnten sich denn solche Sätze am Anfang der Feier anhören?“ Da soll ja das Wesen Gottes im Mittelpunkt stehen, also wie Gott ist und was er den Menschen schenkt. Und da soll Gott gewürdigt und gelobt werden.

Jo bemüht sich nun um ein Beispiel. Und ihm kommt jetzt als möglicher Impulssatz: „Was auch geschieht: Gott, du bist immer bei uns!“ Dieser Satz hebt hervor: Gott schenkt ganz zuverlässig Sicherheit.

Der Satz ist allerdings recht sachlich und nüchtern. Er wirkt leicht fade und auch etwas abgegriffen. Jo spürt das und überlegt länger. Dann kommen ihm die Worte: „Gott, du umhüllst uns mit einer lichten und dichten Wolke der Liebe.“ Dieser Satz strahlt nun Geborgenheit aus. Er kann unmittelbar auf das Gefühl wirken. Er hat etwas Feierliches. Und man kann auch allein schon die Worte genießen. Solch ein Satz ist ebenfalls eine gute Möglichkeit.

Beim zweiten Teil der Feier soll Gott mit menschlichen Anliegen beschenkt werden. Jo findet dazu schnell den Impulssatz: „Gott bittet dich jetzt: Übergib mir, was dich drückt.“ Und nach einer Weile kommt ihm hier auch noch etwas Einfühlsameres, Liebevolleres und Feierlicheres: „Ich, dein Gott, bin dir herzlich zugetan. Lass mich mittragen! Schenke mir ein Stück deiner Last.“ Oh, wir bewundern Jo.

Jetzt sind aber unbedingt wir dran! Beim dritten Teil der Feier geht es um den Dank an Gott, und ich suche nach einem passenden Satz dafür. Schließlich ist er da: „Du, Gott, verwandelst unsere Schwäche in Stärke!“ Jo findet ihn gut, fragt aber auch gleich, ob wir vielleicht noch eine poetischere Version dazu haben. Und es ist Martina, die nach etwas Bedenkzeit von sich gibt: „Du, Gott, nimmst uns das Zittern und erfüllst uns mit Kraft.“ Oh ja, der Satz ist mitreißender. Da schwingt sogar Jubel mit!

Die paar Sätze haben wir in erträglicher Zeit gefunden. Nur ist die Frage: Braucht man nicht eine große Auswahl, um für viele mögliche Situationen bei der Gottesfeier gerüstet zu sein? Aber wie kommt man an solche Sätze? Und gerade poetischere Sätze lassen sich nicht einfach aus dem Ärmel schütteln.

Wir haben nun die Idee: Man kann ja die Tipps der Gottes-App als verheißungsvollen Ausgangspunkt nehmen. Und die poliert und rüstet man dann poetisch auf. Und zugleich übernimmt man auch noch das Losverfahren der Gottes-App, um die Impulssätze für die Feier zu bestimmen.

Damit wird Gott weithin Herr der Gottesfeier!

Wir bringen ihn so ganz zentral ins Spiel. Das ist wunderbar: Denn Gott kennt die Anwesenden bei der Gottesfeier genau. Er weiß, wer gerade dringenden Bedarf hat. Und er kann nun genau den Impulssatz per Losverfahren herausgreifen, der diesen Bedarf am besten abdeckt und zugleich auch noch möglichst vielen anderen zugute kommt.

Gott bestimmt dann damit den Ablauf in entscheidender Weise. Und wenn das allen Anwesenden bewusst ist, erhöht das zusätzlich die Durchschlagskraft der Impulssätze.

Martina hat nun gleich noch eine wichtige Ergänzung: Es könnte doch auch ein übergreifendes Thema für die gesamte Gottesfeier geben! Und das wölbt sich dann wie ein großes Dach über alles.

Sie kann sich das Vorgehen dabei so vorstellen: Es gibt ein Kartenset mit möglichen Themen. Genau am Anfang der Gottesfeier wird ein Thema daraus ausgewählt. Und Martina sieht das schon vor sich: „Da wird eine Karte demonstrativ vor aller Augen gezogen. Und das ist dann heiß: Das berührt gleich am Anfang alle! Denn dadurch wird klar: Gott selbst wünscht sich genau dieses Thema für die Gottesfeier! Und alles Weitere steht damit unter seiner Schirmherrschaft und Regie.“

Nun sind die Gegengeschenke Gottes dran!

Und das dürfte ein weiterer und ganz elementarer Punkt werden. Aber da verordnet uns Jo erst einmal eine etwas längere Denkpause. Wir sind bisher viel tiefer in das Thema eingestiegen, als wir eigentlich wollten. Aber irgendetwas treibt uns an und immer weiter. Das geht uns dreien so. Jo meint dazu: „Gottes Geist lässt nicht locker!“

Jo ist nun aber erst einmal nach einem Kaffee zumute. Und er fragt: „Für euch auch einen?“ Eigentlich verbinden wir Kaffee mit Cafébesuch. Und wir sind von Jo noch nie bewirtet worden. Aber warum nicht?

Während Jo verschwindet, gehen wir ans Fenster und halten Ausschau nach Sehenswertem. Erst gibt es nichts Auffälliges. Doch dann segelt etwas Großes majestätisch heran, geht vollendet in eine enge Kurve und landet mit kurzem Flügelschlag auf einer Wiese. Wir beide kennen uns in der Vogelwelt nicht so aus. Aber das ist offensichtlich ein Storch! Und den beobachten wir nun, wie er ganz langsam Schritt für Schritt durch die Wiese schreitet und mit seinem langen Schnabel mal hierhin und mal dahin stößt.

Dann kommt Jo und balanciert drei Becher Kaffee herein. Er bringt sie uns gleich ans Fenster. Und mit einem Becher in der Hand schauen wir dann gemeinsam dem Storch bei seiner immer wieder erfolgreichen Fahndung nach Fressbarem zu.

Irgendwann breitet der Storch erneut seine Flügel aus und macht einen Abflug. Wir merken nun: Unsere Becher sind inzwischen leer. Und Jo fragt: „Packen wir es wieder?“ „Ja!“

Jetzt geht es wirklich an Gottes Gegengeschenke. Und was kommt uns nun dazu?

Ich sage: „Es müsste etwas Aufbauendes sein.“ Martina findet: „Wenn Gott sich mit den Wünschen der Menschen beschenken lässt, dann sollte er aber auch selbst ein paar Wünsche frei haben!“ Und ich: „Da könnte ich mir doch gut vorstellen: Gott wünscht sich dann genau das, was auch Menschen gut tut und sie aufblühen lässt.“

Jo lächelt nun und fragt: „Bringen wir jetzt vielleicht hintenrum eine Predigt ins Spiel? Denn Predigten wollen auch aufbauend sein. Sie überbringen einerseits Gottes Wünsche – etwa in Form von Geboten. Und sie können andererseits Einsichten vermitteln, die zugleich Gottes Wünsche und das Wohlergehen von Menschen unter einen Hut bringen.“

Läuft das nun etwa auf eine Predigt bei der Gottesfeier hinaus? Oh, da sträubt sich aber sofort einiges bei mir! Und Martina und Jo geht es auch nicht anders. Wir drei kommen überein: Bloß keine zehn oder zwanzig Minuten Predigt am Stück! Denn drei oder fünf Sätze, die genau Wünsche oder wunde Punkte von Menschen treffen, können tiefer unter die Haut gehen als hundert Sätze.

Was aber dann? Wir kommen auf mehrere kleine Textblöcke. Die haben maximal sechs Sätze. Und die werden hier und da zwischen die Impulssätze gestreut. Gottes Wünsche können da in kompakter Form hineingepackt werden. Und ebenso passen da auch gut vorgekaute Einsichten und Erkenntnisse hinein, die Menschen weiterbringen können.

Da allerdings fragt Martina: „Nur Einsichten und Erkenntnisse? Knackige Geschichte könnten es doch auch sein! Etwa kleine Erlebnisse mit Gott.“ Und Jo: „Ja, gute Geschichten können manchmal mehr bewirken und helfen als kluge Worte. Warum also nicht?“

Und dann fügt Jo noch hinzu: „Auch die Bibel bietet gute Geschichten. Oder sie hat wunderbare Einsichten. Die sind unbedingt auch für eine Gottesfeier geeignet. Aber sie sollten ebenfalls immer kurz sein – also möglichst wenig mehr als sechs Sätze.“

Ist damit nun der Bereich Gegengeschenke abgehakt? Es sieht so aus. Der Stand der Dinge ist damit: In der Gottesfeier werden kleine gut schluck- und verdaubare Texthäppchen gereicht. Sie ersetzen die Predigt in der bisher üblichen Form. Und sie entsprechen in gewisser Weise dem Imbiss und den Speisen, die bei einer Feier serviert werden.

Zugleich wird uns klar: Wenn man dann Gott auch noch diese Häppchen per Losverfahren aussuchen lässt, dann ist er es, der damit im Wesentlichen den Predigtteil übernimmt. Und wie bei den Impulssätzen legt er dann erneut fest, wen er besonders ins Auge fassen und voranbringen will.

Mich beginnen nun die Pausen zwischen all den Texten zu interessieren. Und ich meine: „Die Gottesfeier soll ja durchaus provokativ sein – also in guter Weise. Und da muss genug Pause zwischen allen Impulssätzen und Texthäppchen sein. Die Pausen gehören unbedingt dazu! Dann kann man sich selbst zwischendurch den Puls fühlen etwa mit der Frage: Warum regt mich ein Text gerade auf? Was bringt mich daran in Wallung? Und da kann man dann auftauchenden Gefühlen und Gedanken nachhängen.“

Und Martina ergänzt nachdrücklich: „Und die Pausen sind ebenso unbedingt für Gottes Gegengeschenke da. Denn wann sonst kann Gott am besten neue Einsichten schenken? Belastende Gefühle umpolen? Alte Verhaltensweisen ändern? Mit Freude, Begeisterung und Glück erfüllen? Doch gerade in den Pausen!“

Ja, es wird klar: Die Pausen sind ein zentrales Element. Und sie müssen unbedingt so gefüllt werden, dass sie nicht störend wirken, sondern im Gegenteil inneres Erleben erleichtern oder überhaupt in Fluss bringen.

Und womit füllen wir dann diese Pausen in geeigneter und attraktiver Weise? Da kommt jetzt nur die Musik infrage. Sie drängt sich nun als höchst bedeutsames Thema ganz in den Vordergrund.

Damit jetzt zur Musik!

Denn ohne Musik geht letztlich eigentlich gar nichts. Nur: Wie geht es mit ihr?

Martina hat noch die Worte von Tobias im Ohr, mit denen er sein erstes inneres Erlebnis in einer Kirche beschrieb. Und sie gibt es jetzt so an uns weiter: „Er sah das Innere einer Kirche. Darin wogten Sprache und Musik hin und her. Das war für ihn berauschend.“ Und sie fügt nun hinzu: „Ich fände es ganz toll, wenn wir auch dahin kommen würden!“

Ich habe nun eine bildliche Eingebung: „Ich sehe Worte vor mir schweben, die Klangwolken ausatmen. Die Klangwolken schieben sich unter die Worte und tragen sie. Sie nehmen sie huckepack.“ Jo lächelt und kommentiert das so: „Aha, die Worte gehen bei dir erst einmal in Führung. Ja, das finde ich überzeugend.“

Doch wie gestaltet sich dann die Musik genauer? Zunächst einmal ist ja ein übergreifendes Thema da, das über der ganzen Gottesfeier steht. Das hatten wir schon ins Auge gefasst. Und das kann zunächst einmal ein Ausgangspunkt und Grundton für alle Musik sein.

Und dann sollen Impulssätze und sonstige Texte während der Feier Gedanken und Gefühle anstoßen. Und zugleich sollen sie nun auch noch die Musik inspirieren.

An einen sanften Textimpuls können sich dann etwa zarte, flache Klangflächen anschließen. Oder nach aufrüttelnden Worten kommt es zu gewaltigen Klangaufwölbungen. Oder Töne nehmen eine Wellenform an und lassen so einen Text nachklingen und ausschwingen. Dabei sollten alle Klänge zugleich ein besonderer Genuss sein, so wie er eben einer Feier angemessen ist.

Bei solcher Gestaltung ist klar: Da sind Musiker gefragt, die hervorragend improvisieren können. Oder richtiger: Da braucht es Musiker, die mit Inbrunst und göttlicher Eingebung ihr Allerbestes geben. Die also mit den Texten mitschwingen und zugleich im Einklang mit anderen musikalischen Akteuren bleiben – wenn es davon mehrere gibt. Das ist jedenfalls ein immens hoher Anspruch! Der überschreitet weit die Kunst und das Können normaler Musikhandwerker.

Aber gerade so kann es zu hauchzarten Worten und Klängen kommen, die tiefinnerlich sanfte göttliche Impulse sprießen lassen. Oder so kann sich eine berauschende Klangfülle entfalten, aus der heraus Gottes Hand bei dem einen oder anderen Zuhörer mächtig zupacken und ihn durchschütteln kann.

Die Töne werden so vom jeweils vorhergehenden Text angestoßen. Doch gelegentlich ist eine Umkehrung denkbar: Töne könnten auch zum Wegbereiter für einen nachfolgenden Text werden. Zum Beispiel lässt sich ein leichter Impulssatz gut in gerade ausklingende leise Töne hineinflüstern. Oder ein dramatischer Impulssatz kann in aufbrausende Klänge hineingebrüllt werden.

Damit wird zugleich klar: Nicht nur bei Musikern ist Improvisation gefragt. Auch die Menschen haben eine tragende Rolle, denen die Texte anvertraut sind. An ihnen liegt es, wann sie die Texte in gerade aktive Klänge hineinsprechen oder hineinwerfen.

Manchmal lässt sich zwar klar heraushören, dass Töne auf einen Endpunkt zusteuern und dass damit unbedingt die Zeit für einen neuen Text gekommen ist. Aber ansonsten sollte bei den Texten ebenfalls göttliche Eingebung den Einsatz geben und den Taktstock schwingen.

Jetzt kommt mir noch eine Idee: „Und wie steht es mit Licht- und Farbwechseln? Oder mit stimmungsvollen Bildern? Die könnten wie wunderbare Pinselstriche die Klänge zusätzlich untermalen.“ Jo findet: So etwas könnte schon fantastisch wirken. Allerdings müsste Gott wohl noch erst eine größere Findungskommission einsetzen, um auch dafür noch begabte Menschen aufzuspüren. Diesen Bereich sollten wir doch erst einmal außen vor lassen.

Nun tritt eine Pause ein. Unsere Denkorgane laufen nicht mehr ganz rund. Und die Frage steht im Raum: Sind wir jetzt am Ende? War es das? Mir jedenfalls ist im Moment danach, mich erst einmal zu recken und zu strecken. Und ich gebe diesem Bedürfnis lustvoll nach.

Danach schaue ich Martina an und will wissen: „Ist es das nun?“ Martina blickt zurück und fragt: „Und wenn nicht?“ Und ich: „Du meinst, wir müssen noch mal ran?“ Jo hält sich zurück und wartet ab, was nun kommt.

Und tatsächlich: Martina meldet noch einen Wunsch an. Sie hat ein weiteres Thema. Denn sie hat in Erinnerung: In der Prophetiegruppe gab es zuletzt auch den Wunsch nach mehr Gemeinschaft im Gottesdienst. Und das Thema sollten wir nicht außer Acht lassen.

Dann also jetzt noch zum Thema Gemeinschaft!

Martina bringt gleich ein, womit wir schon Gruppen ein wenig aufgemischt haben: Nämlich mit Körperbewegung in Form von gemeinsamem Trampeln, Klatschen, Arme Schwenken und Winken. Das ist verbindende Bewegung.

Und im Übrigen meint sie: Wenn man den Körper lockert, lockert sich gleich auch noch die Seele. Und das ist mehr als nur das zentimeterweise Rauf und Runter von Unterkiefern beim Singen. Martina sagt das jetzt lächelnd, selbst amüsiert von diesem Gedanken.

Doch Jo bleibt am Thema: „Und wann ist Bewegung dran?“ Martina schlägt vor: Immer dann, wenn sich Klänge zu einem so heftigen Rhythmus verdichten, dass er in die Glieder fährt. Da muss dann doch einfach fröhlich getrampelt und geklatscht werden! Oder wenn die Musik in wogende Wellenbewegung einschwingt, können ja die Arme über den Köpfen mitschwingen.

Jetzt kommt Jo aber doch noch auf die Unterkiefer zurück: Singen sei aber überhaupt nicht zu verachten! Auch wenn sich dabei Zungen und Unterkiefer nur dezent bewegen. Denn es kommt doch vor allem auf das an, was dabei über die Zunge fließt: Die Töne. Und gemeinsamer Gesang kann auch verbinden und sogar Menschen ein wenig miteinander verschmelzen lassen. Martina lässt sich überzeugen und gibt sich einsichtig.

Jo hat allerdings etwas gegen normale Gesangbücher. Früher wurden Lieder zum Teil geschrieben, um den Singenden theologisches Wissen einzuimpfen. Doch jetzt soll Gemeinschaft das Ziel sein. Und das heißt eben: Beim Singen soll Gemeinschaft spürbar werden! Und da geht es dann wahrlich nicht darum, längere Texte möglichst fehlerfrei hinter sich zu bringen.

Jo schlägt zum Beispiel als äußerst kurzen Text vor: „Oh Gott, deine Liebe! Deine Liebe! Deine Liebe!“ Und nur diese Worte. Da können die hellen Vokale entsprechend helle Empfindungen von Leichtigkeit, Wärme und Weichheit aufkommen lassen. Und wenn ständige Wiederholung dann die Singenden ein wenig in Trance versetzt, können sich sogar Empfindungen von überirdischer Einbindung und Gemeinschaft einstellen.

Aber das ist noch nicht alles. Martina hat noch mehr. Sie meint: Zusätzlich kann verbinden, etwas über das Befinden der anderen Menschen im Raum zu wissen. Das sollte auch noch möglich werden.

Doch wie erfährt man da etwas?

Martina: „Die anderen dürfen kein unbeschriebenes Blatt bleiben.“ Aber wie lässt sich das während einer Feier arrangieren? Wie weiß man, was bei anderen im Moment los ist, damit man sich ihnen näher fühlen kann?

Zum Beispiel kann da die Frage sein: Geraten gerade einige im Raum innerlich ins Schwimmen? Kommen sie voran wie gewünscht – oder schlagen sie sich mit Frust herum?

Wir überlegen. Und wir kommen aufs Heben der Hand als Zeichen für innere Schwierigkeiten. Doch was kann man dann tun? Eigentlich nur eins: Man kann da den Menschen anbieten, durch Heben einer Hand um Gebetshilfe zu bitten. Und alle, die sich nun angesprochen fühlen, können daraufhin ein gutes Wort – oder mehrere – bei Gott für die gerade Angeschlagenen einlegen. Das bringt mit Sicherheit das Gemeinschaftsgefühl voran.

Und man kann mit Handheben noch etwas anderes regeln: Man kann damit auch anzeigen lassen, wer schon Jesus oder Gott spürbar näher gekommen ist. Und wer bereits in kleineren oder größeren Glücksgefühlen schwelgt. Wenn es gerade in den Ablauf passt, können solche Menschen ersucht werden, vor lauter Freude doch bitte gleich beide Hände zum Himmel zu strecken.

Diejenigen, die dann voll Freude die Hände heben, haben zunächst selbst etwas davon: Durch ihr Bekenntnis nach außen festigen sie das Erlebte in sich selbst. Zugleich kann solch ein Bekenntnis animierend wirken und vielleicht anderen helfen: Wenn nämlich die, die bisher noch leer ausgingen, sich nun zielstrebiger um ein eigenes Erleben bemühen, das sie weiterbringen kann.

Und auch die Verantwortlichen können profitieren. Denn das Handheben deutet an, was ihr Einsatz den Menschen während der Feier bringt. Und wenn sie das Handheben mehrfach wiederholen lassen, können sie vielleicht beobachten, wie göttliche Flammen im Raum um sich greifen. Oder bei welchen Teilen der Gottesfeier solches Feuer besonders aufflammt.

Das alles klingt nun schon ausgezeichnet! Aber ich habe noch einen weiteren Vorschlag: Auch Einzelne sollten mittendrin und jederzeit bekunden können, wie es ihnen ergeht. Und das noch genauer und ausführlicher als durch Handheben.

Martina schaut mich an mit: „Und wie?“ Ich: „Wir bieten auch hier vorgefertigte Sätze an.“ Und ich erkläre ihr: Auf einem kleinen Gerät wählt man durch Antippen einen Fertigsatz aus. Der erscheint auf einer Leinwand. Da haben ihn alle im Blick. Und dann steht dort etwa: „Gott hat mir gerade eine wunderbare Idee geschenkt.“ Nun können sich alle mitfreuen. Und man kann vielleicht so ebenfalls wieder andere animieren, sich selbst noch intensiver um solch ein Geschenk zu kümmern.

Martina hat allerdings einen Einwand: „Da kommt aber viel Technik ins Spiel!“ Ich halte dagegen mit: „Aber wenn die Technik leicht und wie nebenbei zu bedienen ist – warum nicht?“ Doch ich muss einräumen: Solche Technik ist tatsächlich erst noch zu entwickeln und zu installieren.

Jo atmet nun hörbar tief durch. Und zugleich sitzt er höchst zufrieden da. Er hat jetzt ganz offensichtlich das Gefühl: Mit unseren Überlegungen sind wir nun aber endgültig am Ende. Und ja, Martina und mir fällt auch wirklich nichts mehr ein.

Jo findet nun: „Wir sind ganz schön weit gekommen! Ich brenne jetzt darauf, solch eine Gottesfeier baldmöglichst zu erleben!“ Und wir können uns ihm da nur anschließen.

Gegen die Wand

60. Stop und Protest

Jo empfängt uns mit steinerner Miene. Was ist los?

Es ist offensichtlich: Er muss und will uns Unangenehmes beibringen. Aber er ringt noch um geeignete Worte.

Und dann findet er sie: „Wisst ihr, manchmal laufen die Dinge überhaupt nicht so, wie man es erwartet. Man hat sich schon mit großer Freude auf Wunderbares eingestellt. Und dann wird es einem einfach aus der Hand gerissen.“

Mir fährt ein nicht gelinder Schrecken in die Glieder. Dabei weiß ich noch gar nicht, was los ist. Und Martina starrt Jo auch nur sprachlos an.

Und Jo nun: „Eine Angestellte der Kirchengemeinde hat angerufen. Die Pfarrerin sagt den Termin für neue Gottesdienstideen ab. Und auch die Gruppentermine können nicht mehr in den Gemeinderäumen stattfinden. Das heißt: Ende von allem. Wir sind völlig raus.“

Martinas erste Reaktion: „Aber warum denn?“ Jo weiß es nicht. Er kann nur vermuten: „Die Sache wurde der Pfarrerin vielleicht zu heiß. Vielleicht glaubt sie, die Dinge vor Kollegen und ihrer eigenen Obrigkeit nicht mehr vertreten zu können.“

Ich frage: „Oder hat der Protestler vom ersten Treffen damit zu tun?“ Jo hält auch das für denkbar: „Vielleicht hat er üble Gerüchte über euch in Umlauf gebracht. Und die Pfarrerin muss sich und die Gemeinde davor schützen. Oder vielleicht hat sie auch selbst Zweifel an euch bekommen. Vieles ist möglich.“

„Und nun?“ fragt Martina. Jo: „Ich weiß es auch nicht. Mir ist jedenfalls heute ein Gleichnis von Jesus eingefallen. Er hat mal gesagt: Man füllt keinen neuen Wein in alte Schläuche, solange er noch gärt. Sonst sprengt er nämlich die Schläuche, und damit wäre der ganze Wein hin. Ihr müsst wissen: Wein wurde damals oft in Tierhäuten transportiert.“

Martina: „Du meinst: Die Gruppen und besonders die Ideen für einen neuen Gottesdienst könnten Sprengkraft entwickeln?“ Jo: „Ja, so könnte es bei einigen Leuten angekommen sein.“

Ich nun: „Das tut richtig weh!“ Martina: „Das geht tief rein!“ Und Jo: „Auch bei mir.“ Und ich: „Ein großer Teil unseres Lebens bricht weg.“

Jo kann das nur zu gut nachfühlen. Und er sagt: „Da taucht schnell die Frage auf: Warum lässt Gott das zu? Es geht doch um seine ganz eigene Sache! So etwas geht einem an den Glauben.“ Wir nicken.

Jo meint nun: „Wisst ihr was? In solch einer Situation darf man klagen. Und sich bei Gott beklagen. Gott hat wirklich dafür Verständnis. Das ist viel besser, als alles stumm in sich hineinzufressen. Manche wenden sich dann einfach von Gott ab. Da schätzt es Gott besonders, wenn man das gerade nicht tut. Und wenn man immer noch seine Hoffnung auf ihn setzt.“

Nach einigem Zögern geht Jo noch einen Schritt weiter: „Ihr dürft sogar bei Gott protestieren. Ihr dürft sogar sagen: Gott, das nehmen wir nicht hin! Du schädigst deine eigene Sache und deine eigenen Leute! Das kann doch wohl nicht angehen!“

Martina erschrocken: „Jo, gehst du da nicht zu weit?“ Und Jo: „Manchmal treibt uns Gott bis an unsere äußerste Grenze. Oder noch darüber hinaus. Und wer dann aufsteht und von Gott hartnäckig und vielleicht sogar richtig laut Änderung verlangt: Der zeigt doch Gott damit, dass er sich immer noch an ihn klammert und auf ihn setzt. Dass er nicht achselzuckend Schlimmes hinnimmt, sondern mit unbedingtem Willen dagegen angeht.“

Ich: „Hast du das schon gemacht?“ Und Jo: „Mehrmals. Solche Situationen vergisst man nicht. Und wenn Gott einen tatsächlich daraus errettet, dann kann man sich immer wieder erinnern und daran aufrichten. Besonders dann, wenn Zweifel an Gott kommen.“ Und nun zu uns mit einigem Nachdruck: „Also das ist jetzt eine Situation, wo ihr mit äußerster Willensanstrengung fordern dürft: Gott hilf jetzt!“

Und Jo legt noch nach: „Ihr habt doch schon einmal Gott bedrängt und bestürmt – habt ihr das vergessen? Und direkt danach hat Martina den Unternehmer gerettet. Mit enormen positiven Konsequenzen, die das bisher für euch hat. Und jetzt bittet Gott euch wieder, ihm euren ungebrochenen und unbedingten Willen zu zeigen. Damit es irgendwie gut weitergehen kann.“

Und Jo denkt auch noch über uns hinaus: „Überall gibt es Leute, die feststecken. Und die bestürmen Gott nicht. Vielleicht haben sie Angst vor Gott. Oder es ist ihnen zu anstrengend oder zu kraftraubend. Dabei ist es so: Wenn sie sich hinaus aufs Sprungbrett wagen würden und der wagemutige Sprung gelingt – ja, dann vertieft sich die Beziehung zu Gott! Aber womöglich fürchten sie sich unbewusst davor, Gott zu nahe zu kommen. Sie haben vielleicht Angst, sich selbst und ihre Eigenständigkeit dabei zu verlieren.“

61. Wasser und Brot

Martina und mich hat es auf eine Holzbank verschlagen, die zu einer Picknickgruppe gehört. Vor uns ein Holztisch und gegenüber eine zweite Bank. Eigentlich könnte nun unser Blick durch die weite Landschaft dahinter schweifen. Aber wir haben kein Auge dafür. Wir sind uns sicher: Wir sind jetzt wegen etwas anderem hier.

Denn Jo hat uns ja nahegelegt, bei Gott Protest anzumelden. Und wie er das begründete, das klang überzeugend. Und jetzt sollen wir uns wohl tatsächlich daran machen. Doch wir haben keinerlei Übung darin.

Martina fragt mich zaghaft: „Wie protestiert man denn nun gegen Gott?“ Und ich: „Man kann das ja ganz förmlich machen. Man sagt: Gott, ich protestiere dagegen, dass du uns mit der Pfarrerin und der Kirche hängen lässt.“ Martina meint: „Wie echter Protest hört sich das aber nicht an! Dein Ton ist nicht glaubhaft.“ Ich nun: „Dann mach du mal!“ Und Martina: „Gott, du lässt uns hängen! Das ist absolut unfair.“

„Unfair ist aber auch noch ziemlich mäßig“, sage ich jetzt. „Das muss schon schärfer sein.“ Martina nun lauter: „Gott, du triffst uns hart. Das ist gemein!“ Und sie ballt die Faust dazu. Ich merke, ich muss nun unbedingt stehen. Ich erhebe mich und trete etwas neben die Bank. Und dann stoße ich einen langen gequälten Schrei aus: „Gott, du tust uns hundsgemein weheheheheheheheheheheh!“

Martina steht nun auch auf und stellt sich neben mich. Erst sagt Martina noch ganz förmlich: „Jo hat gesagt, wir dürfen fordern.“ Es klingt so, als wenn sie sich zunächst bei Gott entschuldigen möchte für das Kommende. Und dann schreit sie: „Gott, wir fordern von dir: Lass uns nicht im Regen stehen! Wir fordern von dir: Verrate nicht deine eigenen Interessen! Wir fordern: Führe weiter, was du angefangen hast!“ Und ich schließe mich ihr laut fordernd an mit: „Gott, erhöre uns!“ Es kommt aus tiefster Seele.

Dann stehen wir da. Nein, der Himmel fällt nicht ein. Nein, uns überfällt auch keine Seelenqual. Aber es tat gut, diese Worte herauszuschreien.

Aus dem Augenwinkel heraus nehme ich nun wahr: Bei unserer Picknickgruppe tut sich etwas. Ich stoße Martina an und weise zur Gruppe. Und nun ist es deutlich: Auf der anderen Bank sitzt jetzt Jesus! Er schaut uns ruhig an. Dann winkt er, dass wir uns zu ihm setzen. Vor ihm steht ein Glas Wasser und liegt ein Vollkornbrötchen. Was wird das denn? Wir setzen uns wieder.

Jesus sagt: „Gott hat euch gehört. Deshalb sitze ich hier.“ Wir sind überrascht. Was für eine Blitzreaktion! Und Jo hat offenbar Recht: Wenn man bis an die äußerste Grenze geht, können Dinge passieren, die man nie wieder vergisst.

Jesus erklärt nun: „Ihr leidet gerade. Euer schönes Wunschgebilde ist zusammengeklappt. Ihr saht schon Kirchen vor euch, in denen rauschende Gottesdienste nach euren Ideen gefeiert werden. Und nun meint ihr: Alles ist aus! Alles!“

Jesus schaut uns abwechselnd an. Dann sagt er: „Ein bisschen kenne ich mich ja aus mit Leiden. Ich wollte mal heftig, dass Gottes Reich in diese Welt kommt und groß wird. Und erst dachte ich: Oh, alles geht wunderbar voran! Dann aber begann ich zu ahnen, dass ich noch weit vorm Ziel schwer verunglücken würde. Das war hart. Und es wurde sogar ein tödlicher Unfall. Ich meine das Geschehen, das dann in einer Kreuzigung gipfelte.“

Wir sind ganz still. Es trifft uns, wie Jesus über sich spricht. Denn was er erlebte, war unendlich viel härter und grausamer als das, was uns gerade widerfährt.

„Und wisst ihr, warum das passiert ist?“, so Jesus weiter. „Damit die Menschen nicht mit ihrem Leid allein sind. Gott wollte ihnen zeigen: Wenn es sie ganz hart trifft, dann leidet er selbst wie ein Hund mit ihnen mit. Für diese Aufgabe hatte ich mich freiwillig gemeldet. Ich war bereit, den Menschen Gottes Leiden und Mitleiden ganz handgreiflich vorzuführen. In Stellvertretung für ihn. Es war wahrhaftig ein Himmelsfahrtskommando.“

Jesus wartet nun auf eine Reaktion von uns. Martina fasst sich zuerst und sagt: „ Für uns hast du damals mitgelitten? Da kommt mir jetzt unser Schmerz so lächerlich und schäbig vor.“ Und ich kann mich ihr nur anschließen.

„Wisst ihr,“ sagt Jesus, „Gott lässt viel Leid zu. Er nimmt es nicht weg. Und er erspart es auch sich selbst nicht. Aber er macht manchmal Leid leichter. Damit zeigt er: Ihm ist das Leid der Menschen nicht schnuppe. Überhaupt nicht. Und euch macht er das gerade auch klar: Denn durch meine Anwesenheit hat sich bei euch schon viel Schmerz verflüchtigt.“ Martina und ich schauen uns an: Das stimmt!

Nun interessieren mich aber das Wasser und das Brötchen. Ich schaue fragend hin. Jesus lächelt und sagt: „Am Abend vor meinem Tod habe ich mit meinen Jüngern zusammengesessen. Es war gerade ein jüdisches Fest, und Brot und Wein standen auf dem Tisch. Ich habe Gott für diese Gaben gedankt und sie gesegnet. Das tue ich jetzt auch.“ Und Jesus hält Gott dankend seine Hände über Wasser und Brötchen und segnet beides.

Dann fährt Jesus fort: „Danach habe ich das Brot genommen und Stücke davon abgebrochen – so wie ich das jetzt beim Brötchen mache. Und dann habe ich jedem Jünger ein Stück gereicht. So wie jetzt euch. Und dazu habe ich gesagt: Das ist mein Leib. Und danach habe ich einen Becher mit Wein genommen – so wie jetzt dieses Glas Wasser. Und dazu habe ich gesagt: Das ist mein Blut. Und die Jünger sollten dann das Brot essen und der Reihe nach aus dem Becher trinken. Macht das jetzt bitte auch.“

Wir tun, was er sagt. Und dann spricht Jesus weiter: „Damals habe ich dazu gesagt: Der Inhalt des Bechers ist mein Blut, das für alle Menschen vergossen wird. Und hinzugefügt habe ich auch noch: Jetzt wird ein Bund in Kraft gesetzt, den Gott mit allen Menschen schließt. Und dieser Bund bedeutet – das sage ich euch nun ganz nachdrücklich: Gott lässt keinen Menschen aus seiner Hand fallen!“

Jesus schaut uns an: „Der Bund gilt für jeden Menschen, auch wenn er sich noch so von Gott verlassen fühlt. Und er gilt ebenso für euch. Aus Gottes Hand rutscht auch der Mensch nicht, der anderen Menschen Schlimmes antut. Und selbst den lässt Gott nicht fallen, der ihn wegstößt. Denn bereut ein Mensch so etwas von ganzem Herzen, ist Gott jederzeit bereit, ihm zu vergeben.

Nur wer ganz bewusst und dauerhaft von Gott weg will, den lässt Gott auch wunschgemäß ziehen. Er darf in eine selbstgewählte und rabenschwarze Gottferne entschwinden, wo kein göttlicher Lichtstrahl mehr hinkommt.“

Jesus wartet, bis wir zu Ende gekaut und geschluckt haben. Dann fährt er fort: „Meine damalige Tat wird sehr unterschiedlich gesehen. Und das darf auch sein. Die Menschen sind sehr unterschiedlich, und sie dürfen dementsprechend das hineinsehen, was ihnen gut tut. Denn ich habe es ja für sie getan.“

Er hält inne. Und sagt dann: „Ich habe euch hier Wasser aufgetischt statt Wein. So mancher könnte sich daran stoßen. Aber mit Alkohol habt ihr noch keine Erfahrung. Und ich habe auch mal von lebendigem Wasser gesprochen, das im Menschen zu einer Quelle wird, die ewig weitersprudelt – steht so in jeder Bibel. Und dieses Wasser habt ihr nun hier von mir bekommen.“

Jesus schaut uns zärtlich an. Und dann fügt er hinzu: „Wasser und Brot – oder auch Wein und Brot – sind elementare Lebensmittel. In Verbindung mit meinen Worten sollten damals Wein und Brot zugleich auch Seelennahrung für die Jünger sein. Der handfeste und zudem hochsymbolische Akt sollte die Jünger stärken für das, was ich vor ihren Augen erleiden würde.“

Und nun unmittelbar zu uns: „Spürt mal in euch hinein: Wahrscheinlich fühlt ihr jetzt zusätzliche Kraft von Gott. Essen und Trinken hält Leib und Seele zusammen – so heißt es doch. Das Stück Brot und der Schluck Wasser haben bei euch sicherlich auch so gewirkt.“ Und tatsächlich: „Ja, mein Schmerz ist völlig weg“, stelle ich fest. Ich schaue Martina an, und sie sagt: „Mir geht es richtig gut!“ „Aber bitte,“ mahnt Jesus nun, „versteht diesen Akt keinesfalls magisch! Vor allem anderen ist es meine Gegenwart, die euch Kraft gibt.“

Schließlich sagt Jesus noch: „Ich bin zwar immer mit euch. Aber jetzt bin ich auch gern mal wieder von Angesicht zu Angesicht bei euch. Und Gott wird euch bald erneut wunderbar unter die Arme greifen.

Im Übrigen: Was die Ideen für einen neuen Gottesdienst – beziehungsweise die Gottesfeier – betrifft, die hält Jo doch schriftlich fest! Die sind nicht verloren. Und zu gegebener Zeit können dann andere darauf zugreifen.“

Jesus lächelt und verschwindet. Und mit ihm auch der Rest vom Brötchen und das Glas Wasser.

Da sitzen wir nun. Was für eine Erfahrung mit Jesus! Und was für eine Erklärung von ihm. Wir lassen das Erlebte nachwirken. Und wir fühlen uns glücklich und weit über den Zusammenbruch unserer Wünsche hinausgehoben.

Irgendwann ist plötzlich eine Idee da: „Steht nicht mal wieder ein Besuch bei deinem Unternehmer an?“ frage ich. Und Martina: „Meinst du: Um ihn auf den neuesten Stand zu bringen?“ Ich: „Ja! Mit ihm ging es doch bislang zügig aufwärts. Und wer weiß, vielleicht verschafft uns dein Unternehmer neuen Höhenflug!“

62. Unternehmer und App

Martina trägt es dann tatsächlich wieder zu ihrem Unternehmer. Und der lächelt freudig, als sie in seinem Chefzimmer erscheint. Dieses Mal telefoniert er gerade, beendet aber das Gespräch gleich mit den Worten: „Ich muss auflegen. Gerade bekomme ich allerhöchsten Besuch!“ Und schon hat er wieder Zeit für sie.

Martina hat ihm allerdings eine betrübliche Nachricht zu überbringen: Die Pfarrerin hat den Kontakt abgebrochen. Und das Projekt „Tablet für Einsame“ ist damit gestorben. Zugleich ist auch die Gruppe heimatlos geworden, die angefangen hat, Tipps für die App auszusuchen und zu entwickeln.

Der Unternehmer überlegt nur kurz und sieht es dann so: „Die App ist nicht abhängig von der Pfarrerin. Und die App ist für mich relativ schnell auf die Beine zu stellen. Wenn die Frau keinen Platz mehr dafür hat, gut, dann habe ich eben selbst einen Raum für die Arbeit an den Gottestipps. Ich will die App!“

Und dann erfährt Martina: Der Mann hat inzwischen mehrfach die Internetseite von Jo angeklickt. Und der angezeigte Tipp passte oft richtig gut, wenn er einen Impuls brauchte. Zumindest gab er den Anstoß zu Gedankenketten, die dann am Ende eine fruchtbare Idee hervorbrachten. Er schätzt, dass ihn so zwei von drei Tipps zumindest ein wenig weitergebracht haben.

Martina hat natürlich gehofft, dass die geplante App solche Früchte trägt. Aber die Erfahrungen des Mannes überraschen sie trotzdem. Und sie nimmt sie mit Freude zur Kenntnis.

Dann erklärt sie ihm: Es sollte auch ein Satz wie „Keine Antwort“ bei den Tipps hinterlegt werden. Den gibt es noch nicht. Und bisher muss Gott, wenn er keine Antwort hat, mit unpassenden Sätzen andeuten. Mit „Keine Anwort“ könnte er dann direkt sagen, dass er gerade nichts zu sagen hat. Das leuchtet dem Mann sofort ein.

Nun möchte er wissen, wie weit denn die Arbeitsgruppe schon mit den Tipps vorangekommen ist. Martina berichtet: In der ersten Sitzung wurden von tausend bisherigen Tipps bereits 120 überprüft, und ein paar neue wurden dazu erfunden.

Der Mann rechnet schnell nach. Nach einer weiteren Sitzung würden dann wohl mindestens 200 Tipps verfügbar sein. Das könnte reichen, die App schon mal ernsthaft zu testen. Und Martina meint: Dann könnte auch noch hundertmal „Keine Antwort“ hinzugefügt werden – das ist etwa der Anteil der Tipps, denen der Mann nichts abgewinnen konnte. Damit hätte man schon um die 300 Tipps zum Ausprobieren.

Der Mann überlegt kurz und meint dann: „Ich habe doch meine Mitarbeiter. Die können dann einfach mal damit rumspielen!“

Das fühlt sich für Martina aber nicht gut an, und sie bremst: „Ich glaube, bei bloßem Rumspielen spielt Gott nicht mit.“

Der Mann merkt, dass er leicht daneben liegt. Und er meint: „Stimmt. Ich werde die Leute also angemessen informieren. Und nur wer freiwillig mitmacht und die Sache ernsthaft anzugehen verspricht, der darf testen.“

Und er fügt noch hinzu: „Vielleicht entdecken dabei ja ein paar der Leute: Die App hilft ihnen bei der Arbeit. Oder privat. Das wäre genial.“

Nun ist nur noch die Frage, wo die zweite Teamsitzung zu den Tipps stattfinden kann. Der Mann nimmt Martina mit zu einem Assistenten. Der soll sie über die räumlichen Möglichkeiten informieren und den Zugang regeln. Damit verabschiedet sich der Unternehmer von ihr.

Martina erfährt nun noch das Notwendige hinsichtlich Ort und verfügbaren Zeiten. Und ebenso, wie das Team sich anmelden kann und dann Zutritt zum gebuchten Raum erhält.

63. Musikerin und App

Danach berichtet Martina uns von ihrem Besuch beim Unternehmer. Der Mann ist mit seinen Mitarbeitern jetzt der einzige Lichtblick. Und Jo meint: Jetzt gilt es, dessen guten Willen unbedingt zu nutzen.

Das aber heißt: Wir sollten schnellstmöglich ein neues Team zusammenbekommen, das dem Unternehmer die benötigten Tipps liefert. Die zwei Gemeindemitglieder, die beim ersten Mal fleißig mitarbeiteten, fallen jetzt aus. Und dann sind dafür nur noch Hannah, Tobias, Martina und ich verfügbar. Aber zu fünft sollten wir schon sein.

Wir legen zunächst einmal provisorisch einen Nachmittagstermin für übermorgen fest. Es ist klar: Nun müssen wir sofort Hannah und Tobias fragen, ob ihnen dieser Termin willkommen ist. Und ich fasse auch schon mal Lea, die Flötistin und Sängerin, als mögliches neues Teammitglied ins Auge.

Jo übernimmt Hannah. Und ich rufe gleich Tobias an. Erst muss ich ihm die Situation erklären, dann aber kann er sich für den Termin frei machen. Nun ist noch Lea dran. Mein Gefühl sagt mir, ich sollte sie nicht anrufen, sondern mich auf den Weg zu ihr machen.

Ich sage Jo und Martina Bescheid. Und schon bin ich weg. Ich werde vor eine Haustür versetzt. Und da steht wahrhaftig Leas Name an der Klingel. Also klingeln!

Lea ist tatsächlich zu Haus. Und sie erkennt mich sofort. Drinnen will sie mich erst einmal mit etwas Gutem versorgen. Aus Höflichkeit sage ich zumindest zum Kaffee nicht nein. Und dann muss ich ihr gestehen: Mit Gottesdiensten wird es nichts. Aber wir arbeiten an einer App. Und wir brauchen gottnahe Menschen in einem Team, die diese App zu entwickeln helfen.

Lea hört aufmerksam zu. Dann biete ich ihr an, am Computer Jos Internetseite zu aufzurufen. Sie soll sehen, welche Tipps es darauf gibt. Und ob die vielleicht bei ihr selbst etwas berühren.

Auf ihrem Laptop klicken wir die Seite an. Aber der erste Tipp passt überhaupt nicht. Er ist richtig daneben! Fast bin ich erleichtert. Denn ich fände es schon unheimlich, wenn Gott jederzeit mit einem Klick abrufbar wäre und sozusagen immer springt, wenn man ihn braucht. Ich möchte auf keinen Fall das Gefühl haben, dass ich als kleiner Mensch über den großen Gott verfügen kann. Deshalb soll es auch, so erkläre ich nun Lea, in Zukunft bei der neuen App die Worte geben: „Keine Antwort.“ Dann braucht Gott nicht durch nichtssagende Tipps indirekt anzuzeigen, dass er gerade nicht antworten möchte.

Allerdings soll Lea schon erleben, dass Gott für sie ein paar interessante Worte hat. Und das möglichst sofort. Wir klicken also die Seite neu an. Und nun kommt: „Ich liebe deine Stärke, die dich unabhängig macht, und deine Schwäche, die dich wieder zu mir kommen lässt.“

Nun wird Lea wird still und andächtig. Sie arbeitet als freie und selbständige Musikerin. Und sie kennt die Krisen nur allzu gut, wenn Aufträge tröpfeln oder ganz ausbleiben. Und nun ist hier ihre Situation so exakt getroffen, dass es ihr schon fast einen Schauder über den Rücken jagt.

Auf Jos Seite kann man sich ja noch einen zweiten Tipp anzeigen lassen. Und Lea wünscht sich nun einen Tipp aus der Bibel. Auf der Seite kommt: „Ich will dich lehren und dir den Weg zeigen, den du gehen sollst (Ps 32,8).“

Lea ist wieder still. Und ich mit ihr. Lea fragt mich, wie ich den Satz deuten würde. Ich denke, dieser Satz bezieht sich ganz auf die aktuelle Situation. Und er soll Mut machen. Lea darauf: „Ich sehe es genauso. Aber ich erkenne noch keinen einzigen Meter von einem neuen Weg.“ Ich kann da nur sagen: „Ich auch nicht. Aber warte mal ab!“

Lea kommt nun auf die Worte „Keine Antwort“ zurück, mit denen Gott in Zukunft auch antworten kann. Sie meint, solch eine Antwort sei zu ruppig und passt nicht zu Gott. Besser wäre: „Leider keine Antwort.“ Darin schwingt immerhin göttliches Bedauern mit.

Und dann analysiert Lea diesen erweiterten Antwortsatz noch so: Er fängt erst einmal nett mit den leichten Vokalen e und i an – in den Worten „Leider keine ….“. Das ist ein freundlicher Auftakt. Zugleich schwingt der Satz in gleichmäßigem Wechsel von betonten und unbetonten Silben auf und ab. Er ist damit gut getaktet und hat Melodie. Und auch das fühlt sich zunächst gut an.

Erst danach kommt die leider notwendige Härte der Ablehnung: Dafür sorgen die dunklen und eher schweren Vokale a und o sowie das zweimalige harte t im Wort „…. Antwort“. Und das entspricht der inhaltlichen Botschaft des Satzes, der ja „Nein!“ bedeutet.

Erst bin ich kurz sprachlos. Dann rufe ich spontan aus: „Du wirst gebraucht! Gottes Tipps müssen doch auch klingen.“ Und Lea lächelt.

Dann fragt mich Lea: „Weißt du, wie ich das Wort Gott erlebe?“ Ich schaue sie erwartungsvoll an. Und Lea: „Vorn fängt das Wort Gott mit weichem g an und hinten hört es mit ganz hartem doppeltem tt auf. Und in der Mitte steht ein o, mit dem wir einerseits staunen und andererseits stöhnen. Mir gefällt es, dass Weichheit und Härte und Freude und Schmerz im Wort Gott vereint sind. Ich finde das absolut angemessen.“

Allerdings würde Lea bei „Gott“ schon gern auf das zweite t verzichten. Und der Vokal in der Mitte sollte auch länger sein. Und was für ein Wort kommt dann für Lea heraus? Das Wort „gut“. Und Lea: „Deshalb sage immer wieder mal: Gott ist gut. Und das tut mir selbst gut!“

Leas Sichtweisen beginnen, mich zu faszinieren. Wir müssen Lea einfach dabei haben!

Und Leas Gespür und Intuition reichen noch weiter. Sie meint: „Gottes Tipps wirken noch besser, wenn sie in Begleitung von Tönen daherkommen. Also erst ein paar Klänge, die andächtig machen. Und danach ist man aufnahmefähiger für Gott und seine Tipps.“

Wir brauchen Lea! Aber Lea ist noch nicht zu Ende: „Es gibt sicher leichte und sehr bekömmliche Tipps von Gott. Aber es gibt sicher auch schwerwiegende und ernste. Den leichteren Tipps können leichte Töne und Melodien vorangehen. Sie heben schon vorher die Stimmung. Und schwerwiegende Tipps werden mit ernsteren Tönen eingeleitet. Die sorgen dafür, dass solche Tipps genug Gewicht erhalten.“

Jetzt kann ich nur noch sagen: „Lea, ich bitte dich händeringend mitzumachen!“ Und dann frage ich noch: „Könntest du vielleicht auch selber geeignete Töne liefern und gestalten?“ Mit ihrer Flöte ist schon einiges möglich, meint Lea. Aber längst nicht alles. Sie müsste sich noch Gedanken dazu machen. Dafür wäre am besten, sich erst einmal in die Tipps von Gott zu vertiefen. Und Mitarbeit ist sicher nicht das schlechteste Mittel dafür.

Nun fällt mir der Satz auf der Internetseite wieder ein: „Ich will dich lehren und dir den Weg zeigen, den du gehen sollst.“ Und ich erinnere Lea daran. „Oh,“ sagt sie, „jetzt passt der Satz wohl! Jetzt tut sich ein vielleicht bemerkenswerter neuer Weg auf.“

Zuletzt geht es noch um Termin und Ort. Lea überlegt und meint dann, sie könne ein bestimmtes Vorhaben durchaus zeitlich verschieben. Und der Ort sei für sie gut erreichbar. Sie wird also auf jeden Fall kommen.

Zum Abschied gibt es eine gegenseitige Umarmung.

64. Junger Mensch mit Perspektive

Als ich einen Tag später zu Jo komme, sitzt Chris bei ihm. Der junge Mensch, den wir in den Bergen gerettet haben. Welch eine Überraschung! Und Jo berichtet mir: Die Mutter von Chris hat ihn erst einmal angerufen: Chris würde sich gern mit uns besprechen – ob wir Zeit für ihn hätten? Und nun ist dieser junge Mensch schon da.

Chris guckt am Anfang groß, als ich so einfach aus dem Nichts heraus im Zimmer erscheine. Und er guckt gleich wieder so, als nun auch noch Martina auf dieselbe Weise auftaucht. Wir erklären Chris erst einmal, dass wir schon etwas ungewöhnliche Menschen sind. Aber er würde uns ja bereits kennen. Da hätte er doch hoffentlich keine Angst vor uns? Chris reagiert darauf mit einem eher dünnen „Nein.“

Jo meint nun: Chris wolle uns beide sprechen – und nicht ihn. Deshalb verlässt er uns. Und so übernehmen wir. Wir tasten uns nun langsam an das Anliegen von Chris heran. Es ist nicht klar, was ihn hertreibt. Bei der Rettung haben wir sein Geschlechts- und Identitätsproblem voll akzeptiert. Und er hat sich mit uns wohlgefühlt. Da möchte er vielleicht nun einfach wieder ein bisschen in Angenommensein baden.

Aber Chris hat auch etwas zu berichten: Wie vorgeschlagen hat er eine Beratungsstelle aufgesucht. Und der Arzt dort ging – so erlebte er es – erstaunlich weit auf sein Problem ein. Allerdings lief dessen Rat darauf hinaus: Chris solle sich noch gedulden. Sein Körpergefühl könne sich noch ändern. Und da sei es zu früh, operativ neue körperliche Tatsachen zu schaffen. Doch für Chris ist die ihm so verordnete Wartezeit kaum auszuhalten. Er wirkt gequält, als er davon berichtet.

„Was können wir tun?“ frage ich Martina. Aber sie ist auch ratlos, möchte das Chris jedoch nicht zeigen. Und so sagt sie erst einmal hinhaltend: „Mal sehen!“

Mir kommt plötzlich die Eingebung, die körperlichen Tatsachen bei Chris zunächst einmal genauer zu erkunden. Und ich sage vorsichtig zu ihm: „Das ist nun eine ganz intime Frage. Und du brauchst nicht mal mit einer Wimper zu zucken als Antwort. Aber uns beiden würde es schon helfen, wenn wir wüssten, was bei dir zwischen den Beinen los ist.“

Doch Chris hat anscheinend kein Problem mit der Frage. Schon fast routiniert gibt er Auskunft: „Da ist von beidem etwas.“ Ach, er ist also ein Wesen, das man gemeinhin Zwitter nennt. Er ist damit schon rein körperlich ein extremer Außenseiter! Und nun hat er das Bedürfnis, sich ganz auf die männliche Seite zu schlagen. Dann fügt er noch hinzu: „Aber ein bisschen mehr Weibliches ist schon da.“

Martina jetzt: „Ich weiß noch: Deine Mutter wünschte sich, dass du dich für die weibliche Seite entscheidest. Und deine körperlichen Gegebenheiten konnten sie offenbar hoffen lassen. Hat sie dich aber auch noch bedrängt? Und wenn du nun ganz auf die männliche Seite willst, protestierst du da vielleicht gegen ihren Druck?“

Chris darauf: „Ich musste immer Mädchenkleider anziehen. Da war sie ständig hinterher!“

Ich versuche es nun so: „Sei mir nicht böse, Chris. Aber könntest du vielleicht auch als Mensch leben, der von beidem etwas hat?“ Doch Chris: „Spätestens bei den Schultoiletten muss man sich doch immer für eins von beidem entscheiden.“

Da hat er nun wirklich recht. Es gibt teilweise einfach einen immensen Druck, sich in gängige gesellschaftliche Vorstellungen einzuordnen. Manche Menschen werden in einige Schubladen der Normalität geradezu hineingequetscht.

Martina schlägt nun vor: „Arno und ich sollten jetzt Gott zu deinem Problem befragen. Wir brauchen dafür zwei oder drei Minuten Stille.“ Martina schaut mich fragend an, und ich nicke.

Unsere Stille dauert nur kurz. Martina sagt bald: „Chris, ich sah dich immer im Kreis laufen. Du kamst erst voran, als du den Kreis aufgabst und geradeaus gingst.“ Und ich selbst habe Gott sagen gehört: „Ich habe Besonderes mit ihm vor.“

Chris kann damit zunächst überhaupt nichts anfangen. Wir versuchen nun, ihm näher zu bringen, was das bedeuten könnte. Martina: „Deine Gedanken kreisen immer darum, eindeutig Mann zu werden. Ja, es ist richtig hart, körperlich zu einer klitzekleinen Minderheit zu gehören. Aber wie viel besser fühlst du dich wirklich nach einer Operation? Womöglich bleibst du innerlich trotzdem ein Mensch, der zwischen den Geschlechtern steht.“

Und ich ergänze: „Weißt du: Vielleicht solltest du mal bewusst ausprobieren, wie es sich anfühlt, ein Mensch zwischen den Geschlechtern zu sein. Und im Übrigen ist es so: Solch eine Situation kann Menschen heftig anspornen, Besonderes zu leisten. Davon hat dann die ganze Gesellschaft etwas. Und Gott könnte dich dazu berufen haben.“

Chris schaut mich und Martina fragend an. Dann rückt er damit heraus, dass er eine musikalische Begabung hat. Er fällt damit auf, dass er äußerst talentiert Klavier spielt. Im Moment nutzt er wohl das Klavierspielen eher zur Flucht aus seiner harten Realität. Aber seine Mutter lässt ihn immerhin aufwändig fördern. Und wer weiß: Vielleicht hat er da tatsächlich eine Karriere vor sich?

Martina meint nun tröstend: „Gott hat dich körperlich so werden lassen, wie du bist. Warum auch immer. Auf jeden Fall will er für dich sorgen! Gerade weil du es schwerer hast als andere.“

Dann fügt sie hinzu: „Manche werden körperlich zu Menschen ihres eigenen Geschlechts hingezogen. Andere fühlen sich nur in Kleidern des anderen Geschlechts wohl. Gott hat sie alle so werden lassen. Und Arno und ich sind auch eine Spezialausgabe. Wenn es dir deine Situation etwas mildert: Du bist eine Art Sondermarke Gottes. Und du bist nicht damit allein.“

Und ich gebe Chris mit auf seinen Weg: „Sogenannte normale Menschen schauen gern auf Minderheiten hinab. Sie meinen, die sollen sich doch gefälligst den Normalmenschen anpassen. Manchmal behaupten sie sogar, diese Minderheiten seien selbst schuld an ihrem Desaster. Und was sagt Gott dazu? Über solch arrogante Menschen urteilt er: Schuldig! Schuldig! Schuldig! Denn in ihrer Arroganz verachten sie seine Schöpfung. Gott gibt allen Menschen Besonderheiten und Schwächen mit. Einige geraten dabei allerdings ganz besonders. Doch für die fühlt sich dann Gott auch besonders verantwortlich – so wie für dich.“

Mir kommt nun die Idee, Chris die Internetseite von Jo vorzuführen. Ich erkläre ihm, dass Gott durch diese Seite zu Menschen sprechen kann. Und vielleicht würde er jetzt zu Chris sprechen. Ich klicke die Seite an, und es erscheint: „Es würde wirklich etwas fehlen, wenn du nicht an der Stelle wärst, an der du bist.“

Ich bin geplättet. Denn Gott sagt offensichtlich Chris, dass es gut ist, so wie er ist. Aber versteht Chris selbst das auch so? Darauf kommt es jetzt an!

Chris sitzt da, schaut erst auf den Satz und dann irgendwohin in die Ferne. Danach höre ich nur von ihm: „So bleiben wie ich bin?“ Chris ist nun sehr lange still. Und wir auch. Schließlich sagt er: „Ich will darüber nachdenken.“

Von nun an haben wir einen sehr nachdenklichen Menschen vor uns. Und es gibt nicht mehr viel zu reden. Ich frage ihn noch: „Möchtest du die Internetadresse der Seite haben? Dann kann Gott häufiger zu dir sprechen und dich unterstützen.“ Chris möchte.

Allerdings braucht er von mir noch ein Stück Gebrauchsanweisung: „Gott will dir nicht immer etwas sagen. Dann erscheint ein Tipp, der keinen Sinn macht. Das ist Gottes Weise dir mitzuteilen, dass er gerade nichts zu sagen hat. Und manchmal gibt es auch Tipps mit Zeitzünder: Die verstehst du dann erst einige Zeit später.“

Am Ende verabschiedet sich Chris natürlich nicht glücklich, aber immerhin doch etwas erleichtert.

65. Entwicklungsleiterin und App

Hannah trifft bei Jo ein. Sie ist gern seiner Bitte gefolgt, auch bei der zweiten Sitzung zur Überarbeitung der Tipps mitzuwirken. Und Jo drückt ihr nun alles in die Hand, was noch zu überprüfen ist. Sie erhält es teils auf einem Laptop, teils ausgedruckt.

Jo hat auch schon für uns Zeit und Zugang abgesprochen und geregelt. Und Martina und ich leisten Hannah Gesellschaft auf der Fahrt zum Ort des Geschehens. Dort stoßen wir auf eine alte Villa außerhalb des Betriebsgeländes. Sie ist eingebettet in Grün und davon umwuchert. Ein wahrhaft angemessener Rahmen für die Arbeit an Tipps von Gott!

Auch Lea und Tobias treffen ein. Oh, da sind wir wirklich zu fünft! Dann können wir uns ja in ausreichender und guter Besetzung über die Tipps hermachen. Und der für uns bereitgehaltene Arbeitsraum ist auch umgehend gefunden.

Wir kommen schnell mit den Tipps voran. Nur ein kleiner Teil wirkt fragwürdig und ist deshalb zu streichen. Einige erfinden wir wieder neu hinzu. Und nach ein paar Stunden haben wir insgesamt zweihundertfünfzig als hervorragend befundene Tipps beisammen. Für den Unternehmer reicht das allemal.

Lea hat auf ihre Weise mitgearbeitet: Sie hat bei den Tipps Worte umgestellt oder ersetzt. Jetzt klingen sie melodischer. Sie hat zudem Klang und Inhalt der Tipps auf sich wirken lassen. Und sie meint: Sie wolle jetzt auch mal Anfangsmelodien entwerfen und einspielen, mit denen die Tipps gut einzuleiten sind. Die dürfen wir dann testweise auf uns wirken lassen.

Was tun? Bis Lea damit fertig ist, kann es Tage dauern. Da ist denn doch der naheliegendste Schritt: Den Unternehmer schon jetzt mit den einsatzbereiten Tipps zu beglücken. Tobias hat sie alle auf dem Laptop festgehalten. Und sie können sofort dem Unternehmer ausgehändigt werden.

Das ist nun wieder Martinas Aufgabe. Tobias drückt ihr einen Speicherstick mit allen bereits verwendbaren Tipps in die Hand. Und schon ist Martina verschwunden.

Im Chefzimmer des Unternehmers taucht Martina wieder auf. Der Mann ist überrascht von der schnellen Arbeit und hat dafür nur Lob. Und er kann nun nicht anders: Er will auch selbst keine Zeit verlieren. Und er ruft jetzt die Leiterin der zuständigen Entwicklungsabteilung an. Sie ist da, denn sie arbeitet gern mal bis in den Abend hinein. Und schon begleitet der Mann höchstselbst Martina zu ihr.

Der Mann stellt Martina seiner Leiterin mit den Worten vor: „Hier mein Wunderwesen!“ Dann beschreibt er der Frau kurz seine Ideen von der App und wünscht sich vorrangige Bearbeitung. Den Rest sollen die beiden miteinander aushandeln.

Die höchst merkwürdige Vorstellung von Martina weckt die Neugier der Leiterin. So kommen beide in ein lebhaftes Gespräch über das Vorhaben. Martina merkt schnell: Die Aufgabe interessiert die Leiterin nicht nur technisch, sondern auch ganz persönlich. Gott ist offenbar kein rätselhaft fremdes Wesen für sie, sondern eine Größe, mit der sie in ihrem eigenen Leben rechnet. Und so fragt die Frau auch gespannt, was denn die App bringen soll.

Martina spricht jetzt über die Erfahrungen mit den Tipps. Der Frau wird nun das heftige Interesse ihres Chefs verständlich: Denn er hat schon davon profitiert. Und zur Demonstration bittet Martina die Frau nun auch noch, mal Jos Internetseite aufzurufen.

Martina hofft, dass jetzt ein vielsagender Tipp erscheint. Sie betont, dass der kommende Tipp wirklich ausgelost ist. Und dann steht da: „Mit mir kommst du letztlich immer voran.“

Martina liest diesen Satz nicht nur, sondern hört ihn innerlich auch. Ihr ist dabei, als wenn der Tipp selbst eine Stimme hat und zu ihr spricht. Und er sagt ihr: Mit ihm und letztlich jedem anderen Tipp seiner Art komme sie immer vorwärts. Das ist eine verblüffend gute Auskunft zum Sinn der Tipps. Zugleich ist das eine Antwort auf die Frage der Frau, was denn die App bringen soll. Und das Schöne ist: Die andere Frau versteht den Tipp auch noch genauso wie Martina! Nun staunen beide Frauen gemeinsam über diese Antwort.

Dann rückt die technische Seite der App in den Mittelpunkt. Martina geht davon aus: Zu den derzeitigen Vorstellungen des Chefs wird es noch etliche Ergänzungen geben. Dafür sollte das System der App also offen sein. Und absehbar ist schon jetzt: Es werden noch noch weitere Tipps und auch musikalische Einleitungen dazukommen.

Vor allem sollte aber das System bereits jetzt zwei Funktionen haben: Einmal soll es möglich sein, Tipps auf dem Handy aufzurufen. Wann immer dem Handybesitzer danach zumute ist. Und die zweite Funktion ist: Die App soll sich von sich aus melden können. Sie schickt dann einen Tipp aufs Handy und macht sofort den Besitzer darauf aufmerksam.

Nun händigt Martina der Frau den Speicherstick mit 250 Tipps aus. Zugleich bittet sie, auch noch den Satz „Leider keine Antwort“ ins System einzufügen. Und zwar 125-mal. Dann besteht bei einem Drittel der Aufrufe die Chance, genau diesen Satz zu erhalten. Denn Gott möchte sich erfahrungsgemäß etwa so oft einer Antwort enthalten, erklärt Martina. Und dann braucht er sein Schweigen nicht wie bisher durch eine unverständliche Antwort zu signalisieren.

Über jeder Anzeige eines Tipps sollte zudem stehen: „Gott sagt dir jetzt: …“ Damit wird klar: Es ist nicht ein ferner Gott, der spricht, sondern ein gerade gegenwärtiger Gott.

Schließlich hat Martina noch einen Wunsch: Sie möchte, dass bei den ersten Tests erfasst wird, wie oft der Satz „Leider keine Antwort“ erscheint. Theoretisch müsste das etwa bei jedem dritten Aufruf eines Tipps passieren. Sollte es jedoch anders kommen, würde es spannend.

Als Martina dann die Frau verlässt, hat sie das gute Gefühl: Die Entwicklung der App liegt in besten Händen.

66. Ergänzung der App

Wir sind auf den Geschmack gekommen: Es ist lustvoll, neue Tipps für die App zu finden und zu erfinden. Jo hat uns sogar ein kleines Aufzeichnungsgerät in die Hand gedrückt. Denn wir wollen mal wieder eine Ausflug machen. Und mit dem Gerät können uns bemerkenswerte Tipps nicht entwischen, auf wir vielleicht unterwegs stoßen.

Wir stehen jetzt an der Steinmauer einer weitläufigen Terrasse. Unter uns liegt ein bescheidenes Häusermeer. Mitten hindurch zieht sich ein größerer Fluss. Auf dem schiebt sich gerade ein Ausflugsschiff gegen die Strömung voran. Und an den gegenüberliegenden Berghängen klettern Häuser bis weit nach oben hinauf. Wir stehen hier offenbar an einem besonderen Aussichtspunkt.

Wir betrachten die Häuser unter uns etwas genauer. Manche stehen da sicherlich schon seit Jahrhunderten. In irgendwie nicht hinterfragbarer Selbstverständlichkeit. Was mag wohl schon alles über diese Häuser hinweggegangen sein?

Oder was ist heute noch unter den Dächern los? Und auch die Frage kommt auf: Wie oft ist Gott dort unten in den Häusern ein selbstverständlicher Mitbewohner? Hier oben liegt vor uns grandiose Schöpfung – auch die Häuser da unten gehören dazu. Denn sie wurden ja von Gottes Geschöpfen geschaffen. Aber wie weit ist da unten noch Raum für den Schöpfer selbst?

In Martina tauchen Worte auf. Es sind die Worte: „Verneige dich vor meiner Schöpfung und genieße sie!“ Martina lächelt mich an und sagt: „Komm!“ Und wir verneigen uns vor diesem eindrucksvollen Stück Schöpfung. Sofort wirkt der Ausblick noch freundlicher und heller – ja, er ist jetzt geradezu göttlich durchlichtet. Was für eine Resonanz! Es ist klar: Diese Worte gehören in die Sammlung der Tipps. Wir halten sie fest.

Nun möchte ich schon gern wissen: Wurden wir eigentlich bei unserer Verbeugung beobachtet? Ich schaue mich um. Hinter uns liegt ein kleines Ausflugslokal. Die Tische davor sind noch ziemlich leer. Und ein Mann steht davor in etwas gebeugter Haltung herum. Er wirkt unschlüssig. Er wird nun zum Auslöser dieses Gottestipps in mir: „Ich will nicht, dass du ein Fragezeichen bist, sondern du sollst ein Ausrufezeichen sein!“ Oh, es geht interessant weiter!

Martina schaut mich nun lächelnd an. Und dann gibt sie als Gottestipp von sich: „Ich stecke in jedem guten Satz, den du sagst.“ Martina betont das „du“ und blickt mich fest an. Soso, das ist nicht irgendein Satz: Sondern ich habe sie dazu angeregt, und dieser Satz ist nun zugleich ein Kompliment an mich. Herzlichen Dank!

Aber dann ist Martina doch noch nicht zufrieden. Sie hebt nun den Satz auf eine allgemeinere Ebene und macht ihn zugleich poetischer: „Ich stecke in jeder guten Idee, die bei dir anklopft.“

Jetzt bin ich wieder dran. Es dauert ein bisschen. Denn nun soll möglichst auch meinerseits ein Kompliment im gesuchten Satz stecken. Und dann ist er da, und ich trage ihn mit dezenter Verbeugung und auch unter Betonung des „du“ vor: „Du bist mein Geschenk an die Welt“. Martina versteht sofort und lacht fröhlich.

Aber jetzt wieder zu den Menschen unten im Tal! Ich zeige hinunter: „Alles liegt so friedlich da. Aber in wie vielen Häusern gibt es gerade Streit? Und in wie vielen quälen sich Menschen mit Schmerz und Leid herum?“ Martina guckt mit mir nachdenklich hinunter. Und dann kommt von ihr: „Vertrauen und Freude lässt aufblühen. Misstrauen und Angst ruiniert.“ Dafür standen wohl gerade die möglichen Konflikte da unten Pate.

Mir drängt sich schnell eine Variante dazu auf: „Vertrauensvorschuss bringt weiter, vorauseilendes Misstrauen wirft zurück.“ Aber nach kurzer Überlegung entschärfe ich meinen Satz wieder ein wenig mit: „Rechtzeitige Vorsicht bewahrt vor zwangsläufiger Nachsicht.“ Jeder allzu schlichte Hauptsatz braucht gelegentlich einen korrigierenden Nebensatz.

Zehn Meter weiter links steht jetzt ein Mann an der Mauer. Ich stutze: Irgendwie kommt er mir bekannt vor. Und da überfällt mich eine äußerst lebhaft Erinnerung: Das ist nun doch Bruno! Ihn habe ich mal bis zu seiner Unterkunft unter einem Felsen begleitet. Da war er obdachlos. Und nun? Rein äußerlich hat sich jedenfalls bei ihm inzwischen etwas getan.

Ich weihe Martina schnell ein, gehe hinüber und spreche Bruno an. Er ist nicht überrascht, er hatte mich schon entdeckt. Und er fragt mit einer Handbewegung zu Martina hin: „Deine Freundin?“ „Nein,“ sage ich, „meine Begleiterin. Und ich bin ihr Begleiter. Wir begleiten uns gegenseitig.“

Ich erfahre: Bruno wohnt jetzt bei seiner Tante. Als ich ihn kennenlernte, hat er sich noch geschämt, ihr Angebot eines Zimmers anzunehmen. Inzwischen ist er auch zu einem Job gekommen. Jetzt ist er eine Art Zuarbeiter in der Landschaftsgestaltung. Noch empfindet er die Natur um sich herum als sein Lebenselixier. Aber zum Winter hin will er möglichst wieder in seinen eigentlichen Beruf zurück.

„Wie ist es mit einem Kaffee?“ frage ich. Und: „Martina darf doch mitkommen?“ Bruno hat selbstverständlich nichts dagegen.

Zusammen sitzen wir dann vor dem Lokal. Und Bruno erzählt Geschichten aus seinem Leben als Obdachloser. Bei uns darf er das – woanders muss er darüber schweigen. Im Rückblick findet er einiges komisch, was ihm damals weh tat. Aber bei anderem klingen seine Worte doch noch recht holperig.

Irgendwann will er wissen: „Und was macht ihr so?“ Was sollen wir da sagen? Ich finde dafür die Worte: „Du hast mich kennengelernt als einen, der Gott nahe steht. Und wir beide hier sind in Sachen Gott unterwegs. Mal hier, mal da.“ „Ist das spannend?“, fragt Bruno. Ich sage: „Mit dir war es auf jeden Fall spannend. Und sonst können wir uns auch nicht beklagen.“ Wir erzählen ihm das eine oder das andere.

Gegen Ende kommt in mir die Idee auf, Bruno auf Jos Internetseite hinzuweisen. Ich erkläre ihm, was er da vorfindet und wie er damit umgehen kann. Das könne für ihn spannend werden. Erst schaut er mich etwas skeptisch an, dann aber entschließt er sich offenbar, meinen Hinweis doch etwas ernster zu nehmen. Er wiederholt die Internetadresse und bedankt sich dafür. Und wir verabschieden uns.

Wir machen jetzt noch einen Spaziergang. Unterwegs erzähle ich Martina, wie ich an Bruno gekommen bin. Und Erinnerungen stellen sich ein: Bruno hatte seiner Frau einiges zugemutet und angetan. Er wurde verlassen, strauchelte und verlor alles. Und er schämte sich in Grund und Boden. Dann aber traf er auf mich, und Gott beschenkte ihn eindrucksvoll mit Vergebung. Und jetzt? Jetzt steht er wieder ziemlich gerade da auf seinen beiden Beinen.

Martina: „Und nun bist du glücklich?“ Und ich: „Ja. Ich bin gerührt und glücklich. Es hat was, wenn eine gute Tat dich einholt und dir mal eben freundlich zuwinkt.“

Dank Bruno und dem, was ich von ihm weiß, fällt mir nun noch ein Tipp ein: „Wer nachtragend ist, läuft Menschen hinterher. Wer vergibt oder sich vergeben lässt, ist anderen ein Stück voraus.“

67. Beglückende Lotterie

Wir sind wieder in Jos Arbeitszimmer. Inzwischen ist es auch unser Arbeitszimmer. Besonders dann, wenn Jo nicht anwesend ist – so wie jetzt gerade. Da können wir uns räumlich und gedanklich richtig ausbreiten.

Wir sprechen noch einmal über Bruno. Plötzlich fällt mir auf: „Wir haben doch Bruno auf Jos Interseite verwiesen. Bei Chris haben wir das auch schon getan. Warum machen wir das eigentlich?“ Und ich gebe mir selbst gleich die Antwort: „Weil es immer der leichteste Weg war, sie unaufdringlich und unverfänglich mit Gott in Verbindung zu bringen.“

Um dieses Thema kreisen wir nun weiter. Und wir merken: Unsere Idee eines neuen Gottesdienstes war ziemlich anspruchsvoll. Sie ist nur für Menschen reizvoll, die sich innerlich direkt Gott öffnen können und wollen. Aber wie viele sind es? Vielleicht sind die meisten Menschen damit einfach überfordert.

Das Problem ist zudem: Wahrscheinlich sind gar nicht genug Spezialisten zu finden, die in der angedachten freien Weise Gottesdienste mitgestalten könnten. Und das würde bedeuten: Solche Gottesdienste gäbe es allenfalls hier und da im Land.

Zudem finden Gottesdienste grundsätzlich nur zu festen Zeiten statt. Eine App dagegen steht Tag und Nacht zur Verfügung. Und zudem muss der Mensch bei unserer App nicht mehr Gott suchen und sich ihm zuwenden. Sondern es reicht schon, für Gott offen zu sein und sich von ihm finden zu lassen.

„Jetzt klingelt Gott selbst mal kurz beim Menschen an und sagt: Hey, hier bin ich!“ meint Martina. „Und der Mensch kann entscheiden, ob er einen Moment Zeit hat. Vielleicht ja, vielleicht nein. Und wenn er schon gute Erfahrungen mit den Tipps gemacht hat, denkt er neugierig beim Klingeln: Oh, den neuen Tipp sollte ich mir auch wieder gönnen!“

„Das hat dann keinen rituellen Ernst mehr,“ denke ich weiter, „sondern das hat etwas Leichtes. Und das ist ziemlich spielerisch. Wie beim Lotteriespiel ist man gespannt, was der große Lostopf für einen bereit hält und was für ein Gewinn auf einen wartet.“

„Da aber Gott meistens hilfreiche Tipps aussucht,“ so Martina nun ihrerseits weiter, „kann man sich sehr oft auf einen Gewinn freuen. Und ist dann beglückt. Und wenn die Tipps auch noch mit schönen Klängen garniert sind, schmeckt noch besser, was Gott einem da serviert!“

Im Übrigen sind wir uns einig: Mit der App kann Gott im Prinzip viel mehr Menschen erreichen als mit Gottesdiensten. Denn wie viele gehen da überhaupt noch hin? Wir brauchen also wirklich nicht den Ideen für einen neuen Gottesdienst nachzutrauern!

Jo kommt nun. Wir überschütten ihn gleich mit unserer befreienden Erkenntnis. Und Jo schließt sich gern unserer jetzigen Sicht der Dinge an.

68. App im Test

Martina findet sich mal wieder beim Unternehmer ein. Und der hat gleich eine Top-Nachricht für sie: Die App ist so weit, dass sie schon in der Entwicklungsabteilung getestet wird.

Und noch eine Überraschung hat der Unternehmer. Er zeigt nach oben: In seinem Büro sind jetzt drei Videokameras installiert. Und die können ständig das Geschehen im Raum aufzeichnen. Martina ist erst verblüfft, dann leicht entgeistert. „Bin ich denn so gefährlich?“ fragt sie den Mann.

Der lacht: „Nein, nein, keineswegs! Die Kameras sind noch blind. Aber ich denke weiter: Die App muss ja unter die Leute. Das klappt nicht ohne massive Werbung. Und die kann man mit viel Geld machen. Oder aber mit Köpfchen.“ Martina schaut ihn neugierig an: An was denkt er?

Und der Mann: „Wir werben nicht mit der App, sondern mit Ihnen.“ „Mit mir?“ staunt Martina. Ihr kommt nun sofort die unangenehme Vision, dass sie aufgestylt vor Kameras treten muss, um Werbesprüche abzuspulen. Und man kann ihr allerhöchste Skepsis ansehen.

Der Mann daraufhin: „Ihnen ist gar nicht bewusst, was für eine Sensation Sie sind. Denn welcher Mensch kann sonst einfach aus dem Nichts auftauchen und so auch wieder verschwinden? Wer eine solche Person wie Sie vorzeigen kann, wird sofort von der Presse umlagert. Mit den Kameras möchte ich nun festhalten, wie Sie bei mir erscheinen. Aber natürlich nicht ohne Ihr Einverständnis!“

Martina will erst einmal wissen: „Wer sieht denn all die Bilder?“ Der Mann: „Die sind bei mir unter Verschluss. Da kommt niemand ran. Ich gebe sie nur raus, wenn Sie mir das ausdrücklich erlauben.“ Martina überdenkt kurz die Situation. Dann entscheidet sie sich für Vertrauen und stimmt zu. Der Mann darauf: „Dann winken Sie jetzt mal in eine Kamera und sagen: Aufnahme erlaubt!“ Martina guckt erst skeptisch, winkt dann aber gönnerhaft nach oben und sagt ganz großzügig: „Aufnahme erlaubt.“ Sie erntet ein Lächeln.

Sie hat nun den Wunsch, den allerneuesten Stand der Dinge direkt von der Leiterin der Entwicklungsabteilung zu erfahren. Und sie hält es auf Dauer für hilfreich, wenn die Frau das Team für die Tipps auch mal persönlich erlebt. Der Mann stimmt sofort freigebig und sehr entgegenkommend zu. Martina hat bei ihm wirklich einen ziemlich dicken Stein im Brett.

Der Mann schickt sie nun allein auf den Weg durch den Betrieb. Als sie bei der Leiterin eintrifft, ist die Frau schon informiert und hocherfreut, sie wiederzusehen. Gleich führt sie Martina die App auf einem Smartphone vor: Das Design ist sehr gefällig. Und auch der Aufruf der Tipps funktioniert schon perfekt.

Dann soll die App von sich aus einen Tipp aufs Smartphone schicken. Und die App soll bestimmen, wann das geschieht. Der Zeitpunkt soll nur möglichst nahe liegen. Nachdem die Leiterin das Gerät entsprechend eingestellt hat, schaltet sie das Smartphone ab und legt es beiseite. Und siehe da: Nach etwa drei Minuten ertönt ein kleiner doppelter Hupton. Und beim Wiedereinschalten ist ein neuer Tipp da. Auch das funktioniert also. Und dieser Tipp könnte jetzt von Gott stammen.

Beim Warten auf die Reaktion des Smartphones haben beide Frauen weitere Einzelheiten besprochen. Und Martina merkt dabei: Die Frau hat Feuer gefangen und setzt sich voll für die App ein.

Die Leiterin hat jetzt auch noch einen Verbesserungsvorschlag. Dem Tipp „Leider keine Antwort“ würde sie gern eine tröstliche Note geben. Und die Antwort könnte dann lauten: „Im Moment leider kein Tipp. Gern später wieder!“ Martina findet das erst bedenkenswert und nach kurzer Überlegung richtig gut. Und sie entscheidet: Diese Worte können in Zukunft angezeigt werden. Aber natürlich nur dann, wenn Tipps abgerufen und nicht aufs Handy geschickt werden.

Dann aber wird es heiß: Die Leiterin hat das bisherige „Leider keine Antwort“ so oft ins System eingegeben, wie Martina wünschte: Neben die 250 positiven Tipps hat sie 125-mal diesen negativen Tipp gestellt. Und dann hat sie ihre Mitarbeiter die Tipps 1000-mal aufrufen lassen. Dabei müsste normalerweise ein Drittel der Aufrufe negativ beantwortet werden. Es müsste also etwa 330-mal „Leider keine Antwort“ kommen. Oder bei 33 Prozent aller Aufrufe.

Doch was passierte? Die negative Antwort erschien nur halb so oft, wie zu erwarten war. Und zwar nur bei etwa 160 Aufrufen. Martina begreift sofort: „Da hat sich Gott quergestellt. Er hat sich geweigert, allzu oft eine negative Antwort zu geben!“ Und die Leiterin sieht es auch so. Das aber heißt: Gott will sehr oft klare Zurückweisungen vermeiden lieber einen Tipp geben, der unverständlich ist.

Die Leiterin bemerkt dazu: „Im realen Leben ist es doch auch so: Gott schweigt oft lieber, als Menschen zurechtzuweisen und ihnen auf die Finger zu klopfen. Sie sollen dann lieber selbst herausfinden, was Gott missfällt.“ Martina merkt, die Frau weiß erstaunlich viel von Gott. Und sie ist nun zutiefst davon angetan, wie Gott hier im Betrieb seine Sache voranbringt – eben auch mit Hilfe dieser Frau.

„Und was machen wir nun mit den Tipps?“, fragt die Leiterin. Für Martina ist klar: Die negativen Antworten müssen drastisch reduziert werden. Martina bittet: „Die ablehnenden Tipps auf zehn Prozent Anteil verringern. Und wenn das noch nicht genug ist und weiterhin dasselbe Phänomen auftritt, dann den Anteil sogar auf drei Prozent runterdrücken.“

Martina fragt erst jetzt, wie das Ergebnis eigentlich zustande kam. Und sie erfährt: Durch tausendfaches Dauergeklicke der Mitarbeitern. Dabei wurde kein Tipp auch nur eines Blickes gewürdigt, sondern es wurde ausschließlich gezählt, wie oft „Leider keine Antwort“ auftauchte.

Da würde Martina aber schon gern wissen, ob die Mitarbeiter überhaupt mal bei Tipps genauer hingeschaut haben. „Ja klar,“ sagt die Frau, „die Neugier war da. Aber sie war auch schnell wieder verflogen.“ Nur zwei Mitarbeiter zeigten ernsthafteres Interesse. Sie rufen nun noch gelegentlich einen Tipp ab und diskutieren das Ergebnis miteinander.

Damit ist nun erst einmal alles bei der Entwicklungsleiterin erledigt. Und Martina spürt innerlich deutlich: Es zieht sie zu ihrem Team hin. Und das sollte nun auch schon im Arbeitsraum versammelt sein. Martina schlägt jetzt der Frau vor, doch gleich dahin mitzukommen. Und die lässt sich gern dazu einladen, ein wenig Teamluft zu schnuppern.

So erscheint Martina mit der Leiterin bei uns im Arbeitsraum. Da sind wir bisher zu viert. Martina stellt uns nun die Leiterin als diejenige vor, die bereits die ersten Tipps in eine ansehnliche und funktionsfähige App umgesetzt hat. Und Martina sagt ganz angetan: „Unsere Arbeit hier lohnt sich!“

Das ist nun ein Stichwort für Lea. Sie war auch schon fleißig und fragt: „Wollt ihr jetzt meine Ergebnisse hören?“ Natürlich wollen wir! Sie hat zehn mögliche musikalische Einleitungen für die Tipps mit der Flöte eingespielt. Lea bringt sie uns zu Gehör. Und die meisten dieser Einleitungen machen tatsächlich andächtig und können auf einen darauf folgenden Tipp einstimmen.

Lea hat sogar ein paar Einleitungen mitgebracht, die sie singt oder summt. Hannah findet das Besondere daran, dass dabei ein Mensch zu hören ist. Da ist dann noch jemand anderes da, und man ist nicht mehr allein mit dem Tipp. Das könnte die Wirkung steigern.

Jetzt kommt die Frage auf: Lassen sich verschiedene musikalischen Einleitungen auch per Losverfahren den Tipps zuweisen? Gut, dass wir nun die Leiterin dabei haben! Und für sie ist das selbstverständlich möglich. Gott könnte also selbst aussuchen, welchen Menschen er mit einer zarten Einleitung betört und wem er ordentlich was auf die Ohren gibt, damit er aufwacht.

Lea händigt nun ihre Einleitungen der Leiterin aus. Die können ja mal einzelnen Tipps per Auslosung zugespielt werden. Und dann wird sich zeigen, ob das vielleicht eine wirkungsvolle Idee ist.

Die Leiterin verabschiedet sich dann, und wir machen noch weiter mit der Sichtung der Tipps von Jo. Und Martina und ich bringen nun auch die Tipps ein, die unseren jüngsten Ausflug gekrönt haben.

69. Alter Mann mit Perspektive

Mich hat es auf eine Vorstadtstraße verschlagen. Die Frage ist mal wieder: Was soll ich hier? Ich schaue mich um: Rechts und links frei stehende Mehrfamilienhäuser aus ziemlich zurückliegenden Zeiten. Staub aus Jahrzehnten hat sich bei einigen tief in die Außenwände gefressen. Und nur wenige heben sich deutlich ab und sind etwas herausgeputzt.

Immerhin sind die Gebäude von Natur umrahmt: Oft durch Rasengrün vor den Häusern und durch wilderes Grün in den Gärten dahinter. Und hier und da zeigt jemand, dass auch Blüten einen kleinen Vorgarten zieren können.

Die Straße um mich herum ist menschenleer, aber autogespickt. Wo also ist hier nun das Ziel, das mir zugedacht ist? Plötzlich spüre ich deutlich: Es ist das Haus direkt neben mir. Und ich höre: „Geh hinein!“ Aber ist denn die Tür offen? Doch, tatsächlich – warum auch immer. Und drinnen höre ich: „Geh hinauf!“ Ich komme bis in den zweiten Stock, und da finde ich eine Klingel. Gut, ich betätige sie. Sie klingt sehr melodisch.

Innen Schritte bis an die Tür. Dann summt ganz unten der Türöffner. Die Wohnungstür wird nur einen winzigen Spalt geöffnet, und schon bewegt sich jemand dahinter zurück in irgendein Zimmer. Offensichtlich wird hier gerade ein gut bekannter Mensch erwartet.

Ich drücke die Tür etwas auf und rufe „Hallo!“ Nun kommt der Jemand eilig zurück: Ein alter Mann. Er fragt vorwurfsvoll: „Wer sind Sie denn!“ Ich sage: „Gott schickt mich!“ Er reagiert leicht verwirrt: „Sie wollen mir doch nur was verkaufen!“ Und ich darauf: „Gott hat nichts zu verkaufen, nur viel zu verschenken.“ Nun zuckt unerwartet ein Lächeln um seine Mundwinkel, und er sagt freundlich: „Kommen Sie rein!“

Ich bin bei einem Mann gelandet, der gerade auf seine Putzhilfe wartet. Im Wohnraum liegen bei ihm ein paar Bücher herum. Drei Grünpflanzen zieren die Fensterbank. Und mich platziert er in einer Sitzgarnitur älteren Datums.

Bald frage ich ihn, ob er zu einer Kirchengemeinde gehört. „Ja schon!“, sagt er. Aber dort bekommt ihn eigentlich niemand zu sehen. Schnell ist klar: Der Mann lebt sehr zurückgezogen. Und vielleicht fühlt er sich auch einsam.

Die Putzhilfe taucht nun tatsächlich auf. Und wie gewohnt nimmt sie sich erst einmal die Küche vor. Derweil erfahre ich im Wohnraum, dass der Mann mal Lehrer war. Und er hat zwei Kinder, Tochter und Sohn. Aber die melden sich eigentlich nie bei ihm. Nur ganz ausnahmsweise und wenn er sie wirklich dringend braucht, reisen sie mal kurz an. Und dann verschwinden sie ebenso schnell wieder.

Es wird immer klarer: Der Mann gehört zu der Zielgruppe, für die wir mal ein Tablet angedacht haben. Und es wird immer offensichtlicher, dass ich genau deshalb bei ihm sitze.

Behutsam taste ich mich vor. Und nach einiger Zeit kann ich ihm tatsächlich das Tablet vorstellen, das wir mal ins Auge gefasst haben. Nun versuche ich herauszufinden, ob es für ihn eine Hilfe sein könnte. Ich fange mit den Möglichkeiten des Tablets an, Kontakte zu anderen einsamen Menschen anzubahnen.

Für den Mann ist es undenkbar, ohne speziellen Grund einen anderen Menschen anzurufen. Er selbst möchte auch nicht einfach überfallen werden. Aber immerhin: Ein schriftliches Hallo könnte er sich wohl abringen. Und wenn ihn von außen ein ebensolches Hallo erreichen würde – na gut! Aber das würde er in größter Freiheit als absolut unverbindlich verstehen wollen.

Ich erkläre ihm nun: Falls ihn dann doch die Lust ankäme zu reagieren, kann es auf einem Tablet leider recht mühsam sein, eine Antwort Buchstabe für Buchstabe zusammenzufügen. Und viele können oder mögen das auch nicht. Ich frage also, wie es für ihn wäre, hundert fertige Sätze zur Auswahl zu haben, mit denen er antworten kann. Die werden nur angetippt und damit schon gesendet. Jetzt überlegt der Mann länger.

Er fragt: „Und ich bekäme auch nur Fertigantworten?“ Dann lächelt er plötzlich: „Ja, warum nicht, wenn die Antworten witzig sind!“

Was für eine geniale Idee! Ich habe schon daran gedacht, dass Antworten aufbauend wirken sollen und dass Abwertendes grundsätzlich ausgeschlossen ist. Und nun Witziges? Ja, Witziges ist erheiternd und erhebend! Zudem motiviert es, gleichfalls witzig zu antworten.

Und der Mann hat noch einen interessanten Gedanken: „Manchmal quäle ich mich ziemlich, wenn ich zur Gratulation einen erträglichen Text zusammenschustern muss. Bei vorgegebenen Antworten kann man sich aber Formulierungskünste sparen. Und der Verzicht fällt besonders leicht, wenn die andere Seite sowieso nur Vorgefertigtes erwartet.“

Damit ist dieser Punkt erst einmal abgehakt. Nun wird es wieder spannend: Wie mag der Mann auf die zweite mögliche Funktion des Tablets reagieren? Das Gerät soll ja auch mit Tipps von Gott beschenken können. Ich berichte dem Mann von dieser Funktion und beschreibe sie grob. Aber so rein theoretisch komme ich nicht weit. Eine praktische Vorführung wäre besser! Und tatsächlich: Der Mann hat auch einen Laptop.

Wir gehen in sein Arbeitszimmer. Da rufen wir die Internetseite von Jo auf. Und nun erscheint der Tipp: „Wie lange willst du dich noch quälen?“ Ich erschrecke. Das ist nun absolut unpassend! Der nächste Aufruf wird hoffentlich Besseres bringen. Und da heißt es nun: „Mich in allem zu erblicken: Das macht dich freudig und glücklich.“ Oh, ist das nun wirklich besser?

Der Mann ist auffällig still. Dann meint er: „Der erste Tipp war für mich: Ja, ich quäle mich manchmal mit mir herum. Ich weiß selbst, ich brauche mehr Kontakt. Die Putzhilfe ist zu wenig.“ Und er fügt hinzu: „Der zweite Tipp bringt mir gar nichts.“

Jetzt hake ich nach: „Und wie wäre es, wenn sich das Tablet von allein meldete mit einem Tipp von Gott?“ Der Mann überlegt ein wenig und meint schließlich: „Ich hätte was zum Nachdenken.“

Und dann geht er noch tiefer in sich: „Da war etwas, als der erste Tipp kam. Ich hatte plötzlich das Gefühl: Ich werde erkannt und tief wahrgenommen. Das war ein kleiner Schrecken. Aber es war auch schön: In dem Moment war ich nicht allein. Etwas Göttliches war eine Sekunde um mich. Eine sehr lange Sekunde.“

Und dann fügt er hinzu: „Wenn sich das Tablet von allein meldet, dann würde ich wohl denken: Oh schön, Gott denkt an mich!“

Doch noch gibt es das Tablet nicht. Aber immerhin hat der Mann nun schon einmal die Internetseite von Jo. Und zum Abschied verspreche ich ihm auch, ihn zu benachrichtigen, wenn das Tablet verfügbar ist.

70. Werbung und Versuchung

Jo erzähle ich von dem Besuch beim alten Lehrer. Und ich denke laut: „Jetzt ist das Tablet wieder auf der Tagesordnung! Hatte der Unternehmer nicht mal kostenlose Tablets zum Testen versprochen? Da müssen wir wieder ran!“ Martina horcht auf und fragt: „Oh, kommt eine alte Aufgabe neu auf uns zu?“

Ich denke gleich weiter: „Tipps für die App haben wir schon hunderte. Die können wir später weiter auffüllen. Vielleicht sollten wir uns jetzt Fertigsätze fürs Tablet einfallen lassen – also Kontaktsätze für den Austausch.“

Jo wendet ein: „Aber das Tablet braucht Kirchengemeinden. Nur da können genug Menschen auf einen Schlag die Tablets bekommen. Denn so wird ja erst Austausch möglich. Und auch die Tipps von Gott sind nur etwas für Menschen, die dem Glauben nahestehen.“

Das ist der Moment, wo Martina sich innerlich aufgerufen fühlt. Und sie berichtet nun von ihrem Besuch beim Unternehmer: Der Mann hat inzwischen ihre Person zur Werbung für die App eingeplant. Doch sie fragte sich bisher: Wie soll Werbung zünden, wenn man nichts Handgreifliches vorzuweisen hat? Eine App ist doch nur abstrakt!

Aber jetzt hat Martina eine Idee. Und sie sagt: „Ein Tablet ist dagegen doch etwas zum Anfassen. Das ist real. Das kann man bei der Werbung in den Händen präsentieren.“ Damit ist für sie sonnenklar: Das Tablet ist dran! Das muss jetzt her!

Und schon ist Martina verschwunden. Jo vermutet, sie ist wieder auf dem Weg zu ihrem Unternehmer. Und so ist es tatsächlich.

Wenn Martina in seinem Chefzimmer auftaucht, ist der Unternehmer immer da. Auch jetzt. Da wird offenbar einiges auf allerhöchster Ebene immer gut koordiniert.

Dieses Mal blickt Martina gleich in eine der Videokameras und winkt. Der Unternehmer lacht: „Ja, Ihr Erscheinen wird jetzt festgehalten. Und wenn es so weit ist, picke ich mir ihren eindrucksvollsten Auftritt für die Werbung heraus.“

Nun hat Martina es leicht. Der Mann ist schon da, wo sie ihn braucht: „Muss man nicht handfest vorzeigen, wofür man wirbt? Und allein für meine Person wollen sie sicher nicht werben – ich bin doch nur Ihr Mittel zum Zweck.“

Der Mann: „Aber ein schönes Mittel! Ich will die Journalisten mit einem Video von Ihrem Erscheinen anlocken. Und die Sensation wäre perfekt, wenn Sie unmittelbar vor den Augen der Journalisten erscheinen. Und dann preise ich denen die App an.“

Martina: „Reicht das? Muss man nicht am besten mit etwas Handgreiflichem auftreten?“ Der Mann fragt zurück: „Und mit was bitte?“ Martina erinnert nun den Mann daran: Er hat doch mal einer Kirchengemeinde Tablets zum Testen versprochen. Und darauf würde auch die App sein. Martina sagt nun, als sei alles so einfach wie ein Wimpernschlag: „Sie erstellen solch ein Tablet, und schon kann ich es zur Werbung hochhalten. Sie brauchen dafür doch nur mit den Fingern zu schnippen.“

Der Mann lachend: „Da hat aber unser Tempo bei Ihnen einen bleibenden Eindruck hinterlassen! Aber gemach, gemach: Wir haben doch keine Kirchengemeinde mehr. Und kriegen Sie überhaupt einen termingerechten Auftritt vor Journalisten hin?“

Martina nun ganz souverän: „Wenn Gott mitspielt, erscheine ich absolut pünktlich vor Journalisten. Und bei mir spielt Gott mit!“

Und dann kommt ihr noch eine durchschlagende Idee: Mit dem hochgehaltenen Tablet lässt sich doch eine neue Testgemeinde suchen! Man muss dieses Anliegen nur laut genug vor Journalisten verkünden. Und sie schätzt: „Da meldet sich dann nicht nur eine Gemeinde. Da gewinnen Sie gleich etliche Gemeinden als Kunden.“

Das ist nun ein Argument für den Mann! Er überlegt und entscheidet: „Gut, wir machen uns ans Tablet. Ich möchte unbedingt die großen Augen der Journalisten zu sehen, wenn Sie auftauchen! Da werben wir gleich für alles andere von uns mit.“

Der Mann ist jetzt allerbester Laune. Und er kommt nun mit einem persönlichen Anliegen heraus: „Darf ich Sie nun auch etwas sehr Privates fragen?“ Martina sagt: “Gern!“ Und jetzt gesteht er: Zwischen ihm und seiner Frau gibt es immer mehr Entfremdung. Er fragt sich sogar, ob seine Frau hinter seinem Rücken etwas mit einem anderen hat. Da käme es ihm nun sehr gelegen, wenn Martina ihm den Schleier etwas von den Augen ziehen könnte – mit ihrer prophetischen Gabe.

Martina stockt der Atem. Sie spürt, Gott macht da nicht mit. Zugleich drängt sich ihr auf: Der Mann will vielleicht etwas von ihr als Frau. Sie kennt zwar männliche Gepflogenheiten noch viel zu wenig. Aber innerlich ahnt sie sehr konkret: Jetzt könnte eine Einladung auf die Jacht folgen. Und die kommt tatsächlich: „Mögen Sie mal wieder an Ihren Tatort zurückkehren? Auf die Schiffsplanken, wo Sie mich gerettet haben?“

Jetzt wird ihr der Mann unangenehm fremd. Und sie fragt: „Meinen Sie, dass Gott mich einfach wieder dahin versetzt?“ Und er: „Das braucht er gar nicht. Ich fahre jetzt gleich hin. Kommen Sie doch einfach mit!“ Er merkt ihre Reserviertheit und fügt hinzu: „Das Tablet soll doch schnell kommen. Das wollen Sie auch. Da gibt es Gesprächsbedarf.“

Eigentlich mag Martina den Mann sehr. Und ein etwas privateres Zusammensein – das könnte sie schon reizen. Aber gleich auf seiner Jacht? Nein, jetzt verrennt er sich gerade und geht zu weit. Und in ihr schreit es: Versuchung! Versuchung!

Martina tritt innerlich ein paar Schritte zurück und fragt den Mann: „Wenn Sie das genau wüssten, dass es Ihre Frau zu einem anderen hinzieht – was hätten sie eigentlich von solchem Wissen? Was würde das besser machen? Viel wichtiger ist doch, dass Sie für Ihre Frau wieder attraktiv werden.“

Das trifft den Mann sichtlich. Er blickt ziemlich abwesend auf eine Stelle an der Wand gegenüber. Aber da er jetzt offenbar nachdenklich wird – vielleicht sogar schuldbewusst –, holt er sich sofort bei Martina Sympathiepunkte zurück.

Martina legt nun nach: „Sie erinnern sich doch: Sie haben sich mal von Gott einiges vergeben lassen. Und das hat Sie davor bewahrt, in einen schlimmen Verlust hineinzutappen. Später habe ich Ihnen vorgeschlagen, Ihr Leben ganz Gott zu unterstellen. Das ist allerdings ein noch schwerwiegenderer Akt. Doch Gott gesteht Ihnen gern eine Testphase zu. Und ich werde auch nicht drängeln. Aber probieren Sie es doch einfach mal! Vielleicht ändert sich dann einiges. Und Ihre Frau schaut Sie plötzlich mit ganz anderen Augen an – vielleicht richtig liebevoll.“

Nach diesen Worten entschwindet Martina wieder einmal abrupt.

71. Gespräch mit Lenkung

Wir sind erneut zu eifrigem Tun im Team beisammen. Nach ein wenig lockerem Hin und Her wollen wir gerade anfangen. Da rappelt das Telefon im Raum: Die Leiterin der Entwicklungsabteilung erkundigt sich, ob wir gerade da sind und ob ein Besuch von ihr genehm wäre. Martina lädt sie herzlich ein.

Sie kommt dann mit der Nachricht: Der Chef hat ihr den Auftrag für das Tablet gegeben. Und er will schnell einen Prototypen sehen. Mit dem will er werben und mögliche Interessenten ködern. Wenn sich dann ein paar Leute darum reißen sollten, will er die Produktion anwerfen. Und wie das Tablet genauer aussehen und funktionieren soll, das soll die Leiterin nun bei uns erfragen.

Martina und ich geben ihr gern Auskunft. Einmal soll die bereits entwickelte Gottes-App ihr spezielles Eigenleben auch auf dem Tablet entfalten können: Gott soll also zum Tabletbesitzer Kontakt aufnehmen und ihn mit Tipps versorgen können. Das ist die eine herausragende Qualität des Tablets. Und die andere ist: Der Tabletbesitzer soll mit anderen Besitzern von Tablets in Kontakt treten und sich mit ihnen austauschen können. Und er bekommt als wesentliches Werkzeug dafür fest vorgegebene Fertigsätze.

Die Leiterin fragt: „Aber telefonieren kann man doch auch damit?“ Ich sage: „Gottes-App und Fertigsätze sind das Entscheidende. Aber Telefonieren geht natürlich auch. Zusätzlich sind zudem noch deutliche Klingeltöne und auch Lichtzeichen wünschenswert, weil alte Menschen oft ein paar Handicaps haben. Eine große Schrift erleichtert zudem Lesen und Verständnis.“

Und Martina fügt noch hinzu: Ein paar Smileys zur Garnierung der Sätze wären auch kein Fehler. Und eine Galerie mit stimmungsvollen Bildern und mit lustigen Filmchen sollte ebenfalls dazu gehören. Das sind kleine Leckerbissen, mit denen man Herzen öffnen und antwortwillig stimmen kann.

„Die Zutaten sind kein Problem“, meint die Frau. „Und die App haben wir auch schon. Aber wie komme ich an die Fertigsätze?“ Ich verspreche sofort: „Für ein erstes Tablet zum Vorzeigen bringen wir noch heute genug zusammen. Bis morgen früh haben Sie die Sätze.“ Mit solch prompter Bedienung hat die Frau nicht gerechnet. Höchst zufrieden verabschiedet sie sich.

Wir lassen nun alles andere liegen und machen uns gleich an die neue Materie. Zunächst einigen wir uns auf eine grobe Richtlinie: Die Sätze dürfen nicht abwertend sein, sondern eher aufmunternd und aufbauend. Und witzige Worte sind auch erwünscht. Die können einfach Lust auf eine lockere Beziehung mit noch ganz fremden Menschen machen.

Die Sätze sollten dabei nach dem Stand des Kontaktes sortiert sein: So sind für die Kontaktaufnahme erst einmal einladende Worte nötig. Dafür brauchen wir zunächst ein paar freundliche Fertigsätze. Darauf muss eine ermutigende Antwort folgen können – wieder mit guten vorgegebenen Worten. Dann kann eine relativ unaufdringliche Frage nach dem Befinden dran sein. Für die Auskunft zum Befinden muss es wiederum Sätze geben, die akzeptabel und angemessen sind. Und so wollen wir uns Stück für Stück vorarbeiten.

Die ersten Sätze sind schnell gefunden. Für den Erstkontakt passt etwa: „Hallo, ich wünsche einen wunderschönen guten Morgen!“ Oder „Hallo, ich wünsche einen richtig guten Tag!“ Oder ganz schlicht: „Hallo! Ich freue mich auf …..“ Dabei bleibt bewusst der Grund für die Vorfreude offen und kann zum Anknüpfungspunkt werden.

Danach sind Worte dran, mit denen man recht zuvorkommend auf die Kontaktaufnahme antworten kann: „Danke für den guten Wunsch!“ oder „Danke für das gepflegte Interesse an meiner Person.“ Oder: „Hiermit eine Portion guter Wünsche zurück!“ Oder: „Ich bin gerade bester Laune – ich gebe gern etwas davon ab.“

Nun könnte die so abgegriffene Allerweltsfrage „Wie geht’s?“ nahe liegen. Unsere Vorschläge dafür sind gehobene Versionen: „Geht’s gerade gut – oder könnte es noch besser gehen?“ Oder: „Hat gerade die Sonne die Oberhand? Oder ist vielleicht Regenwetter angesagt?“ Aber auch leicht ironisch übertriebene Höflichkeit wäre möglich mit: „Wie ist denn das werte Befinden?“

Für das gängige „Mir geht’s gut!“ finden sich dann auch leicht entsprechende Antworten. Deutlich schwieriger ist dagegen eine ehrliche Auskunft, die einräumt, dass es Grund zur Klage gibt. Aber Klagen muss unbedingt möglich sein.

Allerdings besteht dabei die Gefahr, mit purer nackter Klage anderen auf die Nerven zu gehen, ihnen ihre Stimmung zu vermiesen und ihre Antwortbereitschaft auf Null zu senken. Und damit kann man auch noch sich selbst weiter runterziehen. Es ist also ein heikles Gebiet.

Doch wir finden auch Antworten dafür: „Es sich gut gehen lassen, das kann doch jeder. Ich bin gerade mitten in einer schwereren Übung.“ Oder: „In unserer Demokratie ist es ja erlaubt zu klagen. Und ich bin ein guter Demokrat.“ Oder auch: „Ich fahre derzeit U-Bahn – mir geht es unterirdisch.“

Für die folgende Kommunikation drängt sich aber dann immer mehr die Frage auf: Das Gespräch weiterführen mit Du oder Sie?

Man könnte da weiterkommen mit der platten Frage: „Wie halten wir es denn von jetzt an: Sind wir für das Du oder das Sie?“ Man könnte aber auch etwas zurückhaltender fragen: „Ich zerbreche mir gerade den Kopf darüber, ob das Du oder das Sie für uns jetzt ergiebiger ist.“ Oder man geht das Thema etwas kreativer an. Martina macht dafür den Vorschlag: „Ich mag ja das Du wie in Dunst, Duft, Durst. Aber ich habe auch kein Problem mit dem Sie wie in Sieben, Siegel, Sieg. Wie halten wir es denn jetzt damit?“

Wir merken nun allerdings: Wenn diese Frage der Anrede geklärt ist, müssten alle weiteren Frage- und Antwortsätze sowohl in Du- als auch in Sie-Form zur Verfügung stehen. Ein solcher Gesprächsfortschritt überfordert uns allerdings im Moment. Es soll erst einmal reichen, ein paar Sätze für ein kurzes Hin und Her bereitzustellen, ohne die Art der Anrede zu klären.

Tobias kann schließlich gut fünfzig mögliche Fertigsätze an die Mailadresse der Leiterin übermitteln.

72. Minifeier als App

Wie gewohnt sind wir wieder bei Jo. Und wir können ihm stolz melden: Das Tablet ist auf dem Weg! Jo gratuliert uns. Und dann fragt er: „Wie ist denn jetzt überhaupt der Stand der Dinge?“

Für uns sind App und Tablet nun schon fast in trockenen Tüchern. Jo fragt: „Und euch geht es jetzt richtig gut?“ Er bringt uns ins Nachdenken. Und Martina merkt: Innerlich spürt sie noch einen Stachel in sich: Weil aus dem einmal angedachten neuen Gottesdienst nichts geworden ist. Und da kann ich mich ihr nur anschließen.

Jo nun: „Könnten wir denn Teile davon retten?“ Die Frage bricht plötzlich unseren eng gewordenen Horizont auf. Ja, könnte sich denn etwas retten lassen? Wir erinnern uns: Bei der angedachten Gottesfeier waren Impulssätze zentral. Sie ähnelten ein wenig den Tipps bei unserer Gottes-App. Und anstelle einer langen Predigt hatten wir bei der Gottesfeier zum Beispiel kurze Textblöcke vorgesehen. Nun macht es klick bei uns: Warum nicht die Gottes-App mit solchen kleinen Texten ergänzen? Ein Erklärungstext könnte etwa – als Zugabe – einen Tipp von Gott erläutern und sein Verständnis erleichtern oder seine Impulskraft stärken.

Im Gespräch weitet sich noch unser Blick: Ein paar zusätzliche Töne drumherum ließen sich auch noch spendieren. Und unversehens verschiebt sich unsere Perspektive völlig. Denn wir merken: Wir haben ja plötzlich eine Magerversion der angedachten Gottesfeier vor uns! Und wenn wir noch weiter denken und die damaligen Ideen extrem abspecken, passt diese Version sogar glatt in eine ganz eigene App. Das wäre dann eine Gottesfeier-App!

Unsere Seele hat sich einmal ziemlich schmerzhaft von der Idee der Gottesfeier verabschiedet. Jetzt kommt sie gar nicht so schnell mit, wie sich unsere Gedanken scharf in die Kurve legen und eine totale Kehrtwende machen.

Eine abgemagerte Gottesfeier? Wir denken dabei jetzt an zwei Impulssätze. Und beide werden mit einer erläuternden Erklärung versehen. Damit gibt es statt einem einzigen Tipp – wie bei der Gottes-App – nun insgesamt vier Textimpulse bei der neuen App. Und damit bietet sie eine gewisse Fülle im Kleinformat.

Der ehemalige Entwurf der Gottesfeier ist damit auf ein Miniformat geschrumpft. Und er dauert nun vielleicht nur fünf Minuten. Aber diese Version ist dafür jederzeit und überall abrufbar: Auf den höchsten Berggipfeln und im tiefsten Tal. Im dahinrasenden Zug und im sanft schaukelnden Boot auf dem See. Oder noch morgens im Bett und ebenso abends direkt vor dem Zubettgehen.

Doch kann man dieser neuen Idee trauen? Wir überlegen. Wie viele Menschen haben das Bedürfnis, einfach mal ein kleines Stück Jenseits in ihr Diesseits zu holen? Wie viele reizt es, sich ein paar Minuten Ausstieg aus der Realität zu gönnen? Wie viele möchten mitten am Tag mal andächtig aus ihrem vielleicht überaus stressigen Trott ausscheren?

Immerhin hätte solch eine Minifeier einen kleinen, aber wesentlichen Kick zu bieten: Gott selbst könnte auch hier wieder per Auslosung die Texte auswählen – also die zwei Impulssätze samt Erklärungen. Wer ernsthaft Gott begegnen möchte, wird damit auch wieder von ihm selbst bedient. Deutlich wird das, wenn jeder Impulssatz beginnt mit „Gott sagt dir jetzt: ….“ oder „Gott bittet dich jetzt: ….“ oder „Gott fragt dich jetzt: ….“

Aber reicht das? Martina meint: „Es kommt auch auf die Ausgestaltung an. Die Menschen müssen sich hinterher ein Stück erhoben fühlen.“ Und wenn sie das gleich beim ersten Mal erleben, dann klicken sie auch gern wieder die Gottesfeier-App an.

Wir merken: Die praktische Ausgestaltung muss Zugkraft entwickeln. Die Minifeier muss eine Komposition aus besten Zutaten sein: Aus optimaler Musik, aus optimalen Impulssätzen und aus optimalen Erklärungen dazu. Und möglicherweise ist auch noch an ein paar Varianten zu denken, weil zum Beispiel nicht alle Menschen bei denselben Klängen andächtig werden.

Martina meint zudem: Ein wichtiges Element könnte auch das Gefühl von Gemeinschaft sein. Manchen Menschen könnte es gut tun, wenn beispielsweise kirchliche Chormusik den Eindruck vermittelt: Im Hintergrund singen viele Gleichgesinnte, und man kann sich ein bisschen in eine Gemeinschaft mit ihnen hineinfallen lassen.

Im Übrigen könnte man die Gottesfeier-App auch zu zweit oder in einer kleinen Gruppe nutzen. So kann man zu beliebiger Zeit an beliebigem Ort eine bescheidene, aber trotzdem eindrückliche kleine Gottesfeier erleben.

Doch jetzt ist noch offen: Der Gottes-App mit ihren Tipps haben wir mal spielerische Leichtigkeit unterstellt. Kann das nun auch für eine Minifeier gelten? Und wie wäre Leichtigkeit zu gestalten?

Martina sieht es so: „Eine kleine Gottesfeier kann nur erhebend wirken, wenn sie zumindest teilweise leicht daherkommt. Sie darf nicht nur von Ernst und Schwere triefen. Da lässt sich nun ein Spannungsbogen vorstellen. Etwa so: Erst einmal beginnt relativ neutrale Musik. Und der darauf folgende Impulssatz wirkt auch noch relativ neutral. Danach werden die Töne ernst und getragen, und die folgende Erklärung hat nun etwas Ernstes. Doch dann leben die Klänge auf. Sie werden leichter. Und der zweite Impulssatz wirkt ebenfalls entsprechend leichter. Darauf folgt heitere Musik. Und die sich nun anschließende Erklärung ist vielleicht nicht nur heiter, sondern sogar spritzig. So erhält eine Minifeier dann einen besonderen Pfiff.“

Und schließlich rechnen wir auch noch nach: Wenn hundert neutrale bis ernste Impulssätze samt Erklärungen bereitstehen und sich ebenso hundert leichte bis spritzige Impulssätze mit ihren Erklärungen anschließen, dann lässt sich daraus ganz viel machen: Per Auslosung hätte Gott die Möglichkeit, daraus hundert mal hundert verschiedene Kombinationen zusammenzustellen!

Am Ende sind wir begeistert von der Idee. Wenn wir schon auf eine Gottesfeier in der Länge herkömmlicher Gottesdienste verzichten, dann ist ja vielleicht wenigstens eine Minifeier drin!

Jo hat sich nicht eingemischt und die Überlegungen ganz uns überlassen. Er hat einfach nur dabei gesessen und uns mal mit zustimmendem Nicken oder fragendem Gesicht begleitet. Nun möchte er aber wissen: „Und wie gedenkt ihr, diese Idee anzugehen?“

Mir ist klar: Lea müsste dabei eine zentrale Rolle spielen. Und ich möchte gleich mit Lea klären, ob sie sich an solch ein Vorhaben wagen mag.

Ich rufe Lea an. Und sie nimmt ab und hat erst einmal viel Zeit, mir zuzuhören. Und dann ist sie auch noch bereit, beträchtliche Zeit in unsere neue Idee zu investieren.

Ich beschreibe ihr ziemlich genau, was uns vorschwebt. Lea könnte dabei für alle Klänge zuständig sein. Im Gespräch wird uns allerdings klar, dass bei solcher App auch noch die Texte laut und deutlich gesprochen werden müssten. So wie bei jedem Gottesdienst. Nur so kann sich ein einheitliches Ganzes ergeben.

Nun frage ich Lea, ob sie auch noch zur Sprecherin der Texte befördert werden mag. Lea überlegt. Und dann wächst bei ihr hörbar die Lust, solch eine Minifeier von Anfang bis Ende durchzugestalten. Sie fragt allerdings: „Ist denn meine weibliche Stimme als Gottes Stimme überhaupt akzeptabel – insbesondere für Männer?“ Ja tatsächlich, das könnte nicht so günstig sein.

Als männlicher Sprecher käme da vielleicht Tobias infrage. Er hat eine ganz angenehme Stimme. Wir werden uns nun einig, dass Lea deshalb mit Tobias spricht. Denn sollte er zur Sprecherrolle bereit sein, müsste er sowieso mit Lea in Kontakt treten. Nur bei ihr sind Sprachaufnahmen möglich.

Jo und Martina haben bisher unserem Telefonat schweigend zugehört. Martina findet das gefundene Arrangement ausgesprochen gut. Und nun kommt sie zu mir und ruft so laut, dass auch Lea es hört: „Wir brauchen noch kein perfektes Ergebnis!“ Und ich ergänze: „Wir brauchen vor allem erst einmal eine lebendige Vorstellung davon, wie eine Minifeier aussehen kann.“

Aber auch wenn letzte Perfektion nicht das Ziel ist: Ohne Texte geht es nicht, und die fehlen Lea noch. Die braucht sie nun unbedingt! Ich verspreche ihr, die Texte schnellstmöglich zu liefern. Und Jo ruft aus dem Hintergrund: „Ich helfe euch dabei!“

Letzte Runde

73. Schock und neue Perspektive

Es ist gerade Sonntag. Und an diesem Sonntagmorgen bitte ich Jo, für mich einen Tipp von seiner Internetseite abzurufen. Gewissermaßen als Zeichen der Wertschätzung für diesen besonderen Wochentag. Als Jo dann die Seite anklickt, sitze ich daneben und lese: „Du darfst dich ausruhen.“

Sonntag und Ausruhen: Das passt zwar absolut! Dafür hat Gott ja – so heißt es in der Schöpfungsgeschichte – den Sonntag erschaffen. Aber ansonsten geht der Tipp eigentlich für mich sehr daneben, denn ich spüre keinerlei Bedürfnis nach intensiverem Ausruhen.

Ich stehe einfach grundsätzlich unter existentieller Spannung. Und das vom ersten Tag an, als ich hörte: Ich sei eine wichtige Figur. Ich könne für Menschen Besonderes leisten, und meine Existenz würde nie belanglos sein. Kann man sich selbst da überhaupt Ausruhen zugestehen?

Später: Ich sitze nun mit Martina wieder auf der Bank in der Picknickgruppe. Da, wo uns Jesus schon einmal aufgesucht hat. Der Sonntag beglückt uns eigentlich mit überschwänglicher Morgensonne. Aber der Tipp zu Tagesbeginn hat einen kleinen Schatten in mir hinterlassen. Da ist irgendetwas in mir aufgerissen – und das durch einen eigentlich harmlos freundlichen Satz.

Ich erzähle Martina davon. Sie guckt mich an, schaut dann in die Ferne, kommt mit ihren Augen wieder zurück zu mir und meint dann: „Dies wird wohl ein besonderer Tag. Mit Sicherheit sitzen wir nicht ohne Grund hier.“ Aber noch ist völlig schleierhaft, was jetzt anstehen könnte.

Und so sitzen wir erst einmal da und lassen uns von der Sonne verwöhnen. Wir erwarten, dass Jesus hier wieder erscheinen wird. Und es ist schon ein gutes Stück Spannung und Neugier da, was er uns mitbringen wird.

Und plötzlich sitzt uns dann Jesus tatsächlich wieder gegenüber. Er schaut uns lange nachdenklich an. Und wir spüren: Er hat wirklich Bedeutsames mitzuteilen. Er fängt so an: „Arno, ich habe dir mal gesagt: Du kannst für die Menschen Besonderes leisten. Innerlich hast du dabei allerdings immer hören wollen: Du kannst Großes leisten. Und du hast von Spektakulärem geträumt: Gott würde dich diese Welt deutlich besser machen lassen.“

Habe ich das? Oh ja, da ist etwas dran! Und wenn ich ehrlich bin, dann wacht etwas davon genau jetzt wieder auf und fragt voller Hoffnung: Wird Jesus jetzt besonderen Fortschritt verheißen?

Jesus nun weiter zu mir: „Du hast auch von ziemlich himmlischen Gottesfeiern geträumt. Und ihr beide habt alles getan, was dafür möglich war.“ Ein Lob! Jesus hält inne und lächelt uns innig an.

Dann fährt er fort: „Für solche Feiern braucht es allerdings Kirchen voll offener Herzen. Doch die sind zur Zeit nicht in Sicht.“ Nun frage ich mich prompt und erwartungsvoll: Oh, weiß Jesus eine wunderbare Alternative?

Doch dann kommt von ihm: „Wisst ihr, von mir ist ein Ausspruch überliefert, der eure Situation ein wenig trifft. Danach habe ich mal gesagt: Ich möchte auf der Erde ein Feuer anzünden, und es würde mich freuen, wenn es schon hell brennen würde. Aber mir war zu dem Zeitpunkt schon bewusst, dass ich das nicht mehr erleben würde – also nicht mehr in meinem irdischen Leben.“ Jesus schweigt lange. Und die Ahnung, die uns nun beschleicht, wird immer größer und schockierender.

„Und nun ist es so: Ihr seid auch dabei, etwas in die Welt zu tragen. Nämlich die Tipps von Gott. Und ihr habt inzwischen alles dafür in die Wege geleitet. Aber ihr werdet ihre Ausbreitung nicht mehr erleben.“ Und dann sagt Jesus ganz klar: „Eure Zeit läuft ab!“

Wir hatten es eigentlich fast vergessen über den Vorhaben der letzten Zeit: Unser Leben ist begrenzt. Und nun soll es schon nach ein paar Monaten enden?

Wir haben uns an Menschen gewöhnt, und sie sind uns lieb geworden. Wir haben Aufgaben übernommen, und wir haben uns ganz in sie hineingegeben. Wir haben mit Jesus und Gott gelebt, und sie sind uns sehr nahe gekommen.

Und jetzt Abbruch, Ende? Das schmerzt, das zerreißt die Seele!

Ist das Spiel aus, und wir werden jetzt weggeworfen?

Oder ist das jetzt eine Situation, in der wir aufstehen und ein Weiterleben einfordern müssen?

Ich sehe: Martina kommen die Tränen. Und da kommen sie mir auch.

Jesus schweigt lange. Er wartet, bis wir uns ein wenig gefasst haben.

Schließlich fragt er: „Ist Gott nun ein rücksichtsloser oder ein liebevoller Gott?“

Seine Frage lässt aufhorchen und gibt Hoffnung.

Und dann sagt Jesus weiter: „Ihr wisst, das Buch ist der Grund für euer Dasein. Und ihr wisst: Ein Buch endet immer irgendwann. Früher oder später. Und dieser Zeitpunkt ist jetzt in greifbare Nähe gerückt.“ Er wartet wieder einen Moment. Und dann fragt er: „Wünscht ihr euch nun ein Weiterleben – wenigstens in irgendeiner anderen Form?“

Martina und ich schauen uns an. Ja doch, das ist für uns sonnenklar: Wir wollen weiterleben – und das eigentlich auch unbedingt miteinander!

Und Jesus: „Gut, Gott bietet euch das an. Aber zu seinen Bedingungen.“

Er schweigt wieder. Und dann: „Zuvor ist noch zu sagen: Ihr denkt, die App mit den Tipps von Gott wird ein Renner. Ja, Gott wird tatsächlich damit viele Menschen beglücken können. Denn je stärker Menschen erwarten, dass Gott ihnen da begegnet, desto mehr wird das auch geschehen. Und allgemein gilt: Je größer der Glaube, desto fruchtbarer die App.“

Aber dann sinkt seine Stimme ab: „Doch die App wird auch auf Ablehnung stoßen. Menschen argumentieren dann etwa mit Gottes Heiligkeit. Sie meinen: Gott darf man sich nie weit nähern – und schon gar nicht spielerisch! Und sie können noch viele andere Gegenargumente auftischen.“

Jesus schaut uns etwas traurig an: „Ja, es kann richtig Streit geben um die App. Doch genau das bleibt euch erspart! Das braucht ihr nicht mehr zu erleben.“

Wir sitzen da und finden Streit schon ziemlich deprimierend. Und wir sind auch nicht böse, wenn er uns erspart bleibt. Aber wie kann dann unser weiteres Leben aussehen?

Und jetzt rückt Jesus damit heraus: „Ihr könnt wie alle Menschen guten Willens an Gottes ewiger Herrlichkeit teilhaben. Gott will euch genauso viel schenken wie den normalen Menschen, die in seinem Sinne leben und sterben.“ Oh, das klingt gut!

„Aber das ganz normale menschliche Dasein kennt ihr noch zu wenig. Da habt ihr noch Nachholbedarf. Da müsst ihr zunächst etwas aufholen. Erst danach kann sich der Himmel für euch öffnen.“ Das hört sich annehmbar an.

„Nachholen bedeutet aber für euch: Ihr müsst noch heftigere Erfahrung mit Leid machen. Denn kein Mensch kommt daran vorbei. Und deshalb ist Gottes Bedingung für euch: Ihr müsst ein Leid auf euch nehmen, das tödlich endet.“ Da stockt mir nun doch der Atem!

Und Jesus weiter: „Dieses tödliche Leid trifft einen von euch beiden direkt. Aber das heißt für den Betroffenen: Es geht für ihn durch den Tod hindurch bald hinüber in Gottes Herrlichkeit. Der andere von euch beiden hat dabei das Leid mitzutragen und die Pflege zu übernehmen. Für ihn bleibt allerdings offen, wann er nachfolgen kann.“

Das ist nun wahrhaftig kein Zuckerschlecken mehr! Der Preis für unser Weiterleben ist hoch! Den kann man nicht mal eben locker auf sich nehmen.

Ich frage deshalb: „Wir haben Bedenkzeit?“ Und Jesus: „Ja. Ihr müsst sowieso noch einiges regeln und zum Abschluss bringen.“

Jesus sieht uns noch einmal lächelnd und aufmunternd an. Dann verschwindet er.

Und wir sitzen nun da und müssen erst einmal verkraften, was er gesagt hat. Und was für Entscheidungen er uns aufgedrückt hat.

Martina legt nun ihre Hand auf meine. Das hat sie noch nie getan. Dann schaut sie mich an und sagt ganz liebevoll: „Du, das schaffen wir!“

Wie war doch der Tipp heute Morgen? Ach ja: „Du darfst dich ausruhen.“ Bei Gott war der siebte Tag, also der heutige Sonntag, der Ruhetag nach anstrengender Schöpfung. Wir sind bisher auch ein wenig mit den neuen Apps und dem neuen Tablet an seiner der Schöpfung beteiligt. Und nun dürfen und sollen wir ebenfalls vom bisherigen Einsatz ausruhen?

Tatsächlich: Völlig unerwartet löst sich in mir ein Stück Stück Anspannung. Trotz der niederschmetternden Botschaft, die eigentlich neue Spannung aufbauen sollte. Und warum löst sich etwas? Ich merke: In mir grummelte bisher immer untergründig die Frage: Was wird mit uns am Ende des Buches? Da zeichnet sich nun immerhin etwas ab, das letztlich vielleicht doch akzeptabel ist.

Und dann gab es in mir immer noch die weitere Frage: Muss die Distanz zwischen Martina und mir ewig bleiben? Doch nun war Martinas Hand auf meiner Hand irgendwie ein Zeichen, das mir sagte: Unsere Distanz darf ziemlich bald bröckeln und in sich zusammenfallen. Das ist nun wirklich ganz viel!

74. Vorletzte Schritte

Jetzt brauchen wir dringend Jo. Wir müssen besprechen, wie es ist, realer Mensch zu sein. Und was drumherum alles dazugehört.

Und es zeigt sich: Jo möchte uns seinerseits noch ein Stück weiter begleiten. Er ist nur allzu gern bereit, uns den Weg ins reale und normalmenschliche Dasein zu ebnen.

Jo nun: „Das Allererste, was ihr braucht, ist eine Unterkunft. Ihr müsst ja irgendwo schlafen. Eine gut ausgestattete Küche muss auch sein. Und beides läuft auf eine Art Ferienwohnung hinaus. Ich weiß sogar ein kleines leer stehendes Ferienhaus. Das kriege ich vermutlich vorübergehend für euch. Da sind sich Erben noch uneins, wie es mit dem Haus weitergehen soll.“

Jo geht gleich an seinen Arbeitsplatz, sucht eine Nummer heraus und telefoniert. Und beim Telefonat klingt es so, als wenn die andere Seite ganz froh ist, in Jo einen zuverlässigen Zwischenmieter an Land zu ziehen.

Jo dann weiter: „Ihr braucht auch Lebensmittel. Und der Haushalt muss ebenfalls in Schuss gehalten werden. Dabei helfen euch vielleicht Hannah und die anderen.“

Nun überlegt Jo. Dann meint er: „Ärztliche Versorgung ist außerdem ein Muss. Doch ihr seid nicht versichert. Immerhin ist das privatärztlich zu regeln. Und nicht zuletzt: Ihr braucht nun unbedingt ein eigenes Handy, damit ihr für alle direkt erreichbar seid.“

„Und ach,“ meint Jo schließlich noch, „ihr braucht doch auch Kleidung. Da heißt es, erst einmal ausgiebig einkaufen gehen. Und selbstverständlich: Ich komme für alles Finanzielle auf.“

Noch ist unsere endgültige Entscheidung für ein normalmenschliches Dasein nicht gefallen. Doch Jos Auskunft erleichtert uns schon mal ungemein. Der ganz große Knackpunkt ist allerdings: Wer von uns wird todkrank und pflegebedürftig? Und wer übernimmt die Pflege? Wir schieben das nur allzu gern vor uns her. Denn das ist nun mehr als heikel!

Aber erst einmal müssen wir Angefangenes noch sinnvoll beenden. Jo rät uns zudem, möglichst bald mit offenen Karten zu spielen – also die anderen in unsere besondere Existenz einweihen. Dann sind sie wohl auch bereit, uns bei unserer Ankunft im normalmenschlichen Leben zur Seite zu stehen.

Es dauert nun eine ganz Zeit, bis wir uns gedanklich wieder den bisherigen Aufgaben zuwenden können. Wo stehen wir da eigentlich? Wir müssen uns erst einmal besinnen. Und ich erinnere mich schließlich, dass doch noch Texte für die Minigottesfeier zu erstellen sind. Das sollten wir jetzt erst einmal anpacken.

Jo vermutet allerdings gleich, dass wir uns nur schwer auf die Texte zu konzentrieren können. Er schlägt deshalb vor, das gemeinsam zu machen. Und das hatte er uns eigentlich sowieso schon versprochen.

Gut, dann jetzt an die Texte! Wir erinnern uns nun: Für eine Minifeier hatten wir schon angedacht, dass einem Impulssatz ein erläuternder Text folgen soll. Und mit Blick auf ein Mindestmaß an Fülle hielten wir es für nötig, in der kleinen Gottesfeier zwei Impulssätze samt Erläuterungen unterzubringen – gut verpackt in Musik von Lea.

Vielleicht können irgendwann mal hunderte verschiedene Versionen zum Abruf bereit stehen. Doch jetzt reicht erst einmal eine einzige Version zur Demonstration. Und das heißt: Es genügen nun zwei Impulssätze mir erläuternder Ergänzung.

Um den ersten Impulssatz zu bekommen, rufen wir einfach von Jos Internetseite einen Tipp ab. Und es kommt dieser Tipp: „Ich sehe, wie du dich mühst.“ Zugleich hatten wir uns schon vorgenommen, diesen Tipp als höchst aktuell darzustellen mit dem Satz: „Gott sagt dir jetzt“. Und mit dieser Einleitung lautet jetzt also der Impulssatz:

„Gott sagt dir jetzt: Ich sehe, wie du dich mühst.“

Ich denke: Oh, ein ernster und schwerwiegender Tipp als Impulssatz! Und Jo schiebt mir auch noch zu, einen ersten Gedanken dazu zu formulieren. Doch Martina kommt mir zuvor: „Gott nimmt dankbar wahr, wie der Mensch sich müht. Er freut sich darüber.“

Ich ergänze daraufhin ihren Gedanken mit: „Und Gott ist gern bereit, dafür den Menschen zu beschenken.“ Jo wirft ein, dass Gott den Menschen aber auch schon vorher beschenkt hat. Am Ende erläutern wir dann schließlich den Satz so:

„Gott gibt dem Menschen sein Leben. Und er beschenkt ihn täglich mit weiteren Gaben. Da freut sich Gott, wenn du deinerseits Mühe und Arbeit klaglos auf dich nimmst. Und er weiß dabei durchaus, dass er dir manchmal Belastungen zumutet, die nur schwer zu tragen und zu ertragen sind.“

Wir finden das einen gelungenen Auftakt. Und wir machen uns gleich an einen zweiten Impulssatz samt ein paar knapp erläuternden Worten.

Wir rufen also einen weiteren Tipp ab. Und das kommt jetzt:

„Es ist etwas ganz Besonderes für mich, wenn du mir volles Vertrauen schenkst.“

Martina erinnert sich nun, dass sie sich einen Spannungsbogen für eine Minifeier wünschte: Zuerst sollten dabei Texte und Musik eher schwer und ernst sein. Danach sollten sie leichter und vielleicht sogar spritzig werden. Und dieser zweite Tipp wirkt nun schon deutlich freundlicher. Das passt!

Wir erarbeiten nun auch noch eine innerlich aufbauende und erhebende Erläuterung dazu. Das heißt: Jo macht das Wesentliche. Als die Erläuterung steht, sind wir der Ansicht: So, das ist es jetzt!

Aber im Moment sind wir nicht ganz bei der Sache und denken nur begrenzt mit. Und Jo macht uns nun darauf aufmerksam: Impulssätze und Erläuterungen sind noch nicht alles! Eine kleine Gottesfeier braucht am Anfang einen vorbereitenden und hinführenden Text. Und ebenso sind am Ende ein paar Worte zum Ausklang fällig. Wir überlegen also noch ein bisschen hin und her. Und schließlich haben wir dafür tatsächlich ein paar knappe, aber aussagekräftige Worte beisammen.

Eigentlich sollte ich jetzt sofort die Texte direkt Lea übermitteln. Aber ich habe noch Jos Anregung im Ohr, die anderen und damit auch Lea in unsere Existenz einzuweihen. Dazu fühle ich mich aber noch nicht in der Lage. Jo nimmt es mir deshalb ab, ihr die Texte zukommen zu lassen. Und er verspricht, es bald zu tun und ihr auch die Sache mit Spannungsbogen zu erläutern. Dann kann sich Lea an die klangliche Gestaltung der kleinen Gottesfeier machen.

Die Arbeit hat uns gerade gut abgelenkt. Aber danach sind wir wieder ganz auf uns zurückgeworfen. Und da holt uns schnell die Frage ein, wie wir es denn damit halten wollen: Wer pflegt? Und wer wird gepflegt? Doch wir schieben die Entscheidung gern noch ein bisschen weiter vor uns her. Sie läuft uns nicht weg.

75. Klare Entscheidung

Jetzt sind wir an einem neuen Tag wieder bei Jo im Arbeitsraum. Mit neuer Energie. Und Jo überlässt uns heute den gesamten Raum und zeigt sich erst gar nicht.

Jetzt wollen wir aber doch die Entscheidung anpacken. Denn erst wenn da Klarheit herrscht, finden wir heraus, ob wir wirklich noch ein Stück Leben an unsere derzeitige Existenz dranhängen wollen.

Martina hat jetzt eine Idee: Jeder schreibt ganz ehrlich auf ein Stück Papier, was sein Wunsch ist. Dann zeigen wir uns gegenseitig das unverrückbar Niedergeschriebene. So kommt keiner in Versuchung, dem anderen nach dem Munde zu reden.

Gut, ich hole uns also zwei Zettel samt Stiften von Jos Arbeitstisch. Und wir schreiben den persönlichen Wunsch auf. Dann legen wir die Zettel nebeneinander. Und siehe da: Martina möchte die himmlische Herrlichkeit recht bald erreichen. Und dafür nimmt sie eine tödliche Krankheit in Kauf. Ich dagegen habe mich für die Pflege entschieden. Das passt doch wunderbar zusammen!

Nun muss ich aber einfach Martina fragen: „Bei dieser Wahl bist du doch ganz auf mich angewiesen. Hast du denn so viel Vertrauen zu mir?“ Und Martina strahlt mich an: „Wen würde ich denn sonst lieber an meiner Seite haben?“ Was für eine Liebeserklärung!

Ich selbst möchte noch einige Zeit das ganz normale Leben erleben – und zwar ohne tödliche Drohung über mir. Dafür nehme ich in Kauf, ganz fest an Martinas Seite zu stehen, sie leiden zu sehen und sie bis in den Tod zu begleiten. Das wird wahrhaft nicht einfach. Und danach bleibe ich auch noch allein übrig. Das kann sich noch zu einer schwer erträglichen Härte auswachsen.

Martina erkennt das: „Wunderbar! Du bist bis zuletzt bei mir. Aber danach wirst du wohl sehr allein sein?“ Und ich: „Kann gut sein. Aber dich zieht es hinein in Gottes Herrlichkeit, auch wenn der Weg steinig wird. Und da möchte ich dich nicht stoppen.“ In diesem Moment sind wir uns ganz nah.

Jetzt ist nur noch die Frage: Wie teilen wir unsere Entscheidung ganz offiziell der göttlichen Seite mit? Aber die wird sich schon noch melden.

Und dann ist die Gelegenheit schneller da als gedacht. Wir werden wieder zu der Kapelle der leidgeprüften Bäuerin versetzt. Sie ist uns noch als Ort einer wichtigen Entscheidung gut in Erinnerung: Da entschlossen wir uns ja mal, tiefer in Gottes Willen einzuschwingen.

Und jetzt? Jetzt ist eigentlich nur noch dran, den Himmel über unsere Entscheidung in Kenntnis zu setzen und ihm mitzuteilen: Ja, wir sind bereit, ein Stück Leidenszeit auf uns zu nehmen. Dafür wird uns dann das Weiterleben als Normalmensch gewährt. Und darüber hinaus wird Martina garantiert: Sie erhält einen schnellen Umzug in die himmlische Herrlichkeit.

Ausgerechnet jetzt umschmeichelt uns aber noch eine sehr irdische Herrlichkeit von allen Seiten: Der Himmel ist glasklar. Die Sonne scheint, als wenn sie sich selbst übertreffen möchte. Die Höhenzüge um uns herum rücken so dicht heran, als wenn sie kein Wort und keinen Laut von uns verpassen wollen. Und die Grillen ringsum schrillen so laut, als wenn es gilt, den Himmel schon jetzt mal ein Stückchen für uns zu öffnen. Es ist, als wenn gerade eine gewaltige Feier beginnt.

Worauf will das alles hinaus? Martina fragend: „Vielleicht gehen wir erst einmal hinein?“ Ok. Und so öffne ich die Tür, und wir treten wieder hinein in den so unaufdringlichen Innenraum der Kapelle.

Direkt vor uns das Kniebrett, auf das es uns schon einmal zog. Martina schaut mich nur an, und sofort ist klar: Wir gehen wieder auf die Knie.

Doch noch ehe wir etwas denken können, steht Jesus schon im winzigen Altarraum vor uns. Er lächelt uns an. Und dann fragt er: „Ihr habt dem Himmel etwas mitzuteilen?“ Wir: „Ja!“

Damit sind wir nun gleich bei unserer Zukunft. Und Jesus fragt jetzt genauer: „Ihr habt euch entschieden: Jetzt noch ein Stück Leben auf der Erde?“ Wir geben ihm jetzt ein besonders starkes gemeinsames „Ja!“

„Und ihr bleibt auch dabei: Ein Leben mit Pflege und Tod?“ Unser Ja kommt erneut, fällt nun aber leiser aus.

„Und ihr teilt es so auf: Du, Martina, wirst die Leidende sein. Und du, Arno, bist der Pflegende?“ Unser Ja kommt jetzt sehr behutsam.

Doch dann wird Martina plötzlich forsch. Sie stellt eine Bedingung: „Wenn ich schon die Leidende werde, dann will ich aber, dass dafür ein anderer Mensch von seinem Leiden befreit wird. Und zwar eine Mutter von kleinen Kindern.“ Jesus schaut sie erst prüfend, dann freudig lächelnd an: „Das wird dir gewährt!“

Jesus hat nun noch eine letzte Frage: „Und ihr bleibt zusammen, bis der Tod euch scheidet?“

Jetzt haben wir ein ziemlich zärtliches Ja.

Jesus beglückwünscht uns dazu – unerwartet feierlich. Und er legt meine Hand auf Martinas Hand. Nun lächelt er uns beide an, als wenn er uns etwas aus tiefstem Herzen gönnen würde.

Und damit verschwindet er vor unseren Augen.

Ich drücke Martinas Hand. Sie lächelt mich an und versteht ohne Worte, dass ich ihr unverbrüchlich bestätige: Ja, bis der Tod uns scheidet!

76. Minifeier und Taschen-Gottesdienst

Lea hat Bescheid gegeben, dass eine erste kleine Gottesfeier vorführbereit ist. Zu zweit waren sie sehr fleißig.

Wir verabreden uns zu einem Extratermin im bisherigen Arbeitsraum. So bekommen auch Hannah und die Entwicklungsleiterin Gelegenheit, die Früchte der bisherigen Arbeit zu genießen.

Und dann sitzen wir da: Die einen freuen sich darauf, ihr klingendes Arbeitsergebnis vorzuführen. Und die anderen sind gespannt, was ihnen dabei zu Ohren kommen wird.

Lea erläutert zunächst: Zweimal kommt Chorgesang vor, damit die Hörer sich in eine große Gemeinde eingebunden fühlen können. Und im Übrigen spricht sie selbst bei der Aufnahme die Texte, spielt Flöte und sitzt auch am Klavier. Dann geht es los:

Gleich am Anfang hören wir ein Stück Chor mit getragenem und andächtig stimmendem Gesang. Danach kommt Leas Stimme mit den Worten:

Gott ist dir äußerst wohlgesonnen. Er liebt dich. Und er will dich nun beschenken.“

Darauf folgen ein paar zarte und besinnlich stimmende Flötentöne. Dann spricht Lea wieder:

Was spürst du? Was denkst du? Was brauchst du? Nimm dir einen Moment Zeit dafür.“

Wieder Flötentöne – jetzt aber etwas dunkler und getragener. Darauf folgt der Impulssatz:

Gott sagt dir jetzt: Ich sehe, wie du dich mühst.“

Zur Abwechslung erklingt nun leise, langsam und zurückhaltend ein Klavier. Dann kommt der erklärende Text zum Stichwort Mühe:

Gott gibt dem Menschen sein Leben. Und er beschenkt ihn täglich mit weiteren Gaben. Da freut sich Gott, wenn du deinerseits Mühe und Arbeit klaglos auf dich nimmst. Und er weiß dabei durchaus, dass er dir manchmal Belastungen zumutet, die nur schwer zu tragen und zu ertragen sind.“

Wieder Klavierklänge. Sie klingen jetzt dunkel und nach tiefer Belastung und Trauer.

Dann der zweite Impulssatz:

Gott sagt dir jetzt: Es ist etwas ganz Besonderes für mich, wenn du mir volles Vertrauen schenkst.“

Weitere Klavierklänge. Aber sie werden nun wieder heller und freundlicher.

Und jetzt ein erklärender Text zum Stichwort Vertrauen:

Alle guten Beziehungen leben von Vertrauen. Dabei braucht es manchmal einen mutigen Vertrauensvorschuss. Nur so erfährt man, ob man der anderen Seite wirklich trauen kann. Gott jedenfalls freut sich, wenn du ihm solch einen Vorschuss gewährst. Und überhaupt belohnt er dir letztlich jedes Vertrauen. Er beschenkt dich dafür schon jetzt manchmal mit Freude – und am Ende einmal überreichlich mit Glück.“

Und nun fröhliche bis jubelnde Klavierklänge. Dann kommt:

Gott fragt dich jetzt: Möchtest du ihn vielleicht um etwas bitten?

Nun aufmunternde Klavierklänge.

Möchtest du jetzt vielleicht danken?“

Jetzt heitere Klavierklänge.

Dann legt ein Chor mit Gotteslob los.

Und danach kommen noch die Worte:

Gott dankt dir nun zum Schluss, dass du ihm ein Stück deiner Zeit geschenkt hast.“

Nachdem die letzten Worte verklungen sind, fühlen wir uns selbst ein Stück erhoben. So wie es nach einer Gottesfeier sein sollte.

Tobias hat – wie verabredet – alle Texte auch mit seiner angenehmen männlichen Stimme gesprochen. Wir hören uns danach diese zweite Version an. Tobias findet zwar, dass Lea so gut spricht, dass er einfach nicht mithalten kann. Und wir fanden die Version mit ihrer Stimme tatsächlich absolut überzeugend. Zugleich macht die Stimme von Tobias aber auch klar: Eine männlich gesprochene Version kann und sollte es ebenfalls geben.

Im Übrigen sind die beiden auf die Idee gekommen, die kleine Gottesfeier mit einem Spitznamen zu bedenken. Lea erklärt: „Wir haben die Minifeier inzwischen Taschen-Gottesdienst getauft.“ Ihre Begründung: Der Begriff Gottesdienst ist geläufig und ruft ungefähre Vorstellungen hervor. Und die Minifeier kann man in Zukunft überall mit dem Smartphone aus der Tasche ziehen und sich anhören. Der Name Taschen-Gottesdienst ist damit einigermaßen treffend. Vor allem aber ist er werbewirksam! Denn er verblüfft und ruft Neugier hervor.

Im Übrigen meinen die beiden, dass alle Texte schriftlich auf dem Smartphone angezeigt werden sollten – und zwar gut leserlich. Dann macht es nichts, wenn die Minifeier an Orten übertönt wird, wo es richtig laut ist. Außerdem kann man sich so das Gehörte zwischendurch noch einmal zu Gemüte führen. Zugleich sollte man den Ton auch völlig herauszunehmen können – immer dann, wenn man unerwünschte Mithörer aussperren möchte.

Die Entwicklungsleiterin hat sich diesen Taschen-Gottesdienst ganz aufmerksam und neugierig angehört. Sie findet, das Konzept ist gut umsetzbar in eine App. Und darauf kommt es letztlich an. Aber zunächst muss sie das Beispiel ihrem Chef präsentieren. Und der muss dann noch die Umsetzung in eine neue App absegnen.

Zugleich findet die Leiterin die gehörte Version schon so gut, dass sie bei einer Werbeveranstaltung auch schon direkt vorgeführt werden könnte. Aber das liegt ebenfalls im Ermessen ihres Chefs.

Wir haben es heute zwar noch nicht über das Herz gebracht, unseren kommenden Abschied anzukündigen. Aber das wird uns beim nächsten Termin leichter fallen, wenn dann dieser Taschen-Gottesdienst tatsächlich auf den Weg gebracht ist.

77. Blick in die Zukunft

Jo beginnt schon, bisher nur Angedachtes in der Realität festzuzurren. Er fährt mit uns los, um uns das Ferienhaus zu sichern, das unser Zuhause werden soll. Und in dem sich dann unsere Zukunft abspielen wird. Damit wird es nun endgültig ernst.

Schließlich stehen wir irgendwo draußen auf dem Land vor einem kleinen Haus. Es ist schon älter, liegt etwas abseits in einer Rasenfläche und blickt uns eigentlich ganz freundlich an.

Die derzeitige Vermieterin wohnt ein Stück weiter. Sie wirft nur einen kurzen sachlichen Blick auf uns beide und händigt dann Jo den Schlüssel aus. Was für eine Welt wird sich nun für uns auftun? Bei unseren bisherigen Stippvisiten in die Realität haben wir uns noch nie in einer kompletten Wohnung umsehen können.

Und dann sind wir drinnen: Ah, so sieht eine Küche aus? Und so ein Schlafzimmer? Wir erblicken das Doppelbett und wissen theoretisch, was sich darin alles abspielen kann. Dabei schauen wir uns mit eher verlegenem Lächeln an. Ich denke: Was denkt wohl Martina? Und sie fragt sich vermutlich auch, was sich gerade in meinem Kopf tut.

Dann die Küche mit ihrer Küchenzeile. Jo öffnet da Schubladen und Schranktüren, um den Inhalt zu sehen. Und er ist zufrieden: „Alles da. Ihr könnt kochen üben.“

Und dann Bad mit Dusche und Toilette. Wie fühlt sich Duschen an? Wie ist es, wenn man da auf der Toilettenschüssel sitzt? Und wie ist es überhaupt, wenn man die Reste von Essen und Trinken wieder aus dem Körper befördert?

Eine völlig neue Welt liegt vor uns. Und wir denken im Moment nicht daran, welch heikle Geschichte sich letztendlich hier entwickeln und abspielen wird.

Dann stehen wir wieder draußen. Nun schauen uns noch einmal um: Viel Grün ist hier um uns. Und viel Stille. Und in Sichtweite sehen wir sogar einen Drahtverhau mit Hühnern! Eigentlich reizt es mich, hier gleich das Drinnen und Draußen ausgiebig zu erkunden.

Aber dann schiebt sich mir doch noch in den Sinn, was hier auf uns zukommen wird. Nein, das jetzt bloß nicht! Lieber sich mit den noch anstehenden Aufgaben befassen.

78. Abschied vom Team

Heute werden wir im Team die Zahl von tausend überprüften und neuen Tipps erreichen – also unser Ziel. Und dann werden wir auch alle informieren, wie es um uns steht und wie es mit uns beiden weitergeht.

Kaum haben wir mit der Arbeit angefangen, ruft die Entwicklungsleiterin an. Sie hätte Neuigkeiten, und sie würde dafür gern kurz zu uns herüberkommen.

Von ihr erfahren wir dann: Der Prototyp des Tablets ist inzwischen fertig und vorführbar. Zudem hat sie die Minifeier ihrem Chef vorgestellt. Und für den ist gut denkbar, derartige kleine Gottesfeiern mit einer App verfügbar zu machen.

Allerdings will er noch die anstehende Werbeveranstaltung abwarten. Da möchte er die Minifeier in genau der Form vorführen, wie er sie von uns erhalten hat. Diese Form reicht ihm schon für einen ersten Resonanztest. Erst danach will er über die Investition in eine neue Gottesfeier-App entscheiden.

Damit brauchen wir uns nicht mehr um diese App zu kümmern. Der Katalog unserer noch anstehenden Aufgaben schrumpft weiter.

Die Entwicklungsleiterin will gleich wieder gehen, aber es ist klar: Genau jetzt müssen wir mit unserer Zukunft herausrücken! Wir bitten sie zu bleiben und erklären auch Lea und Tobias, was bisher allein Hannah weiß: Wir sind eine besondere Sorte Mensch. Und unsere Zeit läuft ab.

Irritierte und betroffene Blicke. Und ratloses Unverständnis. Wir holen ein bisschen aus: Wir sind überhaupt erst ein paar Monate in dieser Welt. Und jedes Mal auch nur für wenige Stunden. Wir führen kein durchgehendes Leben, sondern unsere Existenz wird ständig unterbrochen und ist nur zusammengestückelt. Und vom normalmenschlichen Alltag und Dasein haben wir fast keine Ahnung. Drei von den vier Leuten, die vor uns sitzen, haben nun große Mühe, ihren Unterkiefer nicht runterklappen zu lassen.

Lea kommentiert dann unsere Enthüllung so: „Manchmal hatte ich schon sehr das Gefühl, ihr kennt euch ziemlich wenig im Alltag aus. Aber dass ihr überhaupt nicht von dieser Welt seid – nein, das hätte ich nicht gedacht!“

Nachdem sich die allererste Überraschung ein wenig gelegt hat, können wir erklären: Wir hatten den Auftrag von Gott, ein paar Dinge voranzubringen. Und inzwischen sind diese Dinge nun – mit Hilfe aller Anwesenden – auf einem guten Weg. Was noch zu tun ist, legen wir jetzt völlig in ihre normalmenschlichen Hände.

Und wir bitten Hannah, Lea, Tobias und die Leiterin eindringlich, mit ganzem Herzen das Begonnene weiterzuführen. Die Apps und das Tablet können noch in vielem getestet und besser angepasst werden. Sie können ebenso erweitert und in ihren Funktionen verfeinert werden. Aber dafür brauchen sie uns nicht mehr. Das können sie nun allein miteinander ausmachen.

Wir merken: Wir reden gegen eine Trauer an, die sich ins uns ausbreiten will. Und die auch droht, die vier vor uns zu befallen. Wir flüchten vor dieser Trauer in sachliche Erläuterungen und in die zukünftigen Aufgaben des verbleibenden Teams.

Dann kommen Fragen: „Seid ihr einfach ganz weg? Und überhaupt nicht mehr erreichbar?“ Wir können nur sagen: Wir sind angehalten, uns aus unserem bisherigen Dasein weitgehendst zu verabschieden. Vielleicht sind wir noch für kleine Aufgaben anzusprechen. Aber das ist noch nicht absehbar.

Die Leiterin muss nun gehen. Ich gebe ihr die Bitte mit, bei den Tipps das Nein Gottes auf drei Prozent aller Antwortsätze zu verringern. Martina und ich haben uns darauf geeinigt. Denn uns ist inzwischen klar: Gott liebt vor allem das beredte Schweigen durch unverständliche Tipps. Und er meidet gern eindeutige Zurückweisung.

Und Martina bittet die Leiterin noch, jetzt gleich bei ihrem Chef anzurufen. Sie brauche ganz schnell einen Zehn-Minuten-Termin bei ihm. Es sei wirklich dringend. Die Leiterin greift auch sofort zu ihrem Handy. Und Martina kann nun sogar sofort mit ihr zusammen hinüber zum Chefbüro gehen.

Ich selbst bleibe bei Hannah, Lea und Tobias. Ich weihe sie ein, dass wir in eine normalmenschliche Existenz hinüberwechseln werden. Eine Wohnung ist dafür schon gemietet. Da sind wir dann vermutlich erreichbar. Aber vorerst fehlt uns noch viel für das neue Leben, angefangen von Kleidung über Essen bis hin bis hin zu vielen sonstigen Utensilien.

Den Dreien wird dabei klar, wie locker und leicht bisher unsere Existenz war. Und ihr Staunen ist groß. Lea meint: „Da habt ihr es aber bisher viel, viel leichter gehabt als viele andere Menschen!“ Ja, das kann ich nicht leugnen. Doch ich halte immerhin etwas zaghaft dagegen mit: „Aber vielleicht sind uns bisher auch viele kleine alltägliche Freuden entgangen. Das werden wir nun demnächst überprüfen.“

Damit kommen wir zu den praktischen Dingen der Existenz, die uns bevorsteht. Da werden wir kein Auto haben – von einem Führerschein ganz zu schweigen. Und was unsere Kleidung betrifft, so haben wir bisher keinen einzigen Gedanken daran verschwenden müssen. Hilfe beim Einkauf wäre uns also höchst willkommen. Und die drei sind auch sofort dazu bereit.

Schließlich kommen wir zu meiner allerletzten Aufgabe: Ich gehe mit den Dreien die restlichen Tipps durch und lasse mir auch noch zwei neue einfallen. Und damit ist dann tatsächlich die anvisierte Zahl von gut tausend Tipps und Antwortsätzen erreicht. Das ist nun der absolute Schlussstrich unter meine Arbeit. Ich kann den Griffel fallen lassen, wie es so schön heißt. Nur Martina hat noch einen Termin vor sich: den Werbetermin.

Wir verabschieden uns nun vorerst voneinander. Und ich verspreche: Martina und ich melden uns sofort, wenn wir in unserer normalmenschlichen Existenz angekommen sind. Dann haben wir auch eine Adresse und Telefon.

Martina ist inzwischen bis zum Vorzimmer des Unternehmers vorgedrungen. Sie wartet nur relativ kurz – der Mann ist ihr immer noch wohlgesonnen. Dann ist sie bei ihm. Und er empfängt sie mit: „Heute mal der stinknormale Weg über mein Vorzimmer?“ Und Martina: „Ausnahmsweise!“

Dann wird es ernst: Martina erklärt, dass sie nur noch einmal zu ihm kommen kann. Und zwar zum Werbetermin. Der Mann fällt aus allen Wolken. Und Martina schiebt gleich nach: „Gott beruft mich ab.“ Der Mann will verstehen: „Etwa aus Ihrem Leben?“ Martina: „Ja, so kann man das sehen. Mein Auftrag ist mit der Werbeaktion erledigt.“

Der Mann muss sich erst noch fassen. Dann fragt er: „Bekommen Sie denn gar nicht mehr mit, was aus den Apps und dem Tablet wird?“ Martina: „Das weiß ich noch nicht.“

Der Mann: „Gerade erst haben Sie doch noch eine weitere App möglich gemacht. Die Entwicklungsleiterin hat mir die Minifeier vorgestellt. Ich finde sie gut. Und auch der Name Taschen-Gottesdienst hat was. Aber da wir nun schon mal einen Werbetermin haben, will ich die Resonanz erst noch testen. Mal sehen, wie die Leute darauf anspringen.“

Zu dem Termin hat sich Martina auch schon Gedanken gemacht. Und sie möchte dazu zur Sache kommen: „Können wir jetzt gleich über den Termin sprechen?“ Der Mann: „Ok. Das andere kann sich noch später bei mir setzen.“

Sie besprechen also die Vorgehensweise. Und werden sich bald einig.

Schließlich meint der Mann: Dann brauchen wir nur noch Tag und Uhrzeit. Und er will in vierzehn Tagen den Termin ansetzen. Martina darauf: „Sie hatten es doch schon mal eiliger? Wollen Sie den Abschied von mir hinauszögern?“ Der Mann lacht. Und legt einen deutlich früheren Termin fest.

„Können Sie denn wirklich zum festgelegten Termin erscheinen?“ möchte sich der Mann vergewissern. Und Martina: „Es ist Gottes Interesse, dass ich da erscheine. Und darauf können Sie sich verlassen.“

Martina ist damit aber noch nicht fertig. Sie sagt: „Jetzt sind wir gerade bei Gott. Für Gott haben Sie im Moment eine Schlüsselstellung. Und ob die Dinge wirklich das Licht der Welt erblicken, die nun auf dem Weg sind, das hängt jetzt ganz allein von Ihnen ab.“

Sie hält einen Moment inne, blickt dann den Mann fest an und sagt mit eindringlicher Stimme: „Nun bitte ich Sie noch einmal: Stellen Sie Ihr Leben unter Gottes Führung. Er vertraut Ihnen gerade so viel an. Und er bittet seinerseits um Ihr Vertrauen. Enttäuschen Sie ihn nicht!“

Der Mann lächelt sie an: „Sie predigen jetzt! Mit meiner Frau ist gerade alles bestens unter Dach und Fach gebracht. Sie dürfen daraus schließen, dass inzwischen einiges zwischen mir und Gott gelaufen ist.“

Martina ist freudig erstaunt und fragt: „Darf ich also meine Predigt zurücknehmen und wieder einstecken?“ Der Mann: „Ach, lassen Sie die doch einfach da. Es wird sich noch Verwendung dafür finden.“ Und dann weist er auf die Videokameras im Raum und meint: „Die Predigt ist ja aufgezeichnet.“

Martina atmet auf. Hier in diesem Raum sind jetzt auch alle Dinge für sie erledigt. Und jetzt gibt sie mal wieder dem Mann die Hand zum Abschied und entschwindet erst dann.

79. Tröstliche Bilanz

Der letzte Schritt zum Abschied aus unserem bisherigen Leben ist nun getan: Mit der Verabredung der Werbeaktion. Jetzt haben wir nur noch die Veranstaltung selbst vor uns.

Wir sitzen mit Jo zusammen und ziehen Bilanz. Meine Träume hatten eine viel höhere Flugbahn, als ihnen nun real zugestanden war. Eigentlich hatte ich geradezu spektakuläre Erfolge während unserer Existenz erwartet.

Und Jo kann mich gut verstehen. Auch er hat schon einige Abstürze von Träumen in seinem Leben erlebt und überlebt. Ich frage ihn: „Wie wird man denn damit fertig?“ Und Jo: „Solange noch ein Funken Lebenswille glüht, gelingt es, Abstürze irgendwann abzuhaken. Und schließlich kann man sich sogar wieder neuen Träumen anvertrauen. Ihr werdet sehen: Da draußen in eurem Haus wird euch eine sanfte Landung gelingen.“

Martina ist bereits weiter: „Ich träume schon einen neuen Traum.“ Jo und ich schauen sie an. „Und mein Traum geht noch höher.“ Ich beginne zu ahnen, was sie meint. Und mir tut das richtig weh. Da erspare mir doch lieber genaueres Nachfragen.

Jo nun: „Was euch nicht gelungen ist, das lassen wir einfach ruhen! Euer Dasein und euer Hiersein war auf keinen Fall umsonst. So einiges wird bleiben.“ Martina fragt: „Was denn?“

Jo: „Ja, es kann schon lauten Streit um die Apps geben. Aber worauf es wirklich ankommt: Das ist ihre leise Wirkung. Die Menschen werden im Verborgenen viele kleine Anstöße dadurch erhalten. Und die sind das Ziel. Diese vielen kleinen Impulse summieren sich und können irgendwann zu Tage treten und Größeres bewirken. So wie aus vielen Wassertropfen erst Rinnsale, dann Bäche und schließlich Flüsse werden.“

Ein schöner Vergleich. Ein tröstlicher Vergleich.

Völlig unerwartet steht nun Jesus im Raum. Er sagt: „Frieden sei mit euch!“ Ein Satz, mit dem er – der Überlieferung nach – einmal unter aufgescheuchte Jünger getreten ist. Und damit nimmt er Platz im freien Sessel.

Jesus bestätigt Jos Worte: „Ja, so ist es: Aus Wassertropfen werden schließlich Flüsse. Und das begeistert Gott. Aber es gibt auch etwas, wovon ihr direkt etwas habt: Das ist euer Kontostand im Himmel. Und da habt ihr viele kleine und größere Beträge eingezahlt.“ Oh, das wussten wir noch gar nicht.

Und dann fragt Jesus uns: „Kommt ihr zurecht?“ Wir schauen ihn an. Und er: „Mit dem, so wie es nun einmal ist?“ Was für eine Frage! Ja, ein paar Dinge konnten wir anschieben. Und das ist gut so. Aber es gäbe auch noch so viel zu tun! Erweiterungen und Ergänzungen stehen an. Und ob aus dem Taschen-Gottesdienst überhaupt etwas wird, ist noch gar nicht absehbar.

Jesus darauf: „Ja, manchmal fällt es schwer, Dinge abzugeben und sie anderen anzuvertrauen. Aber Hannah, Lea und Tobias sind gut eingearbeitet und werden weitermachen. Die Apps und das Tablet sind schon ganz zu ihrer eigenen Sache geworden. Darüber hinaus ist die Leiterin sehr engagiert. Und der Unternehmer sowieso.“

Jo nun: „Und auch ich werde die Leute nach besten Kräften unterstützen.“

Und Jesus: „Seht ihr: Andere stehen bereit, alles mit ganzem Herzen zu übernehmen.“

Ich merke nun: Ich fange an, mich überflüssig zu fühlen. Mein Herz wird schwer. Und das, was nun auf uns zukommt und schon in der Tür steht, ist nicht wirklich prickelnd.

Jesus schaut mich liebevoll wissend an. Das tröstet mich immerhin ein wenig.

Und dann verkündet Jesus noch: „Martina, du wirst genau zur verabredeten Zeit bei der Werbeveranstaltung auftauchen. Und direkt danach werdet ihr als normale Menschen Einzug in euer Haus halten.“

Damit verschwindet er. Und Jo erklärt nun ganz nüchtern: „Oh, schön! Jetzt kenne ich die Zeit eures Einzugs. Ich empfange euch da!“

80. Zum Schluss: Göttliche Werbung

Ein leicht abgedunkelter Veranstaltungsraum. Und eine verheißungsvolle Leinwand an der Wand. Zudem steht ein bunter Mix von Getränken und appetitanregenden Häppchen bereit.

Ein paar Frauen und Männer bilden eine Runde. Sie sind wohl journalistisch unterwegs. Sie werfen sich gegenseitig Worte zu und untermalen sie auch mal mit einem Lachen. Die Entwicklungsleiterin hat sich ebenfalls eingefunden. Sie ist sicher gespannt, welchen Widerhall ihre Arbeitsergebnisse finden werden.

Ich selbst bin sozusagen gerade angeliefert worden. Wahrscheinlich ist heute der letzte Tag, an dem mir das himmlische Transportunternehmen noch zu Diensten ist – das, was mich mal hierhin trägt und mal dorthin. Hier ist nun noch mein letzter Auftrag: Martina aufmunternd zuzulächeln.

Ein Mann kommt herein und tritt selbst- und zielbewusst vor die Anwesenden. Es ist offensichtlich der Unternehmer und Herr des Hauses. Er begrüßt die Versammelten mit ein paar wohlgesetzten und wertschätzenden Worten.

Dann kommt er zur Sache. Heute seien zwei neue Apps das Thema. Die wolle er demonstrieren und den Anwesenden ans Herz legen. Aber da ein paar dürre Fakten nicht gerade herzbewegend seien, möchte er ihnen dabei auch noch Martina vorstellen. Sie sei die eigentliche Urheberin der Apps.

Und er berichtet: Diese Martina sei ihm das erste Mal aus dem Nichts heraus im Krankenhaus erschienen. Später tauchte sie genauso unangemeldet direkt vor ihm in seinem Chefzimmer auf. Mit der Zeit hätte er sich dann an ihr eigenwilliges Kommen und Gehen gewöhnt. Und er sagt: „Sie ist eine faszinierende Person. Sehen sie selbst!“

Und nun erscheinen Videobilder auf der Leinwand. Darin steht Martina urplötzlich vor dem Mann im Raum, und ebenso überraschend verschwindet sie wieder. Da kommt Gemurmel auf. Aber bevor eine Diskussion über Wahrheit und Fälschung hochkochen kann, kündigt der Mann an: Diese Martina wird auch noch persönlich erscheinen. Und sie wird ebenfalls wieder aus dem Nichts kommen. Wer das festhalten will, kann schon mal seine Kamera laufen lassen.

Jetzt geht ein Raunen durch die Journalistenschar, und sie kommt in Bewegung. Hier und da wird versucht, eine möglichst gute Position für beabsichtigte Aufnahmen zu finden.

Und dann kündigt der Herr des Hauses die App mit den Tipps von Gott an. Erst sind sanft einleitende Töne von Lea zu hören. Danach treten diese Worte auf der Leinwand langsam hervor:

Gott sagt dir jetzt: „Nimm dich doch einfach so, wie ich dich nun mal geschaffen habe.“

Danach beginnt der Herr des Hauses, die App zu erklären:

„Meine Damen und Herren, hat Gott Sie schon einmal angerufen? Nein? Ab sofort kann sich Gott unmittelbar bei Ihnen melden. Mit einer speziellen Tonfolge. Nämlich dann, wenn Sie unsere neue App herunterladen und scharf stellen! Dann kann auf Ihrem Display ein Tipp erscheinen – so wie der jetzt hinter mir. Dieser Tipp ist eine Aufforderung, eine hilfreiche göttliche Aufforderung.“ Und der Mann deutet hinter sich auf den Tipp an der Wand.

„Was ist das für eine App? Unsere App ist ein Lotteriespiel. Sie wirft fast nur Gewinne aus. Kleinere und größere Gewinne. Nämlich solche wie den Tipp hinter mir. Er ist ein Gewinn – weil sehr bedenkenswert.

Und wie kommen wir zu den Tipps? Wir haben ein Gremium von gottnahen Menschen einberufen. Für mich sind diese Menschen Gottversteher. Und sie haben mit Nachdenklichkeit, Intuition und viel Eingebung insgesamt tausend Tipps erarbeitet. Es sind Sätze, die ein ernsthaft liebender Gott irgendwann einmal einem Menschen sagen könnte.

Aus diesen Sätzen wählt Gottes Hand einen Tipp aus. Genau den Tipp, der für Sie persönlich wahrscheinlich ein Gewinn sein wird. Denn Gott kennt Ihre Situation. Und wenn er den Tipp ausgewählt hat, dann wählt Gott auch noch Ihre Nummer an und lässt Ihr Handy klingeln. Und zwar genau zu der Zeit, die Gott als hilfreich für Sie ansieht. Danach erscheint auf Ihrem Display der ausgewählte Tipp. Vielleicht ist es dann ein Tipp so wie der, der jetzt neu hinter mir auftaucht.“

Der Mann dreht sich um und deutet auf das Geschehen hinter ihm. Da verlischt langsam der bisherige Tipp, und an seiner Stelle werden – begleitet von anderen Tönen – immer klarer die Worte sichtbar:

Gott sagt dir jetzt: „Ich stelle dir heute freundliche und freudige Menschen an deinen Weg.“

„War der erste Tipp noch eine Auffordung, so ist dieser Tipp nun ein Versprechen Gottes an Sie. Und Sie können heute im Laufe des Tages überprüfen, wieweit dieses Versprechen tatsächlich eintrifft. Ich jedenfalls denke, dass Sie schon jetzt viele freundliche und freudige Menschen um sich haben ….

Ein Tipp von Gott kann Sie zutiefst anrühren. Er kann Ihre Situation blitzschnell erleuchten und Ihnen sofort Durchblick verschaffen. Manchmal aber ist er auch eine harte Nuss, die Sie nur mit einigem Nachdenken knacken können. Gott fordert dann von Ihnen Mitarbeit und Kreativität. Sie sollen nicht einfach nur schlucken, sondern auch etwas zum Beißen und darauf Herumkauen haben. Und eine selbst geknackte Nuss schmeckt besonders köstlich.“

Der Mann dreht sich wieder um. Der bisherige Tipp verschwindet erneut und an seine Stelle tritt:

Gott sagt dir jetzt: „Ich bin nie ganz der, für den du mich hältst.“

Nun meint der Mann: „Sehen Sie, das ist zum Beispiel ein Tipp zum Nachdenken! Von dem kann man sich einen ganzen Tag lang begleiten lassen. Und vielleicht trifft er gerade auch auf Sie zu, falls diese Veranstaltung ein wenig an Ihrer Gottesvorstellung rüttelt ….

Bisher habe ich Ihnen Gewinne in dieser Gotteslotterie nahegebracht, die sie schwarz auf weiß bekommen. Aber es gibt auch Gewinne, die noch zusätzlich anfallen. Und das sind zum Beispiel die:

Allein schon der Anruf durch die App ist ein Erlebnis. Denn er zeigt: Der Himmel bemüht sich gerade zu Ihnen herab! Eine überaus freundliche höhere Dimension möchte in diesem Moment Ihr Leben ein wenig aufmischen. Das kann sich richtig gut anfühlen!

Danach sind Sie gespannt, was denn nun auf dem Display erscheint. Es ist, als wenn Sie gerade ein Los ziehen und dem möglichen Gewinn entgegenfiebern. Und selbst wenn der Tipp nicht zu entschlüsseln ist und sich als Niete erweist – Gott zeigt Ihnen mit dem Anruf: Ich bin ganz nah. Ich denke in diesem Moment überaus freundlich an dich. Das ist doch auch schon eine Menge!

Ja natürlich, es gibt auch Nieten! Sonst wäre es keine anständige Lotterie. Aber nur durch gelegentliche Nieten lernt man Gewinne schätzen. Und wie sieht eine Niete aus? Gott bietet dann beredtes Schweigen an. Das heißt: Er gibt einen Tipp, dessen Sinn nicht zu entschlüsseln ist. Mal sehen, ob der nächste Tipp so einer ist.“

Und der Mann wendet sich wieder nach hinten, wo nun steht:

Gott sagt dir jetzt: „Wenn du alles von mir her denkst, denkst du groß.“

Der Mann kommentiert das so: „Das ist nun wahrhaft etwas zum Denken! Einige verstehen das vielleicht, andere überhaupt nicht. Aber ich kann Ihnen versichern: Die Gewinne bei den Tipps überwiegen eindeutig! Und sie speisen immer neu die Vorfreude, wenn Gott anklingelt.

Das sage ich auch aus eigener Erfahrung. Denn ich nutze selbst die App. Und das nicht nur privat, sondern auch bei meiner Arbeit.

Gut, jetzt wollen Sie bestimmt noch wissen, wie Gott die Auswahl der Tipps technisch handhabt. Ganz einfach: Ein eingebautes Losverfahren steuert die Auswahl. Aber bei diesem Verfahren hat Gott immer seine Hand im Spiel. Und er wählt selbst aus.“

Eine kleine Pause tritt ein. Ich schiebe mich nach vorn. Ein paar weibliche und männliche Hände gehen hoch, um Fragen zu stellen. Der Unternehmer sagt nun: „Zu diesem Zeitpunkt wollte …..“ Aber da geschieht schon, was der Mann gerade ankündigen will: Neben ihm wird Martina ansatzweise erkennbar. Erst nur schemenhaft, dann wird ihre Gestalt deutlicher, und schließlich ist sie voll da.

Diese Art des Erscheinens hat der Mann bei Martina noch nicht erlebt. Und ich auch nicht. Sonst ist Martina immer sofort ganz sichtbar. Dem Mann verschlägt es schon etwas die Sprache. Aber die Journalistenschar ist noch mehr überrascht. Einige wirken sogar geradezu verstört. Denn da geschieht ja vor ihren Augen bisher Undenkbares!

Der Unternehmer findet schnell die Sprache wieder und begrüßt Martina herzlich mit Handschlag. Er vertröstet diejenigen auf später, die Fragen stellen wollen. Und er erteilt erst einmal Martina das Wort.

Martina beginnt nun leicht nervös, wirkt aber schnell routiniert:

„Wer ich bin? Eine von Gott Beauftragte. Was ich soll? Ein paar Dinge auf den Weg bringen, an denen Gott liegt. Und dazu gehört ein Tablet.“ Martina ergreift nun das Tablet , das dicht neben ihr liegt, und hält es hoch. „Das ist ein einfaches, anspruchsloses Tablet. Es ist insbesondere für ältere Menschen gedacht, denen Einsamkeit schmerzhaft zusetzt.

Wissen Sie, was beißende Einsamkeit ist? Da hüllt sich das Telefon von morgens bis abends in penetrantes Schweigen. Und auch die Klingel an der Wohnungstür ist ständig auf Erholungsurlaub. Wenn sich dann wenigstens Gott hin und wieder am Tag meldet, atmet ein einsamer Mensch tief durch.

Auf dem Tablet ist dieselbe App installiert, die Ihnen der Chef des Hauses schon ans Herz gelegt hat. Und das heißt: Wenn ein spezieller Ton erklingt, ist klar: Das ist jetzt ein göttlicher Anruf. Und er bringt sofort Vorfreude mit sich. Wenn nun der Tipp von Gott lesbar wird, ist er entweder sofort verständlich. Oder aber er regt zum Nachdenken und dazu an, ihm einen tieferen Sinn abzuringen. Und das ist dann durchaus Gehirntraining!

Zugleich kann ein Anruf eine Schleppe verschiedenster Gefühle hinter sich herziehen – von aufflammendem Schmerz bis hin zu umwerfendem Glück. Selbst Schmerz ist dabei keine Katastrophe – zumindest wenn Gott selbst ihn zumutet. Denn jede Art von Gefühl lässt einen einsamen Menschen sich lebendiger fühlen und sich selbst mehr spüren.“

Martina macht eine kleine Pause und schaut lächelnd in die Runde. Dann fährt sie fort: „Jetzt glauben Sie vielleicht: Wir hier können immerzu nur sagen und denken: Gott, Gott, Gott. Nein, wir denken auch Mensch, Mensch, Mensch!

Denn das Tablet soll außerdem noch einsame Menschen direkt mit anderen einsamen Menschen verbinden. Allerdings sehr behutsam. Denn Einsame möchten gehört, aber nicht von Wortschwällen erdrückt werden. Sie möchten sich ebensowenig als Sprachmuffel zu erkennen geben. Oder sie möchten auch nicht unbedingt schlagfertig parieren müssen. Und das heißt erst einmal: Kein mündlicher Kontakt! Alles schriftlich!

Doch auch schriftlicher Kontakt hat seine Tücken. Denn wem fallen ständig tolle Worte ein? Oder wer präsentiert sich gern mit katastrophaler Rechtschreibung? Die Einsamen sind ja nicht alle Journalisten wie Sie! Doch es gibt eine Lösung: Nämlich vorgefertigte Sätze und Antworten.

Das Tablet bietet also eine Vielzahl von Fertigsätzen an. Für die Kontaktaufnahme und für viele weitere Antworten und Gelegenheiten. Niemand braucht also mühsam um Worte zu ringen.

Die vorgefertigten Sätze sind so gewählt, dass sie aufbauend wirken. Niemand kann damit beschimpft oder abgewertet werden. Die Fertigsätze sollen damit Unfällen beim schriftlichen Austausch vorbeugen. Sie schließen also etwa beleidigende Sticheleien, Jammerorgien oder Hasstiraden aus! Zugleich können sie aber auch untergründig das Selbstbewusstsein der Nutzer stärken oder sogar erzieherisch wirken.

Eine Kostprobe? Mit Fertigsätzen kann sich zum Beispiel ein Kontakt so entwickeln:

„Hallo, ich wünsche einen richtig guten Tag!“

„Danke für den guten Wunsch!“

„Geht’s gerade gut – oder könnte es noch besser gehen?“

„Es sich gut gehen lassen, das kann jeder. Ich bin gerade bei einer schwereren Übung.“

„Oh, mein ganzes Mitgefühl dafür!“

„Danke, das tut gut!“

„Könnte jetzt ein Witz aufbauend wirken?“

„Nur zu!“

Und so weiter. Jetzt jedenfalls käme jetzt ein Witz aus dem Speicher des Tablets zum Einsatz.

Ist dann irgendwann ein erbaulicher Kontakt da, kann sich das Telefonieren anbieten. Und dafür gibt es auch einen Knopf.

Das Tablet ist für eine Kirchengemeinde geplant, die sich um Einsame verdient machen will. Und vielleicht gibt es noch mehr solch ehrgeizige Gemeinden. Dann bitte melden Sie sich! Denn erst, wenn genug Interessenten auf der Matte stehen, geht das Tablet in Produktion. Dies ist zunächst einmal ein Prototyp.

Wir wünschen uns sehr, dass dieses Tablet mal seinen Weg zu vielen, vielen Einsamen findet. Und dass es diesen Menschen freudige Momente in ihrem manchmal eher kärglichen Dasein beschert. Also: Bitte melden Sie sich. Und ermöglichen Sie solche Art von Hilfe!“

Martina legt das Tablet wieder ab. Und erklärt: „Jetzt dürfen Sie noch einer kleinen Gottesfeier beiwohnen. Wir nennen sie etwas salopp Taschen-Gottesdienst. Sie soll demnächst ebenfalls als App für das Smartphone verfügbar sein. Und diese App passt mit dem Smartphone in jede Tasche – daher ihr Name.

Bei diesem Taschen-Gottesdienst – oder bei dieser kleinen Feier – predigt Gott sozusagen selbst! Denn er selbst sucht dafür zwei Impulse samt dazugehörigen Kurzpredigten heraus. Und die sind dann punktgenau auf den Nutzer zugeschnitten.

Diese einzigartige kleine Gottesfeier dauert etwa fünf Minuten. Und wenn sie Ihnen jetzt hier vorgeführt wird und ertönt, können Sie diese kleine Feier genießen – oder meinetwegen auch dezent den Raum verlassen.

Ich verabschiede mich jetzt schon mal von Ihnen. Es war mir eine Freude, Sie kennenzulernen. Und der Chef des Hauses hier meinte, die Kennenlern-Freude würde auch ganz auf Ihrer Seite sein. Er war sich sicher, meine Art des Erscheinens und Verschwindens könnte Sie überzeugen, dass Gott mit mir ist. Und dementsprechend auch mit den Apps.“

Und dann noch ein letzter Satz von Martina: „Ich spüre, dass ich nun abgerufen werde.“ Und damit verschwindet sie so, wie sie aufgetaucht ist: Ihre Erscheinung wird immer blasser, bis sie ganz verschwunden ist.

Die kleine Gottesfeier beginnt nun sofort. Die gewünschte Diskussion wird auf Danach verschoben. Alle hören sich zumindest den Beginn an. Doch dann bröckelt es, und ein paar Damen und Herren machen sich davon.

Auch meine eigene Zeit ist nun um. Ab genau jetzt bin ich nicht mehr ein von Gott Beauftragter.

Und nun befällt mich tatsächlich doch noch Abschiedsschmerz. Während Martinas Auftritt konnte ich ihn mir vom Leibe halten. Aber nun wird er raumgreifend. Und er droht, mir bis in die Augen hochzusteigen.

Bitte, bitte, mein himmlisches Transportunternehmen: Mich jetzt ein letztes Mal abholen. Und bitte schleunigst!

Ausstieg aus dem Leben

81. Ankunft im Neuen

Es ist geschafft! Es ist vollbracht! Und nun heißt es, den Blick auf etwas ganz Neues zu richten. Wir kommen in unserem zweiten Leben an.

Ein letztes Mal hat es uns versetzt. Und zwar an unseren neuen Lebensmittelpunkt. Das ist ein allerletzter Gruß aus unserer bisherigen Existenz. Und nun stehen Martina und ich direkt vor dem Haus, das ab sofort unsere Heimat sein wird.

Das Haus und seine Umgebung haben wir zwar schon gesehen. Aber jetzt ist alles auf eine neue Weise fremd. Jetzt, wo wir gerade selbst zu einem Bestandteil dieser ganz irdischen Welt werden.

Wir sehen uns an. Im Moment sind wir uns gegenseitig die allererste Heimat. Und wir gehen aufeinander zu und nehmen uns fest in die Arme. Ja, wir halten uns auch aneinander fest.

Dann lösen wir uns wieder. Und wir blicken nun den Tatsachen ins Auge. Das heißt konkret: Als Erstes schauen wir zum Haus hin. Und da sehen wir: Die Tür ist geöffnet. Und ein Auto steht daneben. Da ist wohl schon jemand drin! Wir gehen hinein und stoßen innen – wie erhofft – auf Jo. Oh wunderbar, wir sind nicht mehr allein!

Jo sagt: „Na ihr? Schön, euch zu sehen!“ Und wir können das nur erwidern. Dann gehen wir von Raum zu Raum und nehmen unser kleines Reich in Besitz. Alles ist noch so wie besichtigt. Aber die Dinge schauen uns jetzt anders an: Denn jetzt sind wir ihre Herren, und sie müssen uns zu Diensten sein.

Und dann wird es konkret und praktisch: Jo hat Lebensmittel mitgebracht. Ebenso Handy und Tablet für uns. Und außerdem dringenden Nebenbedarf von Zahnbürsten bis hin zu diversen Putzmitteln.

Wir stürzen uns nun voller Neugier auf alles Neue. Wir nippen an Milch und Saft. Wir packen Brot, Obst und Gemüse aus und beißen hinein. Mit fast kindlicher Entdeckerfreude machen wir uns darüber her. Nur Handy und Tablet rühren wir noch nicht an. Die Einweisung erfolgt später.

Bald kommen uns der erste Hunger und Durst unserer gesamten Existenz. Und Jo leitet uns beim Kochen an. Zunächst zeigt er uns das Anrichten eines schnellen Salates. Dann das Kochen von Gemüse. Als gelehrige Schüler kriegen wir auch bald das Aufschlagen von Eiern hin. Und dann brutzelt ein erstes Omelett in der Pfanne.

Danach werden die Ergebnisse aufgetischt und verkostet. Na schön, wir müssen erst noch ermitteln, was uns besonders gut gelingt und schmeckt und wovon wir die Finger lassen sollten. Und im Übrigen ist ja auch kein Meister vom Himmel gefallen.

Irgendwann meldet sich ein Druck im Unterkörper. Und es wird zu einem herausragenden Ereignis, das erste Mal das Abwasser des Körpers zu entsorgen.

Jo weist uns später in die Finessen des vorgefundenen Fernsehers ein. Ebenso dürfen wir die Funktionen des Tablets unter seiner Anleitung entdecken. Auch zum Smartphone gibt es einiges anzumerken. Und was er uns nicht sagt, das müssen wir danach noch in den Gebrauchsanleitungen entziffern – falls wir uns da hineinknien mögen.

Irgendwann tauchen Lea und Tobias auf. Jo hat sie hergebeten. Sie sind gern bereit, mit Martina und mir zum Einkaufen fahren. Wir haben ja bisher nur das, was wir gerade auf dem Leib tragen. Und von oben bis unten brauchen wir noch eine Reihe von passenden und gut tragbaren Alternativen.

So kommen wir das erste Mal in ein Kaufhaus. Die Rolltreppe ist zunächst eine kleine Geschicklichkeitsübung. Martina verliert sich dann mit Lea in der Damenabteilung zwischen aufgetischter Wäsche und aufgehängter Kleidung. Und Tobias durchkämmt mit mir eine Etage höher die Herrenabteilung. Von den Schuhen über die Unterwäsche bis zur Oberbekleidung sind dabei überall Größen- und Geschmacksentscheidungen zu treffen.

Konsumrausch? Wahrlich nicht! Nur Tobias immer: „Aber das brauchst du auch noch!“ Und dann wird in einer anderen Ecke weitergewühlt und anprobiert. Wie mag es da wohl eine Etage tiefer bei Martina und Lea laufen? Bei ihnen braucht es jedenfalls länger. Und wir können uns noch ein gutes Stück Auszeit in der Cafeteria gönnen.

Zuletzt landen wir hochbepackt wieder in unserer Unterkunft. Müdigkeit kannten wir bisher noch nicht. Aber Tobias meint, so wie ich mich nun auf die Couch fallen lasse, sei mein Zustand vermutlich mit dem Wort „hundemüde“ treffend beschrieben.

Die Tage laufen sich dann irgendwie ein. In wenigen Tagen ergibt sich ein fester Rhythmus von Anziehen, Essen, Freizeit, Essen und so weiter. Und zwischendurch immer wieder Schlafen. Einige Variationen des Wachseins kannten wir ja schon bisher. Aber die verschiedenen Dimensionen des Schlafes von Einschlafen, Durchschlafen und auch Nichtschlafen sind uns neu.

Äußerlich gibt es keine besonderen Vorkommnisse. Wir bedienen immer gekonnter die Geräte, die uns mit der Außenwelt verbinden. Wir sehen uns in der näheren und weiteren Umgebung des Haus um. Und wir füttern auch mal die Hühner: Denn der Zulauf ist faszinierend, den wir bekommen, wenn wir mal mit einer Handvoll Körner oder Ähnlichem bei ihnen anrücken.

Doch auf einer anderen Ebene gibt es besonders Bemerkenswertes bis Sensationelles: Dann, wenn wir uns der Erkundung unserer normalmenschlichen Körper widmen.

Da probieren wir: Wie fühlt sich eine enge Umarmung an? Zum richtigen Zeitpunkt wunderbar! Wie schmeckt ein Kuss? Ist er ausreichend zärtlich, ist er auch ausgesprochen lecker. Wie geht angenehmes Streicheln? Sanft und weich kann hinreißend erregend sein.

Und dann gibt es auch noch die extreme Nähe. Die, bei der man die dafür vorgesehenen Körperteile genau ineinander stöpselt. Unter einigem Lachen probieren wir es bald aus. Und ja, dem können wir nun schnell sehr viel abgewinnen!

Und auch die Variationen haben es in sich: Etwa dann, wenn mal der eine eifrig an der gemeinsamen innigen Körperverbindung arbeitet. Oder wenn die andere es tut.

Dabei ist etwas überdauernd Lustvolles an dieser innigen Verbindung: Dass sie immer wieder erneuert werden kann. Darauf kann man sich schon vorher einige Zeit freuen. Und hinterher kann man auch noch ein längeres Nachglühen genießen, das weich, sanft und anhänglich macht.

Darüber hinaus nehmen wir uns viel Zeit für Austausch und Gespräch. Und auch da entdecken wir immer mehr intime Nähe. Wir haben zwar keine lange Geschichte hinter uns, die mit Erfahrungen gespickt ist und aus der wir mal dieses oder jenes Erlebnis herauspicken und freudig oder traurig zum Besten geben können. Aber das Denken und Fühlen der anderen Seite ist ein riesiges Forschungsfeld. Es bietet immerzu neue Ansichten und Einblicke. Besonders nun, da wir täglich mit Ereignissen der Außenwelt konfrontiert sind – dank Tablet und Fernseher – und uns dazu unsere Meinung bilden können.

Tablet und Fernseher erweitern unseren Horizont bis in fernste Ritzen der Welt. Vieles ist einfach nur hochinteressant für uns. Aber gelegentlich werden wir dabei auch nicht von den Schrecken verschont, die teils in der Nähe, aber vor allem in der Ferne beheimat sind. Sie bringen oft die Frage mit sich: Sich gruseln, sich innerlich verhärten oder klug rationiert Mitgefühl zulassen? Wir merken schnell: Es kommt sehr auf die Dosierung an. Zumal wir in unserem inzwischen entschwundenen Hauptleben fast völlig in Watte gepackt waren.

Jo hat uns im Übrigen mit einer Bibel versorgt. Zum ersten Mal haben wir dieses Buch in Händen und können blättern und blättern und lesen und lesen. Jesus ist darin unser absoluter Favorit. Es ist unglaublich, was er damals alles gesagt hat. Und fast noch unglaublicher ist, wie er es vermutlich gesagt hat: Seine Ausstrahlung muss immens und seine Rede muss geradezu bezwingend gewesen sein. Man konnte ihm nur mit größter Aufmerksamkeit zuhören – oder aber man musste sich abwenden und die Ohren zuhalten.

Und dann: Was Jesus tat! Da war Spektakuläres dabei – seine Heilungen und Wunder. Aber viel entscheidender ist: Er hat sich voller Verständnis gerade den Menschen am Rande der Gesellschaft zugewendet. Den Benachteiligten, Ausgestoßenen und Verachteten. Ihnen und ihren Nöten schenkte er volle Aufmerksamkeit und liebevolle Worte, befreite sie häufiger von seelischem Druck und schenkte ihnen gelegentlich auch eine körperliche Heilung.

Aber ebenso eindrucksvoll ist, wie er manchmal knallhart auf einen groben Klotz einen groben Keil gesetzt hat. Er wagte es, den religiösen Rechthabern und rücksichtslosen Strippenziehern an den Spitzen der Gesellschaft entgegenzuschleudern: Auf euch wartet ewige Verdammnis! Und da werdet ihr allerkläglichste Gestalten abgeben, denen außer lautestem Herumjaulen nichts mehr bleibt und einfällt.

Zugleich ist aber das meiste, was wir da lesen und hören, wie ein Klang aus fernen Zeiten. Es ist zwar hochinteressant, doch unglaublich weit weg. Gerade auch deshalb, weil wir tagtäglich einen gegenwärtigen Jesus haben und befragen können.

Und ebenso nahe kommt uns auch Gott. Etwa zwei- bis dreimal täglich versorgt er uns mit einem Tipp über seine App. Wir erkunden dann jedes Mal gemeinsam, was in ihm steckt und was uns Gott gerade zu sagen hat. Und von Jesus lassen wir uns ab und an in inneren Bildern begleiten. Manchmal sind sie dann anregend, gelegentlich aber auch aufregend.

So gehen die ersten vier Wochen ins Land. Von Leid keine Spur. Wir freuen uns aneinander. Wir sind glücklich über den seelisch und körperlich so nahen anderen Menschen, mit dem wir leben dürfen. Und wir kosten unser normalmenschliches Dasein weiterhin mit immer noch frischer Neugier aus.

82. Schmerzen und Krankheit

Dann allerdings klopfen bei Martina erste Schmerzen an. Noch sind sie ziemlich unbestimmt und irritieren nur hier und da. Der körperliche Abstieg beginnt jetzt aber wohl. Bislang waberte untergründig eine gespannte Erwartung in uns. Da löst sich nun etwas. Dafür stellt sich auf einer anderen Ebene neuer starker Druck ein.

Die Schmerzen melden sich in den folgenden Tagen immer nachdrücklicher. Für Jo ist klar: Ohne Arzt geht es nicht mehr. Und Jo hat einen an der Hand, zu dem er in dieser Situation genug Vertrauen hat. Jo spendiert nun Martina zwangsläufig – wie bereits vorgesehen – eine privatärztliche Behandlung.

Für die Aufnahme ihrer Daten beim Arzt braucht Martina einen Nachnamen. Jo bietet ihr den seinen an. Manches ist einfach leichter, wenn es so aussieht, als sei sie mit ihm verwandt. Und ein normales Geburtsdatum denkt sie sich auch noch aus – dabei ist sie in Wahrheit ja erst ein paar Monate auf der Welt.

Der Arzt hält ein umfassendes bildgebendes Verfahren für unabdingbar. Er braucht erst einmal ein Stück Einblick in ihren Körper. Und er besorgt Martina dafür einen schnellen Termin an entsprechender Stelle.

Beim nächsten Besuch eröffnet der Arzt Martina: In ihr wuchert Krebs, und der hat schon massiv gestreut. Der Arzt ist davon überzeugt: Den Krebs trägt sie schon länger in sich, er macht sich aber jetzt erst bemerkbar. Und er verschweigt nicht, dass die Situation inzwischen mehr als ernst ist. Dabei ist Martina erst seit sechs Wochen Normalmensch!

Der Arzt schlägt Chemotherapie vor. Damit kann man die Entwicklung noch verzögern, allerdings kaum aufhalten. Martina aber weigert sich. Sie kennt den ihr vorgezeichneten Weg. Und sie blickt auf das Ziel hinter ihrer irdischen Wegstrecke, die jetzt holprig und mühsam zu werden beginnt.

Der Arzt ist höchst erstaunt. Er versucht, Martina gut zuzureden. Für Martina ist zwar gut gemeint, was er sagt. Aber sie nimmt seinen Vorschlag nicht an. Vielmehr erklärt sie ihm, sie sei schon länger auf solch eine Diagnose vorbereitet. Und sie sei fest entschlossen, den Dingen ihren Lauf zu lassen. Was kann ein Arzt da tun? Er kann nur einlenken und akzeptieren. Und ihr ein starkes Schmerzmittel verschreiben. Er erklärt ihr: Bei Bedarf darf sie das deutlich steigern – und im Übrigen doch noch sein Angebot annehmen.

Jetzt entwickeln sich die Dinge so, wie wir sie von vornherein akzeptiert haben. Aber nun werden sie auch handfest und greifbar. Und sie erschrecken doch heftig. Sie verbreiten Unsicherheit und belagern die Seele mit besorgten Gedanken.

Martina nimmt das Medikament regelmäßig. Nur gelegentlich schlägt noch ein kurz aufflammender Schmerz durch. Aber der sorgt dafür, dass wir nicht vergessen. Unsere Welt kann uns nun nicht mal mehr vorübergehend heil erscheinen.

Wir kochen gemeinsam wie bisher. Wir machen ebenso noch längere Spaziergänge. Aber ich entlaste Martina völlig bei den Reinigungs- und Putzarbeiten.

Jo schaut häufiger mal vorbei. Er behält uns sehr im Auge. Aber es fällt ihm offensichtlich nicht leicht, uns in diesem anderen Leben zu begleiten. Er muss zusehen, wie sich unsere Lebensperspektive ständig verkürzt.

Auch Hannah, Lea und Tobias rufen uns gelegentlich an und fragen nach Wünschen. Manchmal erfinden wir extra Bedürfnisse, damit sie uns besuchen und Lebensmittel oder sonstigen Bedarf mitbringen.

Bei solchen Gelegenheiten erfahren wir auch, wie es mit den Apps läuft. An der Gottes-App wird ständig weiter gearbeitet. Und auch die App mit dem Taschen-Gottesdienst ist jetzt in einem ersten Entwicklungsstadium. Dagegen ist über das Tablet ist noch nicht das letzte Wort gesprochen. Es hapert mit der Nachfrage.

Wir merken dabei, wie weit wir inzwischen von dem entfernt sind, was einmal unserem Leben Sinn gab. Wir sind in einem Dasein angekommen, wo sich Essen, Freizeitgestaltung und Schlafen so weit vordrängen, dass sie schon fast lebensfüllend erscheinen.

Aber natürlich achten wir darauf, dass uns die göttliche Dimension nicht entgleitet. Sie ist unser Lebenselixier. Sie hebt Kopf und Seele. Und die Freude, die uns noch bewegt, beziehen wir eher aus höheren himmlischen als aus niederen irdischen Dimensionen.

Und um nicht aus der Übung zu kommen, was Selbstaufgabe betrifft, legen wir jeden neuen Tag morgens immer in Gottes Hände – und uns selbst gleich mit. Und zusätzlich erbitten wir noch Gottes reichen Segen. So wappnen wir uns täglich neu gegen wuchernde Ängste oder seelischen Absturz. Und damit erhalten wir uns auch ein Mindestmaß an Zuversicht.

Und das ist nötig. Denn Martina wird inzwischen schwächer. Gelegentlich stellt sich etwas Übelkeit ein. Und unsere Ausflüge werden deutlich kürzer. Aber Martina beklagt sich nie. Sie bekommt nur manchmal einen Blick, der weit in die Ferne geht und anscheinend weit vorausschweift in eine höhere Welt, der sie sich unausweichlich nähert.

Eigentlich habe ich es ganz leicht mit Martina. Ich habe keinerlei Pflege in engerem Sinn zu leisten. Aber die Situation hat zunehmend etwas Beklemmendes. Ich spüre, Martina braucht meine Anwesenheit. Ich darf mich örtlich und seelisch nie zu weit von ihr entfernen. Und sie braucht es, dass ich gelegentlich einfach nur meine Hand auf ihre Hand lege. Oder dass ich sie mal länger umarme.

Es ist nun Zeit, auch Hannah, Lea und Tobias in diese Seite unseres Lebens einzuweihen. Wir tun es jeweils dann, wenn jemand von ihnen allein zu uns kommt. Wer gerade eingeweiht wird, fällt immer ein wenig aus allen Wolken. Aber letztlich scheint es dann doch nicht zu überraschen, dass so seltsame Leute wie wir sich auch noch eine tödliche Krankheit leisten.

Jo hält nun wieder einen Arztbesuch für nötig, und er fährt mit Martina hin. Aber es gibt nichts überwältigend Neues. Die Krankheit frisst sich nur immer tiefer in ihre Organe hinein. Man kann den Stand der Dinge bei Martina bereits ein wenig am Gesicht ablesen, das schmaler wird. Der Arzt möchte nun wenigstens noch die Lunge röntgen. Aber Martina lehnt jede weitere Diagnostik ab.

Unnötige Schmerzen sind ihr allerdings auch nicht willkommen. Die sind mit dem Himmel nicht vereinbart, meint sie. Und der Arzt denkt gleich weiter voraus und verschreibt ihr noch stärkere Mittel für den Bedarfsfall.

Nebenbei berichtet der Arzt von einem merkwürdigen Ereignis, das gerade erst geschehen und ihm zu Ohren gekommen ist. Bei einer jungen Mutter mit drei kleinen Kindern ertastete die Frauenärztin einen sehr deutlichen Knoten in der Brust. Bei sofortiger Untersuchung zeigte sich: Der Krebs hatte schon massiv und in übelster Weise gestreut, ohne dass die Frau bisher nennenswerte Beschwerden hatte. Die Aussichten für die Frau waren nun ausgesprochen düster. Es konnte eigentlich nur noch um einen längeren Aufschub gehen – bis eben zum tödlichen Ausgang.

Und dann: Bei einer weiteren Untersuchung war der Krebs plötzlich nicht mehr aufzuspüren. Nirgends. Wie man auch hin und her dachte: Das war und blieb unerklärlich. Die Ärzte konnten der Frau zu dieser schier undenkbaren Wendung der Dinge nur überschwänglich gratulieren.

Martina fragt sich da: Warum erzählt ihr der Arzt von dieser Frau? Will er ihr etwa noch Mut machen? Doch dann fällt es ihr wie Schuppen von den Augen. Und ihr kommt die Erleuchtung. Doch die behält sie auf dem Rückweg mit Jo noch für sich. Aber bei mir bricht es dann aus ihr heraus: Der Himmel hat Wort gehalten! Ihre Krankheit hat einen tiefen Sinn bekommen! Eine Mutter von kleinen Kindern ist gerettet! Sie ist nun so heiter, wie ich sie lange nicht mehr gesehen habe. Und dieser Erfolg ist ihr nun viel, viel näher als alle Vielleicht-Erfolge der von ihr mitentwickelten Apps.

In der Nacht darauf sitzt Jesus an Martinas Bett. Er fragt sie, ob sie mit ihm zufrieden sei. Und Martina kann ihm nur strahlend dafür danken, dass sie mit ihrem irdischen Restleben eine ganze Familie vor Unheil und schwersten Zumutungen bewahren darf.

Von nun an liegt immer etwas Heiterkeit über Martina. Daran ändern auch die zunehmenden Beschwerden nichts. Sie steht nun stets ein wenig über den Dingen. Und aus dieser Distanz zum normal Irdischen entdeckt sie auch immer wieder mal Komisches und Erheiterndes.

Etwa dann, wenn der Hahn aufs Huhn steigt, das Huhn sich danach nur kurz schüttelt und sofort weiter Körner pickt – so, als sei überhaupt nichts geschehen. Sie kommentiert das mit: „Der Henne sind ein paar Körner vor dem Schnabel lieber als ein Hahn auf dem Dach.“ Oder wenn ich mal gähne – früher konnten wir das gar nicht –, dann erkundigt sie sich teilnahmsvoll: „Welchen Teil meines Körpers soll ich dir jetzt freundlicher Weise opfern?“ Oder wenn die Milch überkocht, meint sie: „Die schäumt jetzt vor Wut, weil wir ihr zu viel Feuer unterm Hintern machen.“

Weniger komisch findet Martina es allerdings, als sie etwas kurzatmiger wird und häufiger husten muss. Sie ruft Jo an, und der ruft seinerseits wiederum den Arzt an. Und der ist überhaupt nicht überrascht, sondern hat es kommen sehen. Denn Martina hat Metastasen in der Lunge, das zeigten schon die Bilder. Der Arzt versucht nun ein wenig zu beruhigen: Wenn es schlimmer wird – und das wird es vermutlich –, dann braucht Martina zusätzlichen Sauerstoff. Aber das lässt sich leicht arrangieren.

83. Käfighaltung und Nabelschnur

Draußen macht sich inzwischen die kalte Jahreszeit breit. Sie lockt weniger hinaus. Und manchmal haben wir den Eindruck, dass sie von außen extra die Tür zuhält und uns nicht hinauslassen will.

Martinas Spazierwege werden aber ohnehin kürzer. Schließlich fragen wir die vier Menschen und Autoinhaber, die uns verbunden sind: Ist mal ein gemeinsamer Ausflug in ein Café oder zu einem besonderen Ausblick möglich? Aber unbedingt! Teils fahren wir dann zu dritt los, teils fährt Martina nur mit Lea oder Hannah. Einmal braucht Martina auch unbedingt einen kleinen Einkaufsbummel. Und sie kommt mit einer wunderbar warmen Strickjacke zurück.

Die Ausfahrten mit Martina sind begehrt. Denn sie strahlt häufiger so etwas wie eine überirdische Heiterkeit aus. Und diese Heiterkeit macht es auch mir leichter, ihre Situation mit ihr zusammen zu tragen.

Trotzdem nimmt auf meiner Seite die Angst zu. Gleichzeitig scheint Martina ihrerseits kaum Angst vor der weiteren Entwicklung zu haben. Es ist, als wenn ich nun für alle Angst zuständig geworden bin. Ich habe jetzt Angst vor dem, was noch auf Martina zukommt. Und ich habe Angst vor der Zeit, wenn ich ganz ohne sie dastehen werde. Werde ich dann innerlich abstürzen? Manchmal schmerzt mich der so absehbare heftige Verlust schon im Voraus.

Martinas Gesicht wird immer schmaler. Sie nimmt weiter ab. Damit gibt es jetzt – außer dem Husten – immer mehr äußere Anzeichen für den inneren körperlichen Abwärtssog.

Aber ihre Seele blüht auf. Sie scheint häufiger Jesus zu sehen und mit ihm zu sprechen. Gelegentlich berichtet sie davon. Ich selbst dagegen habe das Gefühl, von der göttlichen Seite eher verlassen zu sein. Umso wichtiger sind mir Martinas Erfahrungen auf dieser Ebene. Sie stützen mich mit.

Dann ist es so weit: Martinas Kurzatmigkeit wird gelegentlich bedrohlich. Das in Aussicht gestellte Sauerstoffgerät muss her! Jo übernimmt es, das zu arrangieren. Und nach kurzer Zeit kommt das Gerät an. Sein entscheidendes Zubehör ist ein langer durchsichtiger Schlauch. Er führt den Sauerstoff vom Gerät bis unter Martinas Nase, wo der Sauerstoff zum Lebensstoff wird.

Noch braucht Martina das Gerät nur vorübergehend. Aber mit sorglosen Ausflügen ist es endgültig vorbei. Die Abhängigkeit vom Gerät macht Martina doch etwas ängstlich. Und damit schränkt sich der Bewegungsraum für sie und mich immer weiter ein. Ich befinde mich freiwillig mit ihr in einer Art Käfighaltung.

Gelegentlich muss ich aber einfach ausbrechen. Und das geht immer dann, wenn Martina Besuch hat. Da unternehme ich längere Wanderungen zu den schönsten erreichbaren Plätzen und atme tief durch. Zugleich versuche ich, kleine Fundstücke mitzubringen, über die sich Martina freut: Etwa einen besonderen Stein, eine interessante Wurzel oder eine Blüte, die unvermutet der Jahreszeit trotzt.

Manchmal bringe ich Martina auch ein nettes Erlebnis mit wie das mit der Krähe: Sie saß auf einem Wegweiser und ließ mich bis auf drei Meter an sich heran. Ich habe mit ihr gesprochen. Sie hat mir freundlich zugehört. Und dann habe ich mich langsam rückwärts von ihr entfernt, damit sie nicht auffliegen muss. Und ihr hat das gefallen – sie blieb sitzen.

Wir erfahren irgendwann, dass es auch tragbare Sauerstoffflaschen zum Mitnehmen gibt. Jo besorgt uns welche. Und damit werden nun kleine gemeinsame Fluchten aus dem häuslichen Käfig wieder möglich. Aber Martinas Kräfte tragen inzwischen so wenig, dass wir uns jetzt nur Ziele aussuchen, wo eine Bank steht, die eine Rückenlehne zu bieten hat.

Auch im Haus ist Martina nun weithin auf mich angewiesen. Das Kochen liegt schon länger ganz in meiner Hand. Und beim Duschen muss ich anwesend sein, Wäsche und Kleidung aus Schubladen und Schränken besorgen und beim Anziehen behutsam, aber tatkräftig mitwirken.

Das Sauerstoffgerät läuft inzwischen praktisch ständig. Und Martina hängt nun fast immer an ihrer „Nabelschnur“, wie sie den Schlauch nennt.

Dann kommt der Zeitpunkt, wo die bisher stärksten Schmerzmittel einfach nicht mehr greifen. Wir probieren es nun mit Pflastern gegen heftigste Schmerzen – das ist die Notfallreserve, die der Arzt schon mitgegeben hat. Aber Martina wird davon sehr übel. Ihr Körper wehrt sich.

Nun muss Jo wieder telefonieren. Das Ergebnis: Es gibt auch noch Schmerzmittel zum Spritzen. Und Hannah hat schon mal in der Krankenpflege gearbeitet, sie kennt sich damit aus. Der Arzt verschreibt nun solch ein Mittel. Und Hannah bringt uns bei, wie man eine Spritze aufzieht und wo man sie einsticht.

Hannah kommt mehrmals hintereinander zu uns, bis wir uns mit der Handhabung sicher fühlen. Eigentlich könnte Martina sich das Mittel selbst unter die Haut spritzen. Aber ihr ist es viel lieber, wenn ich ihr diesen kleinen Akt abnehme. Es ist dann zwar nur ein Pieks, aber trotzdem eine winzige Verletzung, die ich ihr zufüge. Ich reiße mich nicht darum – aber ihr zuliebe überwinde ich mich.

So kommen wir durch die Tage: Das Sauerstoffgerät rattert als ständiges Hintergrundgeräusch. Und die Fixpunkte des Tages sind Duschen, Spritzen, Essen, Spritzen, Essen, Spritzen, Schlafen. Zwischendurch ist noch etwas Haushalt dran. Oder es kommt Besuch, der uns mit Lebensmitteln versorgt oder gelegentlich auch mit Selbstgekochtem verwöhnt.

Und sonst sind es Tablet und Fernseher, die uns noch die Tür zur Außenwelt öffnen und uns über unseren häuslichen und krankheitsverschatteten Horizont hinaustragen.

Martina sieht inzwischen erbärmlich aus.

84. Letzter Abschied

Dann eines Tages: Martina wird schon schlecht beim ersten Happen des Abendessens. Nichts will mehr hinein. Nur Trinken geht noch. Und Martina legt sich bald hin. Das Sauerstoff produzierende Gerät wird auf ziemlich hohe Leistung gedreht. Und unser gemeinsames Abendgebet wird intensiver.

Am Morgen geht es Martina weiterhin schlecht. Ihre Morgenfreude, den Morgenkaffee, lässt sie ausfallen. Sie trinkt nur Wasser. Das Sauerstoffgerät muss ich bis zum Anschlag hochdrehen. Wir beide ahnen, nein, wissen sogar, was bald ansteht.

Martina ist ganz ruhig. Den Tag zuvor hat sie noch im Sessel an ihrem Lieblingsplatz verbracht. Jetzt aber fühlt sie sich zu schwach zum Aufstehen.

Jo, Hannah und Lea wollten gern wissen, wenn sich die Anzeichen verdichten. Ich frage Martina, ob sie kommen dürfen. Sie dürfen. Martina möchte sich offenbar verabschieden.

Jo ist als Erster da. Ich lasse die beiden miteinander allein. Ich denke: Jo wird mit ihr beten wollen. Nach einer halben Stunde kommt er zu mir und verabschiedet sich ganz still. Er sagt nur: „Alles ist gut!“ Und er umarmt mich.

Als ich zu ihr gehe, liegt Martina mit geschlossenen Augen auf ihrem Kissenberg. Sie braucht ihn schon seit längerem unter ihrem Kopf. Als ich meine Hand auf ihre lege, öffnet sie die Augen und sagt auch: „Alles ist gut.“ Dann zieht sie ihre Hand unter meiner heraus und streicht über meine Hand mit den Worten: „Das Tor geht auf.“ Und sie schaut lächelnd in eine geheimnisvolle Ferne.

Danach kommt von ihr: „Sag den Leserinnen und Lesern: Es hat sich gelohnt.“ Dass sie jetzt noch in diese Richtung denken kann!

Am frühen Nachmittag kommen Hannah und Lea. Als ich sie Martina ankündige, nickt sie. Sie dürfen zu ihr. Und ich sehe, wie sie mit einer kleinen Bewegung ihre Hand anbietet für einen vorsichtigen Händedruck. Sie schlägt dabei die Augen kurz auf und sagt mit schwacher Stimme: „Schön, dass ihr da seid!“

Lea hat ihre Flöte mitgebracht und auch Chormusik. Sie fragt, ob Martina etwas davon hören will. Und Martina nickt. Lea stellt die mitgebrachte Musik leise an. Es sind tröstliche und auch ganz zuversichtliche Klänge. Bei Martina kommen Tränen. Ihre Hand sucht nach einem Taschentuch. Hannah hat eins zur Hand.

Irgendwann greift Lea zu ihrer Flöte. Sie entlockt ihr unglaublich sehnsuchtsvolle Töne, die schließlich ins Hoffnungsvolle und sogar Fröhliche hinüberschwingen. Martina lächelt mit geschlossenen Augen. Dann bedeutet sie nur mit einem kleinen Fingerzeig, dass es genug ist. Die beiden verlassen den Raum fast wie auf Fußspitzen.

Martinas Lebenszeit spult sich jetzt in einem Tempo ab, wie ich es mir am Morgen nicht hätte vorstellen können. Mal sitze ich nun bei ihr. Mal gebe ich ihr schluckweise zu trinken. Mal ist die Spritze fällig – jetzt bittet sie vorzeitig darum. Dann möchte sie offensichtlich wieder allein sein.

Als ich wieder mal nach ihr schaue, winkt sie mich dicht an sich heran und sagt ganz schwach: „Komm bald nach!“ Mir rollen die Tränen. Und ihr auch. Es sind die letzten Worte, mit denen sie noch erkennbar an mich denkt.

Danach möchte sie wieder allein sein. Es wird langsam Abend. Und es ist schon früh dunkel.

Irgendwann versuche ich es bei ihr wieder mit schluckweisem Trinken. Ein wenig geht noch hinein. Sie versucht dann etwas zu sagen. Ich muss mit dem Ohr ganz dicht an ihren Mund heran. Sie sagt fast tonlos mit letzter Atemluft: „Spritze! Spritze!“ Ich denke: Vielleicht ist es gar nicht mehr der Schmerz, der sie so bitten lässt, sondern es ist jetzt das Gefühl des Erstickens. Und ich eile, ihr eine neue Spritze zu geben. Die kann auch das Bewusstsein trüben.

Von da an liegt Martina nur noch still da. Mich überkommt ein Gedanke, und ich beschließe: Ich danke Martina jetzt laut für all das, was sie mir bewusst oder allein durch ihre Existenz gegeben hat. Und das ist so, so, so viel! Vielleicht hört sie das noch. Und ich preise sie nun als wunderbare Begleiterin. Ich zähle die schönsten Situationen mit ihr auf. Und ich nenne es ein riesiges Geschenk, dass ich sie bis in ihre allerletzten Minuten hinein begleiten darf.

Und ebenso danke ich auch Gott, dass er mir diese Martina an die Seite gestellt hat. Was wäre ich ohne sie gewesen?

Martina ist wohl schon längst mit ihrem bewussten Geist weit weg. Aber in ihrem Körper ist noch Leben. Ich versuche, ihren Mund mit feuchter Watte ein wenig auszuwischen. Und ihre Lippen bewegen sich dabei noch reflexhaft.

Gelegentlich gehe ich aus dem Raum. Ich esse oder trinke etwas. Dann döse ich wieder drinnen bei ihr auf einem Stuhl vor mich hin. Plötzlich erhellt ein Licht den Raum. Ich weiß nicht: Ist es nur in mir oder kommt es von außen? Aber eins ist klar: Jetzt geht Martina gerade. Nun bewegt sie sich offenbar durch das Tor auf ihr großes Ziel zu.

Ich habe keinerlei Gefühl. Vielleicht halten sich gerade Freude und Schmerz die Waage. Ich versuche zu denken, aber das gerät ziemlich zusammenhanglos. Und ich beschließe, draußen auf der Couch dem nächsten Tag ein wenig entgegenzuschlafen.

Am Morgen erst einmal hinüber zu Martina! Sie ist noch da und doch wieder nicht mehr. Sie hat gefunden, was sie suchte. Aber ich habe sie dabei verloren. Ich fühle in mich hinein: Habe ich Tränen? Aber im Moment ist nichts da – alles leer.

Lange sitze ich still neben ihr. Bis ich mich daran mache, an das zu denken, was nun zu tun ist. Und da ist erst einmal: Jo, Hannah, Lea und auch Tobias müssen Bescheid erhalten.

Es ist Sonntag. Alle sind erreichbar. Drei sind zudem vorgewarnt. Ganz ruhig und sachlich informiere ich sie: Es ist passiert. Es ist vorbei. Nur Tobias trifft es unerwartet. Und alle zusammen finden sich dann noch am späten Sonntagvormittag bei Martina und mir ein.

Zusammen nehmen wir nun Abschied von Martina. Wir danken Gott noch einmal gemeinsam für sie. Und wer will, kann sagen, was Martina ihr oder ihm bedeutet hat.

Lea hat auch wieder ihre Musik dabei. Es wird ein stiller, weihevoller und würdiger Abschied. Mitten drin ist es wie ein kleiner heißer schmerzhafter Schub in mir. In mir wallt auf: Wie innig habe ich doch diese Martina geliebt!

Als die anderen drei fahren, bleibt Jo bei mir. Wir haben nun über das sprechen, was zu geschehen hat. Jo hat sich schon Gedanken gemacht: Jetzt ist an Beerdigung zu denken, und ein Beerdigungsinstitut ist zu beauftragen. Doch dabei werden sich bürokratische Hürden aufbauen und erst noch zu überwinden sein. Denn es gibt keine Geburtsurkunde von Martina. Und es fehlen auch sonstige Nachweise für die Person Martina und ihre Existenz.

Jo will das von Zuhause aus angehen. Er fährt, und ich bin wieder allein mit Martina. Oder mit dem Körper, den sie mir hinterlassen hat. Und ich sage zu dieser Körper-Martina: „Jetzt machst du noch einigen Leuten Schwierigkeiten! Du bist zwar tot, aber auf bürokratischer Ebene musst du jetzt erst noch geboren werden.“

Martina liegt da und scheint mir irgendwie amüsiert zu erwidern: „Arno, nimm’s leicht!“

Ich gehe hinaus, um mir den zweiten Kaffee dieses Tages zu gönnen. Sonst esse ich gern etwas Süßes dazu. Aber heute passt das überhaupt nicht. Und ich verzichte.

Dann will ich mich wieder zu Martina setzen. Aber als ich hineinkomme, liegt sie nicht mehr da. Sie ist einfach weg! Einfach fort!

Ich bin allerdings nur begrenzt überrascht. Schon häufiger habe ich sie auftauchen und wieder verschwinden sehen. Nun verschwindet sie einfach noch einmal. Welch eine Wendung der Dinge! Und was für eine Fürsorge des Himmels für sie.

Sofort ist nun Jo zu benachrichtigen. Aber auch er nimmt diese Wendung ganz gelassen. Er ist sogar höchst erfreut. Und vielleicht hat er auch darauf gehofft. Jedenfalls ist das ein wunderbarer Abgang für Martina. Er passt so viel besser zu ihr, als zum Objekt bürokratischer Mühlen und irdischer Beerdigungsformalitäten zu werden. Es ist einfach ein federleichter himmlischer Abgang!

85. Kurzes Nachleben

Jo bietet mir an, in sein Gästezimmer umzuziehen. Ich bedanke mich und sage ihm: Im Moment muss ich da sein, wo ich noch ganz viel von Martina spüre. Wo sie noch am dichtesten um mich ist. Und Jo versteht das.

So langsam beginne ich wahrzunehmen: Meine andere Hälfte ist weg. Ich bin halbiert. Mein Bewusstsein ist zur Hälfte mit Martina gegangen. Es ist zu einem guten Teil jetzt mit ihr da drüben, wo sie ist.

Ist das Schmerz? Ist das Trauer? Es ist etwas Unfassbares.

Die gewaltige Mauer, die sonst zwischen Diesseits und Jenseits steht, ist zu einem locker flatternden Vorhang geworden. Das Da-Drüben beginnt schon gleich nebenan. Fast reicht meine Hand am ausgestrecktem Arm hinüber.

Es ist jetzt ein wenig so, als wenn ich durch den Tag schlafwandele. Ich tue dies und das. Ich esse und trinke. Ich gehe hinaus und komme wieder herein. Ich schalte das Tablet ein und schalte es wieder aus. Aber alles geschieht mechanisch. Ich bin eigentlich nicht da.

Am Abend gerate ich am Fernseher in einen Krimi. Ich lasse mich gern in ihn hineinziehen. Er trägt mich in eine andere Wirklichkeit.

Aber dann passiert es und fordert plötzlich meine ganze Aufmerksamkeit: Ein Sog ist im Raum, der mich das Gerät ausschalten lässt. Und dann spüre ich, ohne etwas zu sehen: Martina ist da! Sie kommt zu mir, sie will mich trösten und aufmuntern. Sie sagt nichts. Aber sie lässt mich spüren: Sie ist glücklich. Und noch mehr als das: Sie ist glückselig. Der Weg, den sie gegangen ist, hat sich in unermesslichem Maße gelohnt.

Martina ist nur ein paar Minuten spürbar. Aber diese Minuten verschieben ganz viel in mir. Sie heben mein Gefühl und Bewusstsein auf eine andere Ebene. Ungeheure Freude ist nun da bei gleichzeitig laufenden Tränen. Etwas in mir schlägt um.

Nur dieses eine Mal ist Martina so nahe. Aber es wirkt durchschlagend. Die nächsten Tage beherrscht der Verlust zwar weiterhin alles. Aber er wirkt nicht mehr abgrundtief, sondern er hat nun schon etwas Getragenes. Er hat einen Boden gefunden.

Drei Tage bleibe ich in der Wohnung, bis nichts mehr zu essen da ist. Dann lasse ich mich von Jo abholen. Sein Gästezimmer ist hell und freundlich. Und ich kann es zulassen, dass mich die neue Umgebung dem dramatischen Geschehen ein Stück entrückt.

Jo wird nun wieder zu meiner nächsten menschlichen Bezugsperson. Und ich könnte ihn fragen, ob ich lesen darf, was er bisher über Martina geschrieben hat. Aber ich merke: Martina soll in meinen Erinnerungen genau so bleiben, wie ich sie in mir trage. Ich möchte nicht, dass sie sich mir – durch Jos Blick auf sie – womöglich entfremdet und entfernt.

Derzeit möchte ich auch nicht, dass Gott mich über seine App anspricht. Das überrascht mich. Aber ich habe das Gefühl: Erst einmal muss ich wieder Halt in mir selbst finden. Ich will nicht von außen in irgendeine Richtung gelenkt werden. Auch nicht von Gott.

Für Jo bin ich ein ziemlich schweigsamer Mitbewohner. Jo allerdings macht auch nicht viel Worte. Nur hin und wieder sieht er mich kurz prüfend an. Vor allem zum Essen laufen wir uns direkt über den Weg. Und sonst hält es mich viel in meinem Zimmer.

Zugleich ich bin aber auch häufiger draußen unterwegs. Teils in der Natur, teils unter Menschen als stiller Beobachter. Ich entdecke nun erst richtig die normalmenschliche Vielfalt. Und ich selbst bin jetzt nur noch eine Variante dieser Vielfalt, seit ich auch zu diesen Menschen gehöre.

Ein paar Tage später lasse ich mir aber doch einen Tipp von Gott geben. Und es kommt:

„Nimm’s leicht. Werde wie eine Feder!“

Erst empfinde ich diesen Tipp als göttlichen Hohn. Denn wie soll das gehen: Wie eine Feder werden? Der Tipp ist so unendlich weit von meiner Situation entfernt!

Doch der Tipp hat Widerhaken. Und der hakt sich bei meiner Sehnsucht ein, über das Erlebte hinauszuwachsen. Ich möchte es hinter mich bringen, ich möchte es unter mir lassen. Ja, ich möchte ins Fliegen zu kommen. Und wäre das nicht auch angemessen? Martina durfte sich aufschwingen in himmlische Höhen. Sie ist nun glückselig. Und genau das sollte doch eigentlich für mich ein Grund sein für Freude über Freude!

Doch aus eigener Kraft schaffe ich solch phänomenalen Aufschwung nicht. Mich zieht allzu viel nach unten. Zunächst so etwas wie normalmenschliche Erdenschwere. Und dann auch noch ein satter Packen Trauer.

Ich sage zu mir selbst: „Gratulation! Nun weißt du, wie sich Menschsein in tiefer Tiefe anfühlt. Nun kannst du ahnen, was für Schreie nach Erlösung, Befreiung und Leichtigkeit aus solcher Tiefe aufsteigen können.“

Und irgendwann denke ich: Martina hat mit ganzem Einsatz eine Familie vor gewaltigem Leid bewahrt. Sie wird nun dafür belohnt. Und was muss ich nun für eine ähnliche Belohnung tun? Was erwartet Gott noch von mir?

Um das zu erkunden, probiere ich es wieder mit einem Tipp von Gott. Und es kommt:

„Lass dich nicht in eine Ecke drängen.“

Oh, merke ich da: Ich bin ja unterwegs in die Ecke Leistung nur gegen Gegenleistung!

Dabei weiß ich doch eigentlich: Gott ist vor allem ein großer Schenker. Und beide Tipps sollte ich mir also wirklich zu Herzen nehmen! Deshalb schreie ich schließlich zu Gott: „Beschenke mich! Beschenke mich mit göttlicher Leichtigkeit. Lass mich zur Feder werden!“

Der Tag geht normal leer weiter. Oder besser: Das an mir zerrende Verlustgefühl hält an. Ich versuche, den Tag wenigstens mit Nebensächlichkeiten zu füllen. Aber allenfalls dann, wenn ich diesen Tag geradezu mit Gewalt auswringe, tröpfelt ein wenig Sinn heraus.

Dann aber in der Nacht sitzt Jesus an meinem Bett: „Du quälst dich“, sagt er. Da hat er wahrhaft recht. Und weiter: „Es ist Gottes Entscheidung und Geschenk an dich: Bald siehst du Martina wieder.“

Mein Gedanke ist sofort: Warum werde ich nun bevorzugt? Warum werde ich nicht behandelt wie andere Menschen, die jahrzehntelang Freud und Leid durchstehen müssen? Und manchmal vor Leid nicht ein und aus wissen?

Jesus sieht meine Gedanken und lächelt: „Es ist Gottes große Souveränität, jedem das zu schenken, was er ihm eben schenken möchte. Und er tut es genau so, wie er es für gut hält. Zerbrich dir also nicht Gottes Kopf. Und nimm sein Geschenk an.“ Ok, ich höre auf ihn und nehme voller Dank an, was mir zugedacht ist.

Der nächste Morgen: Ich wache mit verblüffender göttlicher Leichtigkeit in mir auf. Ich genieße sie. Und ich nehme sie zugleich als Bestätigung der Ankündigung von Jesus.

Jo bemerkt sofort meine Heiterkeit beim gemeinsamen Frühstück. Damit er versteht, berichte ich ihm von meinem Gespräch mit Jesus. Jo lächelt und scheint sich mit mir zu freuen.

Aber jetzt tauchen Fragen auf: Was heißt dieses „bald“ in der Ankündigung? Wann wird mir dieses Gottesgeschenk zuteil werden? Und wie gestaltet sich dann eigentlich mein Abgang? Das alles bleibt offen. Trotzdem erfüllt mich eine fast schon überschäumende Zuversicht.

Nach dem Frühstück wünsche ich Jo voll eigener Freude einen höchst erfüllten und freudigen Tag. Jo erwidert allerdings seltsam nüchtern: „Wo sich ein Freudenbecher leert, schenkt Gott wieder nach.“

Mich irritiert das. Jos Worte klingen traurig! Und dann dämmert mir: Ja, natürlich verliert Jo mit mir noch einen weiteren Menschen, für den er sich mit ganzem Herzen eingesetzt hat. Der geht nun demnächst auch. Das kann ihn nicht kalt lassen. Und ich fühle mit ihm.

Doch dann steigt ganz zuversichtlich der tröstende Gedanke in mir auf: Aber Gott schenkt ihm wieder nach!

Das letzte Mal sieht mich dann Jo, als ich auf dem Weg in mein Zimmer bin.

Nachwort

von Jo dem Autor

Als ich später Arno in seinem Zimmer sprechen möchte, klopfe ich vergeblich an: Kein Herein! von ihm. Ich ahnte es schon vorher. Zwei Menschen sind also fort, die mir ans Herz gewachsen sind – nein, mitten ins Herz hinein. Und dort werden sie sich für immer halten.

Ein doppeltes Loch tut sich damit auf. Oder anders gesagt: Zwei Becher haben sich bis zur Neige geleert. Und Gott schenkt wieder nach? Das sagt sich leicht. Denn ich weiß aus schmerzhafter Erfahrung: Das schließt Durststrecken nicht aus.

Von jetzt an werde ich beobachten, was von Martina und Arno bleibt. Jedes Fünkchen, das von ihnen noch da ist und weiterglimmt, werde ich mit Freude zur Kenntnis nehmen. Und sollte solch ein Fünkchen sogar zünden, dann werde ich das aufflammende Feuer mit fröhlicher und glücklicher Genugtuung richtig feiern.

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